Im Reich der Tiere
Unterrichtstag in der Produktion
von Sabine Auerbach
Werkunterricht. Wir lernten mit Materialien und Werkzeugen umzugehen. Alles, was ich in dieser Hinsicht weiß und kann, habe ich damals und dort gelernt: Das Feilen, das Schleifen mit verschieden gekörnten Papieren, das Sägen, das Bohren, das Biegen, das Leimen und vieles mehr. Es reichte, um eine Kohlenschaufel aus Metall herzustellen- viele Arbeitsschritte, genaues Arbeiten. Am Ende hatte man etwas in der Hand. Ich schenkte die Schaufel aus Metall meiner Mutter zum Frauentag. Sie musste jeden Morgen den Kachelofen mit Papier und Holzscheiten, dann mit Kohlen in Gang bringen.
Als wir über all die Fertigketen verfügten, ging es in den Unterrichtstag in der Produktion, kurz UTP genannt. Ich fuhr mit meinem Kumpel Peter aus der Parallelklasse auf seinem Motorrad- er kam aus „guten Verhältnissen“, einmal in der Woche nach Tangermünde, zehn Kilometer von meinem Heimatort Stendal entfernt. Dort erwartete uns ein verführerischer Arbeitsplatz: eine Schokoladenfabrik. Sie war groß und alt. Im Jahr 1971/72 etwa fünfundsechzig Jahre alt. Hervorgegengen aus der Fabrik namens FEODORA hieß sie zu diesem Zeitpunkt Tangetta, später Konsü. Wir wurden am ersten Tag durch das Werk geführt. Ich sah Männer mit nackten Oberkörpern, die Kohlen in riesige offene Öfen schippten, sodass die Schokolade in ebenso riesigen Bottichen heiß gerührt werden konnte. Die meisten Maschinen waren alt, von außen rostig, mitunter neu angestrichen. Einige Maschinen standen still und sollten repariert werden. Zwei Maschinen waren neu und noch nicht in Gang gesetzt, weil das kapitalistische Ausland bestimmte wichtige Teile nicht mitgeliefert hatte. Nach dem Rundgang sollten wir zunächst am Fließband arbeiten, damit wir die Fertigprodukte kennen lernen konnten. Wir saßen also zwischen den Kolleginnen am Fließband, um Pralinen, jeweils vier an vorgegebenen Stellen in Pappschachteln zu stecken. Es durfte gegessen werden, nicht offiziell, aber zu Beginn durften wir probieren. Was wir schnell wieder ließen, denn nach mehreren Kostproben waren wir satt. Zu süß. zu klebrig an den Zähnen. Der eigentliche Grund aber war ein anderer. Wir saßen beide mit Blick auf die gegenüberliegende Wand, an der im oberen Bereich große Heizungsrohre entlangliefen. Dort auf den Rohren war ein lustiges Treiben zu beobachten. Mittelgroße bis große Ratten tummelten sich dort, balancierten hin und her, stießen aneinander, balgten sich, manchmal waren es zwei bis drei, manchmal mehr. Guck einfach nicht hin, sagte meine Nachbarin am Fließband, man gewöhnt sich dran. Und sie können auch nichts mehr anrichten. In die Schokolade konnten sie freilich nicht mehr fallen. Sie lag jetzt hart und geformt vor unseren Händen als Praline. Mäuse, die in kleineren Mengen auf dem Boden für uns sichtbar herumhuschten, mieden die Rohre da oben, wahrscheinlich hatten sie Angst vor den größeren Tieren. Vielleicht hätten sie sich auf den großen Rohren auch nicht gut festhalten können. Sie waren diskreter als die Ratten, verschwanden blitzschnell wieder in irgendwelchen kleinen Löchern. Mit dem Genuss für uns war es nun schon am ersten Tag vorbei. Wir freuten uns auf die Mittagspause. Die Bänder liefen weiter, wir gingen in die Kantine. Der Raum war nicht besonders groß, einfache Tische, einfache Stühle, geradezu eine Küche mit zwei großen Fenstern ins Innere. Die gerahmte Scheibe des rechten Fensters war hochgeschoben. Eine Durchreiche. Die linke Seite von oben bis unten dunkel. Wir standen in der Schlange, um eine Bockwurst mit einem Brötchen kaufen zu können. Je näher ich kam, schien es, dass sich das Schwarzbraun der linken Fensterseite bewegte. Ich rieb mir die Augen, aber es wurde immer lebendiger, mitunter an einer Stelle auch etwas heller, dann wieder dunkel.
Schließlich wimmelte es vor meinen Augen. Den Namen der Tiere kannte ich damals noch nicht. Peter sagte kurz: Kakerlaken. Ein Fenster, etwa 80 mal 90 Zentimeter groß, voller Kakerlaken, die sich dicht an dicht hinter Glas sanft aneinanderschmiegten. Eine fiel herunter auf den Fußboden der Küche. Die Lücke wurde sofort wieder geschlossen. Es wurde wieder dunkel. Kakerlaken als ein bewegliches Kunstwerk in Schwarz und Braun. Wir aßen dennoch mit Genuss unsere Bockwurst mit viel Senf und einem alten Brötchen und Peter klaute noch vor dem Ende des Arbeitstages eine Schachtel mit sogenannten Katzenzungen aus Vollmilchschokolade, die er vor der Heimfahrt in seine Lederstiefel steckte., denn wir wurden beim Verlassen des Betriebs am Ausgang kontrolliert. Vor meiner Haustür angekommen, stieg er unerwartet vom Motorrad: die vom Auspuff heiß gewordene flüssige Schokolade hatte sich Bahn gebrochen und schwappte nun aus seinen schicken Stiefeln heraus auf graue Pflastersteine vor unserer Haustür.
Kurz nach dem Fall der Mauer, also etwa achtzehn Jahre später, soll die Fabrik dann endlich geschlossen worden sein. Endlich. Endlich.
Halleluja