Dosenbier ist verschwunden oder Ich fahre oft nach Berlin

von Utz Rachowski

 

Ich fahre oft nach Berlin, und ich meine Westberlin damit.

 

Ich hab’ noch einen Koffer dort. Aus zehn Jahren Exil.

 

Voll lebendiger Erinnerungen und echter Freunde.

 

Jürgen Fuchs liegt auf dem Heidefriedhof (Zwei Weltkriege/Zersetzungsmaßnahmen/Stecken in uns/Wir sind die Kinder/Wir sind dran).

Alt-Mariendorf ist noch immer dort, wo ich umsteigen musste von der U-Bahn-Linie 6 in den Bus nach Marienfelde, ins Aufnahmelager, als ich aus dem Knast kam im November 1980. So sah ich Berlin das erste Mal. Dann zehn Jahre die verfeindete Stadt.

Gerulf Pannach liegt in Schkeuditz begraben (Als ich wie ein Vogel war/der am Abend sang/riefen alle Leute nur: Sonnenuntergang!), aber das ist in Sachsen.

Und Bernd Markowsky, der Fotograf, (wenn sie mit Panzern kommen, werde ich mit Objektiven werfen) ist weggegangen aus Kreuzberg und wohnt jetzt am Douro unweit von Porto. Ehemals Jenaer Friedensbewegung.

Salli, der Dichter und Liedermacher (Fürbringerstraße in Kreuzberg/Du weißt/Ist dort/Wo jeder Hund seine Scheiße hinscheißt!), – dort haben wir zusammen gewohnt – hat eine eigene Band und ist beim Rundfunk in der Masurenallee jetzt Literaturredakteur und macht manchmal eine Sendung mit mir, neun Minuten oder neunvierzig, Die Leseprobe heißt das, die neue Intendantin hat das gesprochene Wort gerade wieder heruntergefahren, aber für meine Fahrkarte aus dem Vogtland reicht das Honorar, sogar zurück.

Kuno, Vollblutmusiker, erst Thomaner in Leipzig, dann Renft (Du, woran glaubt der/der den Hintern quer zu der Fahne dreht?), teilte mit Salli und mir den Hinterhofblick auf die Müllkübel, nachts hörten wir sein Klavier mit den Akkorden für den nächsten Tatort, er wohnt jetzt schon zwölf Jahre im Harz.

Włodek scheint heute in Warschau zu sein bei seiner alten Mutter oder ist gerade in der Ukraine unterwegs wegen einer Reportage.

Blechi steht jetzt nicht mehr heimatlos mit seiner Bierbüchse vor dem türkischen Imbiss vis à vis vom Mexicogrill – inzwischen ein biederer Eisladen mit Rauchverbot und sowieso nichts für uns –, er ging zurück ins Erzgebirge, Annaberg-Buchholz, dorthin, wo seine Johanna sich umgebracht hat mit siebzehn, als er im Knast saß. Zurückgekehrt nach dem Fall der Mauer in seine Heimatstadt, hat er seinen Nachbarn ermordet, bewusstlos geschlagen an einem Nachmittag, dann Kaffee mit ihm getrunken, als er wieder erwachte, am Abend dann erstickt und über Tage zersägt, in blaue Mülltüten gepackt und am Stadtrand verteilt. Der Mülltüten-Mörder von Annaberg, wie ihn die Boulevardpresse nennt, wurde 25 Jahre vorher aus seiner Heimatstadt geschafft und inhaftiert, weil er ein Buch von Jürgen Fuchs weitergegeben hatte. 1980 kam er in Karl-Marx-Stadt in meine Zelle. Zehn Jahre Westberlin mit Whisky, Haschisch und Einsamkeit.

Dosenbier ist verschwunden. Bubi aus Reichenbach (…nennt mir die neuen Namen für die alten Narren!) wohnt in Neukölln, der Buchhändler, den sie mit brachialer Gewalt aus dem Vogtland fortgejagt haben. Mit Bubi spiele ich in Neukölln Fußball und mit Julian, seinem Sohn, immer in der Hasenheide und bei jedem Wetter, Papierkörbe und Bäume geben das Tor, je nachdem wo Platz ist, abends und im Winter stellen wir Teelichter auf, um die „Torpfosten“ zu sehen.

Dann gehe ich zum Hermannplatz runter, ein Stück die Sonnenallee entlang, dann links in die Friedelstraße, Nummer 6 ist eine Verlagsadresse, aber Siegfried Heinrichs sitzt gegenüber im Casa Nostra und hat schon auf mich gewartet. Ich habe mich verspätet, weil ich noch Olli Mertins traf, den jungen Westberliner Autor (... der Dichter ist ein Lehrer der Fernstenliebe), leicht bekifft und gut drauf, ich wollte die E-Mail-Adresse von Bernd in Porto, aber er wusste sie nicht.

Siegfried Heinrichs sitzt am Tisch vor einem Haufen Knüllpapier, macht Verlag und den Eindruck, als sei die Cosa Nostra hinter ihm her. Rechnungen und Mahnungen auf Rechnungen. Das Deutsch-Schweizer Radio in Zürich will Ankerplatz der Hölle von Warlam Schalamow besprechen, das ist bei Oberbaum vor zehn Jahren erschienen, Siegfried fragt, ob ich noch ein Exemplar hätte, er wolle wieder auflegen. Ja, sage ich, aber das gebe ich nicht her für die späten Schweizer. Ich bestelle einen erdigen Roten aus den Abruzzen und eine Sardellenpizza. Siegfried hat noch zu tun. Der zweite Band von Jessenins Gedichten und Sinaida Hippius Erinnerungen sollen erscheinen, die Tagebücher aus dem Bürgerkrieg, und eine Neuauflage von Sándor Márai, die Bekenntnisse eines Bürgers.

Mojo, der Besitzer des Restaurants, knirscht mit den Zähnen, aber unhörbar: Siegfrieds Papierberge und Bücherpyramiden auf Tischtuch, Fensterbank und Stühlen. Bubi kommt noch vorbei, dann haben wir Zeit, und Siegfried bestellt zu Ehren meiner Anwesenheit ein Bier auch für sich. Dann haben wir viel Zeit. Und am Abend ganz spät sagt er immer den einen Satz, bei jeder Begegnung: Wir hätten damals mitspielen sollen, ein gutes Studium machen und stillhalten. Dann säßen wir heute woanders. Ich hatte tausend Tage Knast. Und die Frauen wären bei uns geblieben. – Aber, sage ich dann jedes Mal, wir konnten nicht anders. Wir mussten Mauer zur Mauer sagen. Und keiner von uns hat jemals einen Antrag aufs Weggehen gestellt, wir durften nicht bleiben. Ich wünschte mir einen dort, jetzt in Sachsen, der nicht anders konnte. Wir wurden weggehetzt und verkauft, jetzt fehlen wir in den neuen Landschaften, aber das merkt keiner dort. Und nun bringt Bubi wieder die story aus meinen Vernehmungsakten bei der Stasi auf den Tisch, die Stelle, wo ich Die Wiedervereinigung Deutschlands und Die allgemeine Volksbewaffnung in der DDR in einem Satz gefordert habe. Und es klappt auch heute Abend – Siegfried Heinrichs lacht sich halb kaputt, wirkt plötzlich nicht mehr wie verfolgt, kriegt sich gar nicht mehr ein.

Dann ist es schon viel zu spät, und auf dem Weg zur U-Bahn merke ich plötzlich, dass alle Freunde, mit denen ich heute zusammen war oder an die ich gedacht habe, im Gefängnis gesessen haben und dann ausgebürgert und exiliert wurden, alle aus meinem Koffer, und dann vergeblich gewartet haben, geliebt zu werden, die Dichter, die Buchhändler, die Rockmusiker, die Liedermacher mit dem selbstgebastelten Gestell für die Mundharmonika an ihrer Gitarre, wie Dylan es tat, die Fotografen, die noch einmal auswanderten, weil sie ihre Bilder aus Osteuropa im Westen Deutschlands nicht verkaufen konnten, die Alltagsszenen aus Somalia und Afghanistan. Die Menschenaugen, nicht die Bilder des Krieges. Weil sie unterschied, dass sie danach auch nicht mitspielten und es nicht anders konnten. Morgen werde ich zurückfahren. Vortrag für die Birthler-Behörde in Halle, Eine Jugend im Visier der Stasi, Martin-Luther-Universität, Melanchthonianum, Hörsaal A.

 

 

                                                                                                                      10. Mai 2005