Waggonbau Niesky – Restrukturierung und Aufbruch 

von Michael Clausecker [1] [2]

Waggonbau Niesky war ein Hersteller von Güterwaggons mit über 100jähriger Geschichte, der nach der Wende und dem Wegfall von Exporthilfen zunächst existenziell bedroht war.  Nach erfolgreicher Restrukturierung entwickelte sich das Unternehmen wieder erfolgreich zum europäischen Marktführer und produzierte bis in die 2020er Jahre als einziger deutscher Hersteller Güterwaggons.

Der VEB Waggonbau Niesky war Teil des Kombinats Schienenfahrzeuge der DDR und wurde nach der Wende in eine GmbH als Tochter der Deutschen Waggonbau AG (DWA) umgewandelt. Zum Produktprogramm gehörten Spezialgüterwagen, die schon vor der Wende 1989/90 besonders für staatliche Bahnen und private Waggoneinsteller in Westeuropa hergestellt wurden – damals vor allem, um Devisen ins Land zu bringen.

„Weiter so“ ist ausgeschlossen

Nach der Wende waren die Hilfen für West-Exporte durch die Berechnung des Richtungskoeffizienten (Riko) weggefallen und damit endete die Möglichkeit für Auslandskunden, zu besonders günstigen Konditionen hochwertige Spezialgüterwagen in Niesky beschaffen zu können. Die wirtschaftliche-und Auftragslage von Waggonbau Niesky verschlechterte sich ab 1990, da mit Einführung der D-Mark und ohne Riko kein Wechselkursvorteil im Export mehr bestand und das Unternehmen aufgrund vergleichsweise geringer Produktivität auch im Inlandsgeschäft kaum Wettbewerbsfähig war. Im Frühjahr 1993 wurde die Lage kritisch: die hohe Wertschöpfungstiefe von nahezu 100% und eine vergleichsweise große Verwaltung mit entsprechend (zu) vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, sowie ein riesiges Firmengelände, dessen Hallen beheizt und das insgesamt Instand gehalten sein wollte führten zu überhöhten Kosten und mangelnder Wettbewerbsfähigkeit. Ein Teil der Belegschaft war mangels Arbeit in Kurzarbeit geschickt worden. Wenn alles gut ging, sollte Waggonbau Niesky 1993 bei einem Umsatz von 70 Millionen DM einen Verlust von 30 Millionen machen.

Niesky war einer von fünf deutschen Güterwagenherstellern – davon drei im Westen und zwei im Osten – und hatte schon seit vielen Jahren staatliche Bahnen und private Einsteller in Westeuropa, insbesondere in der Schweiz und in Schweden mit Spezialgüterwagen beliefert. Das Unternehmen verfügte über eine leistungsfähige Entwicklungsmannschaft, sehr gut qualifiziertes Personal in sämtlichen Bereichen und hatte als Geschäftspartner und Lieferant für anspruchsvolle Spezialgüterwagen einen ausgezeichneten Ruf.

Als Teil des DWA-Konzerns befand sich Waggonbau Niesky 1993 noch in Händen der Treuhandanstalt. Der Konzern war in Summe profitabel und nutzte die langsam auslaufenden, hoch profitablen Exporte nach Russland um die eigenen Standorte zu modernisieren, neue Produkte zu entwickeln und sich auf den Wettbewerb und zahlungskräftige Bahnen im Westen Europas auszurichten.  Die Treuhandanstalt wiederum verfolgte den Plan, die DWA nicht zu zerschlagen, sondern sie als Ganzes zu privatisieren und damit einen leistungsfähigen Konzern im Osten Deutschlands zu behalten. Sie hatte die berechtigte Sorge, dass die einzelnen Standorte andernfalls zum Opfer einer befürchteten Marktbereinigungen im ohnehin unter Überkapazitäten leidenden deutschen Schienenfahrzeugbau werden könnten.

Die Geschäftsführung hoffte auf neue Aufträge und erhebliche Umsatzsteigerungen um irgendwie die 930 Mitarbeiter am Standort beschäftigen zu können. Zudem sah sie sich auf dem Weg dorthin jedoch mit aggressiven Wettbewerbern und eben solchen Preisvorstellungen der Kunden konfrontiert, auf die sie keine Antwort hatte. Woher auch?

30 Mio. DM Verlust waren für ein Treuhandunternehmen dieser Größe 1993 nichts Ungewöhnliches. Innerhalb der erfolgsverwöhnten DWA, die sich ohne finanzielle Hilfen der Treuhandanstalt sanieren musste, jedoch ein großes Problem. Und so diskutierte die Konzernleitung intensiv darüber, Waggonbau Niesky aufgrund der fehlenden Perspektive zu schließen. Eine Sanierung des Standorts konnte, wenn überhaupt, nur im Wettlauf mit der Zeit gelingen. Ein „Weiter so“ war ausgeschlossen.

Restrukturierung und Sanierung

Mit Unterstützung einer Unternehmensberatung entwickelte Waggonbau Niesky im Sommer 1993 einen Sanierungsplan, der das Unternehmen wieder wettbewerbsfähig und in die schwarzen Zahlen führen sollte. Er sah zunächst vor, die Wertschöpfungstiefe auf nur noch ca. 30% zu reduzieren und die Herstellung einfacher Stahlbaukomponenten zu Zulieferern in Polen, Tschechien und in der Slowakei zu verlagern. Das Unternehmen selbst sollte sich auf die Entwicklung, den Einkauf, das Projekt- und Qualitätsmanagement, die Produktion hochwertiger Fahrzeugteile und schließlich auf die Montage der Fahrzeuge fokussieren. Die Idee dahinter war, dass Waggonbau Niesky all das selbst machen sollte, was man zu wettbewerbsfähigen Kosten vor Ort leisten konnte. Alle Leistungen wie bspw. der Stahlbau von Fahrzeuguntergestellen, die anderswo und besonders im osteuropäischen Ausland in vergleichbarer Qualität zu niedrigeren Kosten eingekauft werden konnten, sollten eingekauft und nicht mehr selber hergestellt werden.

Im Ergebnis war ein wesentlicher Teil des Sanierungsplans, die Belegschaft von Waggonbau Niesky von 930 (davon ca. 500 Beschäftigte in der Produktion und 430 Angestellte) auf nur noch 430 Mitarbeiter zu reduzieren. 300 Mitarbeiter sollten zukünftig in der eigenen Produktion tätig sein und die indirekten Bereiche wurden um mehr als die Hälfte der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf eine im Vergleich zu Wettbewerbsunternehmen übliche Größenordnung im Verhältnis zur Unternehmensgröße reduziert. Das war für die betroffenen Beschäftigten ebenso wie für die Stadt und die ganze Region eine dramatische Entwicklung, die im intensiven Dialog mit einer Vielzahl von Beteiligten besprochen und erläutert werden musste – dazu später mehr. Die überschüssigen Hallen und Flächen wandelte das Unternehmen in einer gemeinsamen Planung mit der Stadt Niesky zu einem Gewerbepark um und verkaufte sie.

Niesky sollte zu einem modernen Schienenfahrzeugbauer transformiert werden, der seine Waggons selber entwickelt, sie jedoch in enger Zusammenarbeit mit qualifizierten Lieferanten herstellt. Aus dem einstigen Nachteil, der Lage weit im Osten Deutschlands, machte Niesky einen echten Wettbewerbsvorteil: die räumliche Nähe zu den kostengünstigen Stahlbauernin Osteuropa. Die waren meist selbst Waggonbauer oder Bahnreparaturwerke und zahlten damals Löhne in Höhe von nur ca. 10% jener in Sachsen. Die Ingenieure aus Niesky konnten die Fähigkeiten und Potentiale dieser Unternehmen aus oftmals langjährigen Kontakten und Geschäftsbeziehungen gut einschätzen und so gezielt auf Partnersuche gehen.

Mit dieser neuen Aufstellung und der veränderten Wertschöpfungstiefeänderte sich die Kostenstruktur von Waggonbau Niesky grundlegend. Zudem hatten die Partner in Osteuropa meist freie Kapazitäten und konnten schnell liefern, so dass die aufwändigere Logistik nur wenig Zeitverzug mit sich brachte. Ab Ende 1993 bot Waggonbau Niesky rund 20 Prozent (!) günstiger und dennoch profitabel an – ein riesiger Schritt hin zu Wettbewerbsfähigkeit und Zukunftssicherung.

Beteiligte und Betroffene

So einfach ein solcher Plan aus heutiger Perspektive klingt, so sehr braucht er die Mitwirkung einer Vielzahl von wichtigen Beteiligten. Politik, Eigentümer, Gewerkschaften und Mitarbeiter verbinden oftmals ganz eigene Interessen mit dem Fortgang der Entwicklung des Unternehmens. Jeder von Ihnen war wichtig genug, um die Umsetzung des Plans zumindest zu hinterfragen, ihn möglicherweise aufzuhalten oder seine Umsetzung zu behindern.

So verfolgte Sachsens Ministerpräsident Prof. Kurt Biedenkopf aufmerksam die Entwicklung in Niesky. Er besuchte das Werk immer wieder, und suchte dabei besonders die Nähe zur Betriebsratsvorsitzenden Christine Lorenz, um zu verstehen, was die Menschen am Standort bewegte. Zwei Mal, 1994 und 1998 begann er jeweils mit Reden vor den Beschäftigten im Werk seinen Wahlkampf. Mehrmals lud er wichtige private Kunden zu sich, um ihr Vertrauen in die Fortführung des Unternehmens zu stärken. Kraft seiner persönlichen Autorität zitierte Biedenkopf jeden ernsthaft am Kauf der DWA Interessierten in seine Staatskanzlei und formulierte offensiv seine Erwartung: Niesky muss, ebenso wie die weiteren DWA-Standorte in Görlitz und Bautzen, fortgeführt werden! Denn ebenso wie er sich für neue Industrieansiedlungen in Sachsen einsetzte, wollte Biedenkopf sicherstellen, dass die vorhandene Industrie mit ihren Arbeitsplätzen in Sachsen die wirtschaftlichen Umwälzungen der Nachwendezeit überlebte, zukunftsfähig aufgestellt wurde und nicht an Wettbewerber privatisiert wurde, die sich nur lästiger Konkurrenz entledigen wollten.

Auch wenn Biedenkopfs formaler Einfluss auf die Privatisierungsverhandlungen gering war: der Forderung des mit absoluter Mehrheit noch 1998 wiedergewählten Ministerpräsidenten Sachsens konnte sich kaum ein Investor widersetzen.

Die Treuhandanstalt als Gesellschafter setzte sich im Wesentlichen mit der DWA-Konzernzentrale in Berlin auseinander und nahm kaum Einfluss auf die Entwicklung der Werke. Warum auch, solange deren Finanzierung gesichert war und die Sanierung und Modernisierung der Werke durch die Konzernzentrale betreiben wurde?

Die Kunden für die Spezialgüterwaggons aus Niesky waren in den 90er Jahren im Wesentlichen die Deutsche Bahn AG sowie eine Reihe privater Waggonvermieter und –betreiber aus Deutschland, der Schweiz und aus Skandinavien. Sie erlebten gemeinsam mit Waggonbau Niesky ganz praktisch die Folgen der deutschen Einheit, waren oftmals weit über das rein geschäftliche hinaus an den gesellschaftlichen und menschlichen Umbrüchen dieser Zeit interessiert und nahmen in der Regel dankbar die Gelegenheit an, das Werk zu besuchen und beim gemeinsamen Mittag- oder Abendessen über die Veränderungen in unserer gemeinsamen Welt mit uns zu sprechen. Nur: Aufträge vergab jeder dieser Kunden ausschließlich im Wettbewerb: wenn der Preis nicht stimmte, gab es keine Aufträge.

Die neue, erweiterte Geschäftsleitung von Waggonbau Niesky setzte sich ab Mitte 1993 aus einer Mischung von erfahrenen und jungen Führungskräften aus dem eigenen Unternehmenzusammen, die aktiv an dem Sanierungsplan für die neue Organisation, die neue Abläufe und ein neues Geschäftsmodell mitgearbeitet hatten. Sie bauten gemeinsam die intensive Zusammenarbeit mit Zulieferern in Tschechien, Polen und der Slowakei auf und entwickelten die ehemals stark funktional und hierarchisch geprägte Führungsorganisation zu einem teamorientierten, dynamischen und projektorientierten Führungsmodell weiter.

Der Betriebsrat des Unternehmens mit der klugen und umsichtige Christine Lorenz an der Spitze stand im Zuge der Sanierung vor ganz besonderen Herausforderungen. Die Betriebsräte waren gewählt worden, um die Interessen der Belegschaft gegenüber der Geschäftsleitung zu vertreten. Das bedeutet normalerweise zu allererst: Sicherung der Arbeitsplätze. Als Aufsichtsräte und Sozialpartner im Unternehmen waren Sie aber gleichzeitig in die Entscheidung zur bevorstehenden Sanierung eingebunden. Auch für sie war nachvollziehbar, dass ein „Weiter so“ keine Option war und das Unternehmen erheblich verändert werden musste. um wieder erfolgreich zu werden. Das Blockaden, Proteste und einseitige Forderungen nur Zeit kosten und alle Beteiligten zu Verlierern machen würden, war im Unternehmen Konsens.

Diese Gratwanderung konnte den Arbeitnehmervertretern nur gelingen, indem sie der Geschäftsleitung absolute Transparenz abforderten und diese auch gewährt bekamen: die Betriebsratsvorsitzende nahm an Geschäftsleitungssitzungen teil und wurde nicht mehr nur im Nachhinein über wesentliche Geschäftsvorgänge informiert. So konnte sie sich selbst und frühzeitig in die Entscheidungsfindung zu Investitionen, Geschäftsplänen und wichtigen Aufträgen einbringen. Besonders schwierig für sie war es, sich nicht von der Unternehmensführung vereinnahmen zu lassen und sich ihre Unabhängigkeit zu bewahren. So zeigte sie besonders viel Engagement bei der Sozialauswahl setzte sich erfolgreich dafür ein, den auch von ihr als notwendig akzeptierten Personalabbau so sozial verträglich wie irgend möglich zu gestalten.

Ihr und dem gesamten Betriebsrat gebührt ein großes Kompliment für die konzentrierte, pragmatische und zukunftsorientierte Arbeit im Unternehmen.Christine Lorenz wurde 2005 für ihr herausragendes Wirken in dieser Zeit mit dem sächsischen Verdienstorden geehrt.

Ergebnis der Sanierung

Aufgrund der konstruktiven Zusammenarbeit zwischen Geschäftsleitung und Betriebsrat sowie der finanziellen Möglichkeiten im DWA-Konzern, konnte Waggonbau Niesky zügig über die abzubauenden Mitarbeiter entscheiden und dabei das Schicksal dieser Mitarbeiter mit Abfindungen lindern, langwierige gerichtliche Auseinandersetzungen vermeiden und insgesamt den Personalabbau beschleunigen. So war der Personalabbau schon am Ende des Jahres 1993 umgesetzt.

Mit der veränderten Kostenstruktur konnte das Unternehmen umgehend deutlich günstiger auf Ausschreibungen von Kunden im In- und Ausland anbieten. Die Fertigungshallen mussten noch in reine Montagestätten umgebaut und schon 1994 liefen erste Projekte mit Partnern in Osteuropa an. Niesky gewann neue Aufträge, vor allem im Kernsegment der Schiebewandwagen und begab sich auf Wachstumskurs.

Bereits 1995 machte das Unternehmen keine Verluste mehr. 1996 konnte Waggonbau Niesky erstmals wieder Gewinne verbuchen, während sämtliche anderen deutschen Güterwagenhersteller das Geschäft entweder aufgegeben hatten oder insolvent gegangen waren. Der Markt war schließlich nicht größer geworden, Niesky hatte nur erheblich mehr Aufträge und Marktanteile dazu gewonnen.

Die Deutsche Waggonbau AG wurde 1996 mit wesentlichen Auflagen für den Erhalt der Unternehmensstruktur an die Private Equity Gesellschaft Advent International privatisiert. Advent wiederum verkaufte die DWA 1998 an Bombardier Transportation, die wenig später zum weltweiten Marktführer im Schienenfahrzeuggeschäft aufstieg.

1999 verließ der Autor das Unternehmen für eine andere Aufgabe in der Bahnindustrie. Waggonbau Niesky setzte in diesem Jahr 350 Mio. DM um und war das vierte Jahr in Folge profitabel.

Nach mehreren Wechseln der Eigentümer gehört Waggonbau Niesky heute dem einst größten Lieferanten, der slowakischen Tatravagonka Gruppe in Poprad bevor es 2023 endgültig den Betrieb einstellte und damit als letzter deutscher Güterwaggonhersteller die Produktion zugunsten von preisgünstigeren Wettbewerbern in Osteuropa aufgeben musste.


[1] Dieser Artikel beruht maßgeblich auf dem Beitrag „Waggonbau Niesky – vom Sanierungsfall zur Erfolgsgeschichte“ des gleichen Autors im Konferenzband der Deutschen Gesellschaft e.V.: Die Treuhandanstalt – Pragmatismus, Erfolgskonzept oder Ausverkauf? aus dem Jahr 2021. Der Beitrag wurde überarbeitet und aktualisiert.

[2] Michael Clausecker, war ab Juni 1991 bei der Treuhandanstalt als Referent für Privatisierung im Unternehmensbereich Fahrzeugbau beschäftigt gewesen und betreute dort Hersteller von Dieselmotoren und deren Komponenten. Gemeinsam mit deren Unternehmensleitungen und Beratern erstellte er Sanierungs- und Restrukturierungspläne, sicherte die Finanzierung der Unternehmen, leitete in der Regel eine Restrukturierung verbunden mit Personalabbau ein und hatte die von ihm betreuten Firmen weitgehend bis zum Frühjahr 1993 privatisiert. Anschließend trat er zunächst als kaufmännischer Leiter in die Waggonbau Niesky GmbH ein und wurde wenige Wochen später, nach dem überraschenden Tod des Geschäftsführers, selbst zum Geschäftsführer und zum Vorsitzenden der Geschäftsführung berufen. Diese Position bekleidete Herr Clausecker für 6 ½ Jahre bis zum Herbst 1999.