„Bischofferode ist überall“

Ohnmacht und Selbstwirksamkeit in Erinnerungen an die Arbeitskämpfe der Postwendezeit

Von Felix Axster und Mathias Berek

 

War Bischofferode überall? Die Proteste als Teil einer Bewegung

In der 2011 erschienenen Erzählung Die hellen Haufen von Volker Braun wird eine Art Aufstands-Szenario entfaltet. Man könnte auch sagen, dass die Parole „Bischofferode ist überall“ hier gewissermaßen ausbuchstabiert wird. Nicht nur die Kali-Kumpel aus Bischofferode kommen zusammen, sondern zig Tausende aus vielen Orten, die im Spannungsverhältnis von Arbeit, Eigentum und Privatisierung dieselben oder zumindest ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Es findet eine große Versammlung unter freiem Himmel statt. Forderungen werden aufgestellt, gemäß dem Motto ‚Alles allen!‘ Ein Aufstand der Abgewickelten, wenn man so will, der letztlich in Schwaden von Tränengas ertränkt und durch ein Bombardement von Gummigeschossen aufgelöst wird (Braun 2011).

Brauns Szenario schließt den fiktiven Aufstand im Zuge der Wende mit historischen Referenzen kurz – einerseits dem Bauernkrieg Anfang des 16. Jahrhunderts (das Kali-Werk in Bischofferode war nach Thomas Müntzer benannt, dem vor allem in Thüringen wirkenden Theologen und Bauernführer); andererseits den sogenannten Märzkämpfen, der von linksradikalen Kräften initiierten Arbeiter*innen-Revolte vor allem in Sachsen-Anhalt 1921. Zudem wird hier zumindest implizit die Frage aufgeworfen, ob Bischofferode überall war bzw. warum nicht. In den Interviews, die wir im Rahmen eines Forschungsprojektes über Wendeerinnerungen geführt haben, haben wir auch diese Frage diskutiert. Einer unserer Gesprächspartner sagte mit Blick auf den Protestmarsch von Bischofferode nach Berlin im September 1993, bei dem ca. drei Dutzend Kumpel und Angehörige mitgelaufen sind:

„Also das waren interessante Erlebnisse. Man kann eigentlich sagen, überall, wo wir hingekommen sind, hat uns die Bevölkerung was zu Essen gemacht, wir konnten überall übernachten. Das war interessant. Bloß wenn sie da alle mitgemacht hätten, das wäre noch interessanter geworden.“ (Interview Bi04, 0:35)

Auf die Frage, warum nicht alle mitgemacht haben, antwortete er:

„Ja, entweder war der Mut nicht da, aber wir hattenʼs ja eigentlich vorgemacht, dass man vor der Obrigkeit keine Angst zu haben braucht. Es war so gedacht, dass die gesamte DDR, alle Betriebe, die da platt gemacht wurden oder platt gemacht werden sollten, dass die alle mitmachen. Es sollte praktisch wie so ein Generalstreik werden. Leider hatʼs nicht geklappt.“ (Interview Bi 04, 0:37)

In gewisser Weise war Bischofferode dennoch durchaus überall: In den ersten Jahren nach der Wende gab es die „umfangreichste selbstorganisierte Protestbewegung von Betriebsbelegschaften, Betriebs- und Personalräten sowie von lokalen und regionalen Gewerkschaften […] seit der Novemberrevolution und der revolutionären Nachkriegskrise bis 1923 in Deutschland“ (Gehrke 2017, S. 11).  Für 1991 sind mindestens 150, für 1992 und 1993 jeweils mindestens 200 (mitunter wilde) Streiks im gesamten Gebiet der ehemaligen DDR belegt, oft in Verbindung mit Demonstrationen und Blockaden (Gehrke 2017, S. 12).[1] Es handelte sich zumeist um Aktionen mit lediglich lokaler Reichweite; entsprechend waren kaum „Konturen einer überregionalen Protestbewegung“ erkennbar (Böick 2012, S. 174). Gleichwohl gab es Ansätze einer überregionalen Vernetzung und Organisierung, zum Beispiel die Initiative Ostdeutscher und Berliner Betriebsräte, Personalräte und Vertrauensleute (Anfang 1992 gegründet) oder das Aktionsbündnis Es ist 5 vor 12 – Thüringen brennt (gegründet im Juli 1993) (Brunner 2020). Und auch die Proteste in Bischofferode selbst waren von einer Vielzahl von Solidaritätsaktionen begleitet – nicht von Seiten der zuständigen Industriegewerkschaft Bergbau und Energie (IGBE), die die Schließung der Grube zugunsten der westdeutschen Kali-Unternehmen unterstützte, sondern mit Kundgebungen, solidarischen Hungerstreiks und weiteren Protestaktionen durch andere Akteur*innen, etwa Betriebsräte oder Protestinitiativen der ebenfalls von Schließung betroffenen Betrieben.

Gleichzeitig war (und ist) Bischofferode keineswegs überall. Wie die Zitate zu Beginn schon zeigen, gelang es eben nicht, die Proteste der Nachwendezeit gegen Betriebsschließungen zu bündeln und Bischofferode zu deren einigendem Symbol zu machen. Und auch wenn die Zahl der Proteste jener Jahre beeindruckend ist, erreichten nicht alle diese Kämpfe die Intensität und Konsequenz von Bischofferode. Hier nämlich wurde fast ein Jahr lang Widerstand gegen die Abwicklung geleistet. Zudem erfuhren die Kali-Werker*innen von Bischofferode eine bemerkenswerte (auch internationale) Aufmerksamkeit und Unterstützung, so dass es wahrscheinlich kaum übertrieben ist, vom bekanntesten Arbeitskampf der Wendezeit zu sprechen. Vermutlich hat die Bekanntheit auch mit der Entschlossenheit der Protestierenden zu tun, die sich vor allem in dem Hungerstreik ausdrückte, der Mitte 1993 begonnen wurde und sich beinahe drei Monate lang hinzog.

Der Grundstein für die Ereignisse in Bischofferode im Jahr1993 wurde bereits kurz nach dem Beitritt der DDR zur BRD gelegt, als im Zuge der Privatisierung und Deindustrialisierung der Wirtschaft der ostdeutschen Bundesländer bereits die Mehrheit der Angestellten entlassen wurde, und zusätzlich  zum Vorstand der ostdeutschen Kalibetriebe, zu denen auch die Grube in Bischofferode gehörte, auch ein Vertreter des westdeutschen Konkurrenten, die im Besitz von BASF befindliche Kasseler Kali+Salz GmbH, ernannt wurde. 1992 beschloss die Treuhandanstalt dann, die Kali-Betriebe in West und Ost zu fusionieren und dabei bis auf zwei Ausnahmen alle ostdeutschen Standorte zu schließen, auch Bischofferode. Um die Schließung zu verhindern und die Arbeitsplätze zu erhalten, organisierten die Kali-Werker*innen Kundgebungen und Demonstrationen, aber auch politische, juristische und ökonomische Unterstützung auf verschiedenen Ebenen. Es gab sogar einen westdeutschen Unternehmer, der bereit war, den Schacht als Einzelbetrieb zu übernehmen. Allerdings hielten Treuhand, Bundespolitik und Vorstand der Mitteldeutschen Kali AG als Nachfolgerin des DDR-Kali-Kombinats an ihrer Entscheidung fest, die ostdeutsche Kaliindustrie „abzuwickeln“.

Bischofferode hebt sich auch deshalb aus der Vielzahl der ostdeutschen Betriebsschließungen der Nachwendezeit heraus, weil hier die Intransparenz und die Orientierung an westdeutschen ökonomischen Interessen der Postwende-Geschäftspraktiken von Politik, (westdeutscher) Industrie und ihrer Schnittstelle Treuhandanstalt in besonderer Weise zu Tage traten. So wurde der Fusionsvertrag von West- und Ost-Kaliindustrie streng geheim gehalten. Die Argumente, die in der Öffentlichkeit für die Schließung Bischofferodes vorgebracht wurden, beruhten großenteils auf Falschinformationen oder Manipulationen: Bischofferode war nicht so unrentabel wie behauptet, der Absatz des Kalisalzes war nach Darstellung der Verteidiger*innen durch Exportverträge weitgehend gesichert und nicht zuletzt war das Defizit der Kasseler Kali+Salz GmbH wohl um ein Vielfaches größer als das der Grube im Eichsfeld.[2] Besonders bemerkenswert ist, wie der zur Übernahme der Grube bereite westdeutsche Unternehmer Peine über Nacht insolvent wurde, weil seine Banken ihm plötzlich alle laufenden Kredite kündigten. Im Nachhinein ist relativ offensichtlich, dass es dem zuständigen Vorstand der Treuhandanstalt mit der Schließung der ostdeutschen Werke primär um die Sanierung der angeschlagenen westdeutschen Kaliindustrie ging (Jüttemann 2011).

Der Kampf gegen die Abwicklung war letztlich vergeblich, der Schacht wurde Ende 1993 geschlossen und geflutet, die meisten verbliebenen Kali-Werker*innen entlassen oder in eine Auffanggesellschaft überführt, deren Aufgabe der Abriss des Werks war. Angesichts des Umstands, dass Bischofferode wohl eher das Ende einer Protestkonjunktur markiert, lässt sich der Streik als „ein letztes Aufbäumen“ verstehen, „das nicht nur den Kali-Kumpel in Bischofferode, sondern den Ostdeutschen insgesamt die Vergeblichkeit selbst aufopfernder Proteste vor Augen führte“ (Rink und Burchardt 2020, S. 60). An anderer Stelle ist vom „hochsymbolischen Protest von Bischofferode“ die Rede, bei dem sich die „massiven Enttäuschungen und Frustrationen in der ostdeutschen Umbruchsgesellschaft“ offenbarten (Böick 2020, S. 132).

Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die allgemein mit der Wende und der Deindustrialisierung zusammenhängende Entwertung der Arbeiter*innenschaft in der ehemaligen DDR, die als eine „arbeiterliche Gesellschaft“ beschrieben wurde (Engler 2019, v.a. S. 177‒212). Diese Entwertung kulminiert in der Erfahrung des Überflüssigseins bzw. der Überzähligkeit, wie sie vor allem im Rahmen von Arbeitslosigkeit gemacht wird (Vogel 1999), die in sozialistischen Gesellschaften bekanntlich kaum existierte. Den gleichen Effekt hatte die häufige Frühverrentung zahlreicher ehemaliger DDR-Bürger*innen nach der Wende. Es handelt sich hierbei keineswegs um eine Spezifik des ostdeutschen Kontextes; vielmehr lassen sich strukturell analoge Prozesse und Befunde auch für die anderen postsozialistischen Gesellschaften feststellen.[3] Dies gilt auch für die gesellschaftspolitischen Implikationen dieser Entwertung der Arbeiter*innenschaft, etwa in Form der Erosion von Solidarität und gesellschaftlichem Zusammenhalt und in der Konjunktur rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen (Ost 2005), sowie für die Arbeitskämpfe bzw. allgemein für die Protestkultur im Rahmen der Transformation, die sich durch die weitgehende Absenz von Gewalt auszeichnete, was manche Autor*innen auf die wohlfahrtsstaatliche Abfederung der Überflüssigkeit zurückführen (Vanhuysse 2006).

Institutionalisierung des Gedächtnisses: Ein Museum als ‚Altar der Erinnerung‘

Es gibt noch einen Grund, warum Bischofferode eine Art Sonderfall darstellt: Denn bis heute wird im Bergbaumuseum Bischofferode in mehreren Räumen an den Arbeitskampf erinnert.

Die Entstehungsgeschichte dieses Museums ist schnell erzählt: Die besondere Aufmerksamkeit für den Arbeitskampf der Kali-Kumpel hatte auch eine finanzielle Dimension – das Spendenkonto war gut gefüllt. Als sich abzeichnete, dass der Arbeitskampf verloren gehen würde, stellte sich die Frage, was mit den verbliebenen Spendengeldern anzufangen sei. Die Idee kam auf, einen Verein zu gründen. Einer unserer Gesprächspartner erinnert sich: „Wir hatten damals ja nach der Schließung gesagt, Leute, wenn sie uns schon die Arbeit genommen haben, uns kaputt gemacht haben, aber unsere Tradition wollen wir uns eigentlich nicht nehmen lassen“ (Interview Bi03, 1:14).

Mit den Spendengeldern kauften die Kumpel die ehemalige Poliklinik auf dem Werksgelände. Sie führten die notwendige Renovierungsarbeit in Eigenregie durch und engagierten eine Historikerin, die ein Ausstellungskonzept entwickelte, in dem die Geschichte sowohl des Kaliwerks als auch des Arbeitskampfes vorkommt. Die erste Dauerausstellung zur Geschichte des Bergbaus in der Region und des Kampfs um den Schacht eröffnete im Juli 1997 und wurde im Laufe der Jahre sukzessive erweitert.

Der Wunsch, die Erinnerung sowohl an die Abwicklung als auch an den Widerstand dagegen wach zu halten, spielte bei der Museumsidee offenbar von Anfang an eine zentrale Rolle, wie einer unserer Gesprächspartner feststellte: „Und vor allen Dingen, sage ich, möchte ich nicht, dass diese ganze Geschichte nicht mehr existent ist. Ich sage, das möchte ich schon erhalten wissen. […] Ich sage, das ist die Erinnerungskultur, ihr sollt an eure Schweinereien jahrzehntelang erinnert werden, sagʼ ich“ (Interview Bi03, 1:24). Und ein anderer resümiert:

„Das Museum ist der materielle Ort, um sich da dran zu erinnern und ist quasi wie so ein Altar, den wir errichtet haben, um den Arbeitskampf noch zu huldigen. Altar, wo wir auch beten, beten heißt nichts anderes wie wünschen, für die Zukunft, dass die folgenden Generationen den Fehler nicht machen, an uns denken, wie wir gerollt wurden und manipuliert, und dafür ist das hier, wird das erhalten und gepflegt und die Erinnerung, ja.“ (Interview Bi01, 1:43)

Nach den Erzählungen unserer Gesprächspartner besuchen jedes Jahr 500-600 Leute das Museum, darunter viele Schulklassen. Der Verein – sein Name lautet Thomas Müntzer Kali Verein Bischofferode, auch hier also die Referenz an den Bauernführer – hatte anfänglich 50-60 Mitglieder. Man traf sich öfter in den Räumen des Museums und kam jährlich zu einer Gedenkfeier für die tödlich verunglückten Bergleute zusammen. Inzwischen ist das Vereinsleben aber offenbar abgeflaut. Viele sind weggezogen, viele wollen mit der Geschichte nichts mehr zu tun haben. Gleichwohl scheinen die beiden Vereinsvorsitzenden – sie gehörten zu unseren Gesprächspartnern – sehr umtriebig zu sein. Sie fungieren als Ansprechpartner für Journalist*innen und immer wieder erscheinen Beiträge über den Arbeitskampf in den Medien. Sie führen auch die Gruppen durch das Museum und treten bei Veranstaltungen auf, um von ihren Erfahrungen zu berichten. Und sie halten Kontakt zu überregionalen Verbänden der Bergmann-, Hütten- und Knappenvereine.

Eine Motivation, die Erinnerungsarbeit rund um den Schacht aufrechtzuerhalten, ist für manche der von uns interviewten Aktiven nach wie vor Wut.  Sie war deutlich zu spüren, zum Teil auch während der Interviews. Sie hängt mit dem Gefühl zusammen, betrogen worden zu sein (‚verarscht‘ sagen unsere Gesprächspartner immer wieder) (z.B. Interview Bi02, 0:24; Bi04, 0:54). Doch trotz der Wut wirken sie nicht verbittert. Aus unserem Feldforschungstagebuch:

„Im Gegenteil hat es den Anschein, als ob sie sich gerne erinnern und ihnen das Sich-Anlegen mit den Großen [gemeint sind Treuhand, BASF etc.] regelrecht Spaß macht/gemacht hat. Vielleicht ist das Museum/der Verein und die damit zusammenhängende Popularität (offenbar kommen immer wieder Journalist*innen und Kamerateams vorbei, zuletzt aus Israel) eine Möglichkeit, der Erinnerung an die bestimmt schmerzhafte Niederlage positive Erfahrungen entgegen zu setzen. Und es ist ja auch so: Von dem Kali-Werk ist ein riesiger Erdhaufen übriggeblieben […] sowie das Museum/die Vereinsräume. Man könnte also sagen: Das Museum/der Verein hat die Abwicklung des Kali-Werkes überdauert.“

Es kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu: Während der Interviews fiel uns auf, dass sich unsere Gesprächspartner in eine bestimmte Tradition einreihen, und zwar im Hinblick auf Familie und auf Arbeiter*innenkultur (oder vielleicht genauer: Bergmannskultur) (Kocka 2015; Tenfelde 1979). Im Rahmen der soziologischen Milieuforschung wird zwischen einer traditionsbewussten, einer traditionslosen und einer hedonistischen Arbeiter*innenschaft unterschieden (Hofmann und Rink 2014). Die Kumpel von Bischofferode lassen sich demnach als Facharbeiter dem traditionsbewussten Arbeiter*innenmilieu zuordnen, das sich durch Stolz sowie engen sozialen Zusammenhalt auszeichnet. Im Zuge der Wende, der Deindustrialisierung und der massenhaften Abwicklung von Betrieben wiederum setzte eine massive Entwertung insbesondere auch des traditionsbewussten Arbeiter*innenmilieus bzw. der hier vorhandenen Qualifikationen ein, die eine „Enttraditionalisierung ostdeutscher Arbeitermilieus“ bewirkte (Hofmann und Rink 2014, S. 274). Dass dieser Wandel gerade das traditionsbewusste Arbeiter*innenmilieu in besonderer Weise getroffen hat, erklären Hofmann und Rink wie folgt:

„Der Typus des traditionellen Arbeiters konnte in der DDR deswegen seine Dominanz erlangen, weil er zugleich strukturell in der sozialistischen Produktion, lebensweltlich in seinem Milieu und politisch seitens der herrschenden Ideologie abgesichert war. Seine fast vollständige Prekarität rührt nun auch daher, dass alle diese Sicherungen zugleich weggefallen sind.“ (Hofmann und Rink 2014, S. 277)

Wenn unsere Gesprächspartner über die konkreten Tätigkeiten bzw. über die jeweiligen Berufsprofile sprachen und uns dabei vermittelten, dass sie ihre Arbeit gerne gemacht hätten – „ich bin leidenschaftlich Bergmann“, brachte es einer auf den Punkt –, so lässt sich zumindest ansatzweise ermessen, welche Bedeutung der Arbeit im Kali-Werk hinsichtlich des Selbstbildes und des Selbstwert-Gefühls zukam, und wie groß entsprechend der Verlust im Zuge von dessen Abwicklung gewesen sein muss (Interview Bi04, 0:51). Hinzu kommt, dass auch der Umstand, dass schon der Vater oder die Mutter oder die Großeltern im Werk gearbeitet hatten, von besonderer Bedeutung war. So gesehen war das Kali-Werk mehr als nur ein Betrieb oder Arbeitgeber. Wir zitieren noch einmal aus einem Interview:

„[…] wenn man jetzt im Urlaub war, und man kam zurück, man sah hier auf der Halde die Lichter, da wusste man, jetzt ist man wieder zu Hause, ne. Das war einfach ein Heimatgefühl und ist es auch heute noch. Das tut mir heute noch weh, wenn ich hier rüber gucke, ich weiß noch, wo alles stand. Das ist nun mal so. [Er macht eine Pause.] Also mir tut's immer noch weh. Ich hätte gerne bis zum Renteneintrittsalter hier gearbeitet.“ (Interview Bi04, 0:01)

Vor diesem Hintergrund ist das Museum nicht nur ‚Altar‘ für den Arbeitskampf, sondern auch für eine untergegangene Welt der Arbeit und der Arbeiter*innenkultur. Und auch wenn sich in unseren Gesprächen bisweilen melancholisch an diese Welt erinnert wurde, scheint das Museum als Erinnerungsort eine versöhnende Funktion zu haben:

„Wir wollten so viel wie möglich für die Nachkommenschaft, also für die Kinder, Enkelkinder, wollten wir erhalten, was hier mal war. Ich weiß nicht, ob sie schon mal im Museum waren […], also es ist sehr viel Arbeit gewesen und wir habenʼs auch gerne gemacht.“ (Interview Bi04, 0:51)

Im Museum, so ließe sich sagen, lebt die untergegangene Welt der Arbeit und der Arbeiter*innenkultur in gewisser Weise fort: als eine Welt, die die ehemaligen Kali-Kumpel selbst geschaffen und gestaltet haben und die sie immer noch gestalten. Das Museum ist insofern die Fortsetzung von kollektiver Selbstwirksamkeit.[4]

 

6. „Echos der Kämpfe“ in der Gegenwart

In einem Eintrag aus dem Gästebuch des Museums heißt es an einer Stelle: „Dreißig Jahre nach der Wende begeben wir uns auf die Spuren der Widervereinigung in Ostdeutschland, mit dem Ziel zu fragen, was heute das Echo eurer Kämpfe ist.“ Vielleicht kann die Frage nach dem Echo der Arbeitskämpfe dazu beitragen, den Wahrnehmungs- und Analyserahmen ein wenig zu verschieben, der für die seit einigen Jahren verstärkt geführte Debatte über gesellschaftliche Spaltungen und die Erosion von Zusammenhalt im Hinblick auf das Ost-West-Verhältnis prägend ist. Gewiss müsste auch nach dem Echo anderer, zum Beispiel migrantischer Kämpfe gefragt werden, um der Gefahr zu entgehen, Ressentiment-Strukturen auszublenden oder mit Abwertungserfahrungen zu legitimieren. Doch ausgehend von den Erfahrungen von kollektiver Selbstwirksamkeit lohnt der Blick auf die Gemeinsamkeiten in den Erfahrungen von Abwertung wie von Gegenwehr, die sich in den „anderen“ Erinnerungen an die 1990er Jahre niederschlagen, gerade im Hinblick auf ihre Potenziale für die Gegenwart.  Ähnlich argumentieren Elisa Gutsche und Pablo Dominguez Anderson in ihrem Plädoyer für eine ost-migrantische Erinnerungspolitik:

Wir sehen in der Artikulation ost-migrantischer Erinnerungen des Ausschlusses, der Abwertung, aber auch des Widerstandes und des Kampfes nach 89/90 eine politische Chance. Im Sinne einer multidirektionalen Erinnerung plädieren wir dafür, das produktive Potenzial von Verweisen, Bezügen, Parallelen und Analogien in den Blick zu nehmen, statt wie gebannt auf die vorhandenen Differenzen zu schauen und Vergleiche grundsätzlich der relativierenden Gleichsetzung zu bezichtigen. Die gemeinsame Geschichte minorisierter Erinnerungen, deren Artikulation der erste Schritt auf dem Weg zu einer gemeinsamen politischen Praxis sein könnte, steckt noch in den Anfängen. (Gutsche und Dominguez Anderson 2019)

Die Signatur von Wende- und Nachwendezeit war die Gleichzeitigkeit von Selbstwirksamkeit und Ohnmacht. Zwar waren die Arbeitskämpfe der 1990er Jahre – im Gegensatz zur sogenannten Friedlichen Revolution, die die Wende einleitete – meistenteils erfolglos. Gleichwohl hat es die selbstgeschaffene Erinnerungskultur in Bischofferode, die im Museum anschaulich wird, zumindest einem Teil der Beteiligten ermöglicht, für eine Stabilität der Erinnerungen zu sorgen. Über das Museum sind sie mit der Vergangenheit in Kontakt, und zwar – der Eintrag aus dem Gästebuch deutet es an – auf radikal gegenwärtige Weise. Anders gesagt: Bei der Erinnerung im Museum geht es nicht einfach nur um das, was gewesen ist. Vielmehr stellt die Frage nach dem Echo der Kämpfe eine lebendige Verbindung zu aktuellen politischen Aktionen, Einstellungen und Reflexionen her. Vor diesem Hintergrund zeigt sich kollektive Selbstwirksamkeit auch anhand der Rolle, in gegenwärtigen Debatten als (historische) Referenz zu fungieren.

 

Gekürzter Beitrag aus:„Bischofferode ist überall“. Ohnmacht und Selbstwirksamkeit in Erinnerungen an die Arbeitskämpfe der Postwendezeit (zusammen mit Mathias Berek), in: Hanna Haag/Till Hilmar (Hg.): Erinnerung des Umbruchs, Umbruch der Erinnerung. Die Nachwendezeit im deutschen und ostmitteleuropäischen Gedächtnis, Wiesbaden 2024, S. 139-156 (Springer VS)

Anmerkungen:


[1] Bernd Gehrke, von dem wir die Zahlen übernehmen, bezieht sich hier auf eine Analyse von vier Tageszeitungen, in denen über die Streiks berichtet wurde (Dathe 2019). Siehe auch Plener (2011).

[2] In der kritischen Literatur zum Einigungsprozess finden die Abwicklung des Kali-Werks in Bischofferode sowie der Arbeitskampf schon früh prominent Erwähnung (Köhler 1994, v.a. S. 7-43).  Die 2018 erschienene MDR-Produktion „Bischofferode – Das Treuhand-Trauma“ wiederum zeugt davon, dass das Interesse an dieser Geschichte offenbar nicht abreißt oder zumindest immer wieder aufflammt (https://www.youtube.com/watch?v=NYr5rOkT9Nw. Zugegriffen: 18.7.2022).

[3] Wenn man den Neoliberalismus als dominantes Akkumulationsregime der letzten Jahrzehnte in den Analyserahmen integriert, zeigen sich weitere strukturelle Analogien, die letztlich über den postsozialistischen Raum hinausweisen (Groh-Samberg 2014; Ther 2014).

[4] Die biografisch nachträglichen Verklärungen und Romantisierungen dieser Arbeitswelten und Kulturen, ebenso wie die Thematisierung oder Einebnung von Widersprüchen, wären gesondert zu untersuchende Themen.