"Home, sweet Home"

Vier Kapitel aus der Mentalitätsgeschichte des ostdeutschen Heimatgefühls

von Stefan Wolle 

Einleitung 
Mütterchen Heimat

Heimat ist immer woanders, irgendwo weit entfernt in Raum oder Zeit. Sie ist das Reich der Erinnerung, das „einzige Paradies, aus welchem wir nicht getrieben werden können“, wie Jean Paul schon 1811 schrieb. Solange uns aber das Mütterchen Heimat in ihren Krallen hält, fordert es nicht allein Gehorsam, sondern aufrichtige und ehrliche Liebe, über die sie misstrauisch wacht. Im schlimmsten Fall hindert sie ihre unartigen Kinder am Weglaufen durch Betonmauern, Stacheldraht und Selbstschussanlagen. 
Erst nach der Loslösung aus der Umarmung beginnt die Verklärung und je weiter die Heimat hinter dem historischen und geographischen Horizont verschwunden ist, desto freundlicher kann man ihrer gedenken, zumal wenn man sicher sein kann, dass sie niemals wiederkehrt. 
So einfach und so verworren ist auch die Mentalitätsgeschichte der Heimatgefühle, die das kleine Ländchen zwischen Nacktbadestrand und Fichtelberg über vierzig Jahr lang einforderte.  
Das wirkt natürlich nach. Will man sich des etwas abgegriffenen Instrumentenkastens der Psychoanalyse bedienen, könnte man mit C.G. Jung von einem ausgewachsenen Mutterkomplex sprechen. Die Kinder des Mütterchens DDR haben sich teilweise nur unzureichend aus der zwar aufgezwungenen, aber dennoch internalisierten Mutterbindung gelöst und sehnen sich zurück in ein imaginäres Zuhause. Die falsche Erinnerung gaukelt ihnen eine heile Welt der Geborgenheit, Ordnung und Sicherheit vor. Das Mütterchen kann freilich auch ein Väterchen sein, das wie vordem andere Väterchen aus dem Osten kommt.   


Erstes Kapitel
„Von der Oder bis zum Rhein - Das ganze Deutschland soll es sein“

Heimatliebe ist Kitsch - entweder privater und harmloser Kitsch, oder aber öffentlich verbreiteter, gefährlicher Kitsch, der oft politisch missbraucht wird. Kitsch bedeutet hier konkret die Instrumentalisierung falscher und verlogener Gefühle zum Zwecke der emotionalen Beeinflussung. Jeder weiß, dass Gefühlskitsch weit wirksamer ist als rationale Argumente. 
„In der Heimat, in der Heimat, da gibt’s ein Wiedersehen“ sangen die deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Es handelte sich um ein Soldatenlied, dass bereits 1914 entstanden war und nach der Melodie eines Volksliedes gesungen wurde. Auch nach Kriegsende wimmelte es in Ost und West von Heimat, im Sinne der Wiederkehr aus Krieg und Gefangenschaft. Aber der Heimatbegriff wurde mit der beginnenden Teilung auch in der Sowjetischen Besatzungszone und der jungen DDR verknüpft mit dem deutschen Vaterland. In Zeitungen und Zeitschriften wie in der Wochenschau, in Liedern und Festreden rauschten die deutschen Wälder, läuteten die Kuhglocken und sprudelten silberhell die Gebirgsbächlein ins traute Tal. Dort wo die Heimat lokalisiert war, waren es in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren auffallend oft Berge und Täler in den Westzonen und der Bundesrepublik. Dahinter standen konkrete politische Ziele, die von der sowjetischen Deutschlandpolitik diktiert wurden. 

Deutschlandtreffen 1950

Das Deutschlandtreffen, das rund um die Pfingsttage vom 24. bis zum 29. Mai 1950 in Ost-Berlin stattfand, stand ganz im Zeichen der Forderung nach Einheit des Vaterlandes und der Betonung der Rolle Berlins – und zwar ganz Berlins – als der Hauptstadt Deutschlands.
Die Teilnahme westdeutscher Jugendlicher am Deutschlandtreffen wurde von Anfang an befördert und propagandistisch hervorgehoben. Deutsche Gemeinsamkeiten, dargestellt an einer Familiengeschichte, stehen auch im Mittelpunkt des 1951 im Dietz-Verlag der SED publizierten Romans „Herren des Landes“ von Walther Pollatschek. Der Roman findet seinen Höhepunkt in der Schilderung des Deutschlandtreffens im Mai 1950. Die damals übliche Tonlage treibt in dem Romanwerk üppige Blüten: 
„Und dann ist ein Aufbruch, wie ihn Deutschland noch niemals sah. Sie kommen auf allen Wegen, ein einziger Zug, in Marschkolonnen über die Straßen, auf hellen Schiffen über das Wasser hin, in endlosen Zügen, mit Personenwagen und Güterwagen, selbst die Lokomotive hat den rußigen Leib mit Blumen und Birken geschmückt. Auf allen Einfallstraßen eilen die Autobusse, eilen die Lastwagen voll von Gesang, von strahlenden Gesichtern, schimmernde Fracht, und Fahnen und Wimpel, blau und weiß, flattern fröhlich im Fahrwind über sie hin.“i
Auf der anderen Seite der Sektorengrenze herrscht graue Tristesse: „Trostlos und still liegt der Westen der Stadt, der unterdrückte und verhetzte. Aber das freie Berlin – ein neuer Pfingstgeist ist über Mauern und Menschen gekommen. Alle Straßen und Stadtteile sind ein blaues Strömen und Wirbeln … Ja Berlin singt. Überall auf den Straßen und auf den Bahnen, draußen in Pankow und in Grünau, in Weißensee und erst recht Unter den Linden und bis zum Alex hin, überall ist Gesang, ohne Ende. Es ist, als schwebten das Lied der blauen Fahnen und das Weltjugendlied gleich einer tönenden Glocke über Berlin.“ii
In diesem Stil geht es seitenweise weiter, bis der Autor den dünnen Faden seiner Romanhandlung wiederfindet. Die Teilnehmer aus Westdeutschland sind tief beeindruckt vom Friedenswillen und den Aufbauleistungen der demokratischen Jugend im Osten. „Es ist wie in einer anderen Welt“, sagt der Gast aus der Bundesrepublik, der sich trotz seiner westlichen Herkunft perfekt in der Agitpropsprache der FDJ auszudrücken vermag. „Dies Zueinanderwollen, dies Zusammengehören, sich als Deutscher fühlen und nicht als Zonendeutscher – das ist mehr als nur eine Frage der politischen Überlegung, das strömt von Herzen zu Mund und Händen.“iii 
Die Auseinandersetzungen kulminierten, als sich die westdeutschen Delegierten auf den Heimweg machten. An der innerdeutschen Grenze beim Übergang Herrnburg, unweit von Lübeck, wurden von der westdeutschen Polizei etwa 10 000 westdeutsche Teilnehmer des Pfingsttreffens zwei Tage lang aufgehalten. Vorwand war eine „Personalienfeststellung zwecks Seuchengefahr“. Die Rückkehrer aus Berlin weigerten sich und kampierten eine, teilweise zwei Nächte auf freiem Feld. Dann gaben die Behörden nach. Der Vorgang wurde von der SED-Presse zu einer Art Vorstufe eines offenen Bürgerkriegs stilisiert. Das „Neue Deutschland“ titelte am 1. Juni 1950: „Menschenjagd an der Zonengrenze“. In dem Bericht ist davon die Rede, dass „Panzer gegen westdeutsche FDJler“ eingesetzt würden. Wörtlich hieß es: „Die Jugendlichen sollten in ein Konzentrationslager eingeliefert werden.“iv Im gleichen Bericht werden die Polizeiaktionen „faschistische Terrormaßnahmen“ genannt. Nachdem in der Nacht vom 1. zum 2. Juni 1950 die sicherlich schikanöse Polizeiaktion abgebrochen worden war und die Jugendlichen in die Züge steigen durften, wurde das von der SED-Presse im Stile einer Frontberichterstattung als großer Sieg gefeiert. „Adenauers Polizei musste kapitulieren. Mit fliegenden Fahnen überschritten die jungen westdeutschen Friedenskämpfer die gesperrte Zonengrenze“, hieß es im Zentralorgan der SED.v In dem von Franz Dahlem verfassten Kommentar war von einer „Kesselschlacht“ die Rede. „Die deutsche Jugend hat im Kampf um den Frieden und um die deutsche Einheit einen wichtigen Sieg errungen und das ist ein hoffnungsvolles Zeichen für den kommenden endgültigen Sieg.“vi
Die führenden Kunstschaffenden der DDR beeilten sich, ihr Scherflein zu dem Propagandagetöse beizutragen. Bertolt Brecht verfasste eine Kantate mit dem Titel „Herrnburger Bericht“, die von Paul Dessau vertont wurde. Als Einleitungssatz, der bei der Uraufführung als Sprechchor vorgetragen wurde, stand über dem Chorwerk: 

„Deutsche
Wurden von Deutschen
Gefangen
Weil sie von Deutschland 
Nach Deutschland 
Gegangen“vii

Die sittliche Entrüstung über das Ansinnen der niedersächsischen Polizei, an der Grenze die Ausweise zu kontrollieren, wirkt in der Retrospektive so grotesk wie das Motto des „Herrnburger Berichts“, hatte die DDR doch schon 1952 den Grenzverlauf mit großem Aufwand befestigt und den Grenzverkehr unter strengste Kontrollen gestellt. Doch auch die folgenden Strophen der Kantate lesen sich im Lichte späterer Ereignisse mehr als seltsam: 

„Zu Herrnburg hinterm Schlagbaum
Beginnt der Bonner Staat
Bluthunde streichen schnuppernd
Um Fallgrub und Stacheldraht.“viii

Dreimal wiederholt der Chor der Brecht’schen Kantate ebenso hoffnungsfroh wie realitätsfremd:

„Schlagbaum und Schanzen.
Hat das denn Zweck?
Seht doch, wir tanzen 
Drüber hinweg.“

Stalinnote

Am 10. März 1952 überreichte der sowjetische Außenminister Andrei Andrejewitsch Gromyko den Botschaftern der USA, Großbritanniens und Frankreichs in Moskau ein schriftliches Memorandum, das als Stalin-Note in die Geschichte eingehen sollte.ix Der Inhalt der diplomatischen Note war sensationell. Die sowjetische Führung stellte nicht mehr und nicht weniger in Aussicht als die Wiedervereinigung Deutschlands, und dies unter sehr vorteilhaften Bedingungen für die im Kriege besiegten Deutschen. Kernstück der neuen Ordnung in Europa sollte ein Friedensvertrag zwischen den Siegermächte und einer „gesamtdeutschen Regierung“ sein. Deutschland sollte ein friedliebender, demokratischer und unabhängiger Staat sein. Über die innere Verfassung Deutschlands wurde nur gesagt, dass die Betätigung demokratischer Parteien und Organisationen gewährleistet sein müsse und dass „Organisationen, die der Demokratie und der Erhaltung des Frieden feindlich“ seien, nicht zugelassen werden sollten.x 
Es kam Stalin darauf an, zwischen Westdeutschland und dessen westlichen Verbündeten einen Keil zu treiben, vor allem die deutsche Öffentlichkeit zu mobilisieren. Stalin sagte: „Man muß die Propagierung der Einheit Deutschlands die ganze Zeit fortsetzen. … Wir werden auch weiterhin Vorschläge zu Fragen der Einheit Deutschlands machen, um die Amerikaner zu entlarven.“xi
Der Gegenvorschlag der westlichen Regierungen vom 9. April 1952, in Deutschland freie Wahlen unter Kontrolle der UNO durchzuführen, war eigentlich nur ein Versuch, das Gesicht zu wahren. Die Sowjetunion erklärte sich zwar mit freien Wahlen einverstanden, von denen in der ursprünglichen Note keine Rede gewesen war, wollte diese Wahlen aber selbst kontrollieren. 
Für die DDR hatte diese Politik der Sowjetunion fundamentale Folgen. Seit März 1952 wurde die nationale Trommel gerührt. Dies geschah wider die eigene Überzeugung, wäre doch die SED-Führung das erste Opfer auf dem Altar der Wiedervereinigung gewesen. Sie musste alles tun, die westdeutsche Öffentlichkeit mit ihren Friedens- und Einheitsparolen einzulullen, und gleichzeitig dafür sorgen, dass diese Politik scheiterte. Allerdings brauchte sie sich in diesem Punkt keine übergroßen Sorgen zu machen. Der Westen war so taub gegenüber den Sirenenklängen aus Moskau, dass sich jedes Gespräch erübrigte. Insofern spielte Adenauer der SED in die Hände. Ein partielles Eingehen auf die Vorschläge der Sowjetunion, wie es die SPD vorschlug, wäre für die SED weitaus gefährlicher gewesen. Doch die Zeit war für eine Entspannungspolitik noch nicht reif. 
Als die Entscheidungen über die Bildung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und die Aufhebung des Besatzungsstatuts näher rückten, steigerte sich das nationale, antiwestliche und antiamerikanische Pathos bis zum Exzess. 
Die DDR gab sich patriotisch, oft fast nationalistisch, auf jeden Fall heimat- und deutschtümelnd. Volkstänze in bäuerlichen Kostümierungen, heimatliches Brauchtum und Volkslieder waren gefragt. Wo sich eine Gelegenheit ergab, überschlug sich die Liebe zum Vaterland, natürlich nicht ohne jemals die Erfüllungsgehilfen des Dollarimperialismus zu Bonn am Rhein einschließlich der Sozialdemokratie des Verrats an der nationalen Sache zu bezichtigen. 

Kampf um Helgoland

So eine Gelegenheit fand sich beim Kampf um Helgoland. Das Felseneiland, auf dem einst August Heinrich Hoffmann von Fallersleben das „Lied der Deutschen“ gedichtet hatte, war der SED-Führung offenbar Herzenssache. Helgoland war 1945 durch die britische Besatzungsmacht gänzlich geräumt worden und diente fortan als Bombenabwurfplatz und Gelände zur Munitionsvernichtung.xii Am 18. April 1947 fand der „Big Bang“ statt. Mit 6 700 Tonnen Munition löste das britische Militär die bis dahin größte nichtnukleare Sprengung der Weltgeschichte aus. Ob die Engländer wirklich geplant hatten, die Insel für immer in den Fluten der Nordsee zu versenken, ist bis heute unklar. Jedenfalls überstanden die Felsen die gewaltige Explosion, ansonsten wurde alles zerstört. Währenddessen wurden die ausgesiedelten Inselbewohner bei den britischen Behörden mit der Bitte vorstellig, auf ihre Insel zurückkehren zu dürfen. Als die Engländer sich stur stellten, landeten am 20. Dezember 1950 zwei Heidelberger Studenten und zwei Reporter auf der Insel und hissten die deutsche und die europäische Fahne. Einige Tage später verließen sie die ungastliche Insel, doch die Öffentlichkeit war mobilisiert. Nun wurde auf Weisung aus Ost-Berlin auch die westdeutsche FDJ aktiv. Am 23. Februar 1951 landete eine FDJ-Gruppe mit Teilnehmern aus der Bundesrepublik und aus West-Berlin auf Helgoland. Sie hissten die blaue Fahne mit der Friedenstaube. Die Engländer hatten inzwischen ein striktes Verbot erlassen, die Insel zu betreten, und die Polizei von Schleswig-Holstein musste die Inselbesetzer festnehmen. 
Es kam zu einem Prozess vor einem englischen Gericht mit entsprechend großem Medienaufwand, der mit Bagatellstrafen für die Inselbesetzer endete. Die sieben Angeklagten erhielten jeweils drei Monate Gefängnis. Die Strafen wurden in sechs Fällen zur Bewährung ausgesetzt. Lediglich der Leiter der Gruppe, ein Hamburger Kunststudent, musste die Strafe absitzen. Die SED-Presse wurde nun nicht müde, gegen die Einkerkerung der tapferen Patrioten zu protestieren, wobei die Grenze zwischen der ersten Aktion der zwei Heidelberger Studenten und den weiteren, teilweise von der FDJ organisierten Helgolandfahrten bewusst verwischt wurde. 
Das Scheitern der Friedensofferten aus dem Kreml und die Unterzeichnung des Pariser Vertrages war für die Ulbricht-Führung ein Geschenk des Himmels. Am 26. Mai 1952 unterzeichneten in Bonn die Außenminister der USA, Großbritanniens und Frankreichs sowie Bundeskanzler Adenauer den „Generalvertrag“, der als „Deutschlandvertrag“ in die Geschichte eingehen sollte. Am folgenden Tag unterschrieben die Vertreter Frankreichs, Italiens, Deutschlands und der Benelux-Staaten die Gründungsurkunde für die Europäische Verteidigungsgemeinschaft. Der „Deutschlandvertrag“ hob das Besatzungsstatut auf, der EVG-Vertrag band die Bundesrepublik in das westliche Bündnis ein. 
Die Politik der sowjetischen Störmanöver war gescheitert. Zwar lief die Propaganda weiter, als sei nichts geschehen, immerhin mussten die Verträge ja noch ratifiziert werden, und sie scheiterten schließlich am Votum der französischen Nationalversammlung. Doch die DDR durfte wieder zu einer Politik der Verschärfung des Klassenkampfes zurückkehren. 
Für die Ulbricht-Führung war der Weg frei zur Politik des planmäßigen Aufbaus des Sozialismus, zur Bildung eigener Streitkräfte, der verschärften Grenzsicherung, der Einstellung der Verkehrsverbindungen und des Telefonverkehrs zwischen Ost- und Westberlin, der Bildung landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften (LPG), und der massiven Belastung des privaten Mittelstandes mit Steuern. Die alles wurde vom 8. Bis 12. Juli 1952 auf der 2. Parteikonferenz der SED verkündet oder zumindest in die Wege geleitet. Ob die SED-Führung diese Politik der Teilung Deutschlands forcierte, um vollendete Tatsachen zu schaffen – ob also der Schwanz mit dem Hund wedelte –, wie einige Analytiker festgestellt haben wollen, sei dahingestellt. 
Die gesamtdeutsche Propaganda allerdings lief ungehemmt weiter. Je weniger die Agitatoren daran glaubten, umso lauter wurden sie. Während des II. Deutschlandtreffens Pfingsten 1954 verbreitete die FDJ auf einem Merkblatt Sprechchöre, die auf der Abschlusskundgebung von den Jugendlichen skandiert werden sollten: 

Die deutsche Jugend ist bereit
zum Kampf um Deutschlands Einigkeit!

Berlin muß unsre Hauptstadt sein,
nicht Adenauers Bonn am Rhein!“

„Von der Oder bis zum Rhein – 
das ganze Deutschland soll es sein!“ 


Zweites Kapitel 
Die sozialistische Nation DDR

Drei Jahre nach dem Beginn der Entspannungspolitik der sozial-liberalen Koalition erreichte der Wandel durch Annäherung auch Ost-Berlin. Am 21. Dezember 1972 unterzeichneten Egon Bahr , Egon und Michael Kohl, Michael während einer feierlichen Zeremonie im Gebäude des Ministerrates der DDR den „Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik“, kurz Grundlagenvertrag genannt. 
Am Tag der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages glich Berlin, die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik, einer belagerten Stadt. Die trostlosen weiten Flächen und breiten Straßen im Zentrum Ost-Berlins waren noch leerer als sonst. Die Zufahrtsstraßen wurden gesperrt und der Autoverkehr weiträumig umgeleitet. Die Studenten der Humboldt-Universität waren drei Tage früher in den Weihnachtsurlaub geschickt worden und das Hauptgebäude Unter den Linden durch zivile Einsatzkräfte des MfS gesichert.xiii Noch sorgfältiger als sonst wurden die Ausweispapiere der wenigen Mitarbeiter geprüft, die sich an dem Vorweihnachtstag in die stille Universität verirrt hatten. In dem von Minister Mielke persönlich unterzeichneten Befehl war für jede Eventualität Vorsorge getroffen worden.  Besondere Sicherungspunkte waren das Gästehaus der Regierung, das Kronprinzenpalais Unter den Linden und das Gebäude des Ministerrates. Dorthin wurden die schwarzen Staatskarossen der BRD-Gäste geleitet. Sie fuhren durch menschenleere Straßen. Das weite Rund zwischen der historischen Prachtstraße und den breiten Zufahrtsstraßen zu den Regierungs- und Amtsgebäuden lag wie ausgestorben unter dem winterlich grauen Himmel. Lediglich die starke Präsenz von Polizeikräften fiel auf. In regelmäßigen Abständen standen paarweise Mitarbeiter der Sicherungskräfte und hielten Ausschau nach Provokateuren und Störern. Dabei blieb in dem Befehl des Ministers die politische Richtung, aus der Gefahren zu erwarten waren, seltsam unklar. Neben „terroristischen Aktivitäten“ sollten „demonstrative Aktionen für bzw. gegen die BRD, SPD, u. a. in Wort, Bild, Schrift, durch Symbole und mit akustischen Mitteln (Kirchenglocken, Sirenen und andere Signale) in allen Bereichen des öffentlichen Lebens unterbleiben. Soweit solche auftreten, sind sie durch geeignete Maßnahmen und bevor sie öffentlichkeitswirksam werden, zu unterbinden und die Initiatoren festzustellen.“xiv Um jeden Preis sollten Ereignisse wie beim Besuch von Willy Brand in Erfurt im März 1970 verhindert werden. Diesmal blieb es dank der Vorsorge der Sicherheitskräfte vollkommen ruhig.  
Als um 14 Uhr der Weihnachtsmarkt auf dem Marx-Engels-Platz öffnete und manche Berliner dorthin strömten, um Riesenrad zu fahren oder die letzten Weihnachtseinkäufe zu erledigen, war der historische Akt der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages bereits abgeschlossen. Die Kavalkade der Staatskarossen und der Begleitfahrzeuge befand sich bereits auf der Rückfahrt zum Flughafen Tegel.   

Abgrenzungspolitik

Der Gegensatz zu der gespenstischen Atmosphäre dieses grauen Wintertages und der Tatsache des Durchbruchs in den deutsch-deutschen Beziehungen kennzeichnet fast symbolisch den Grundwiderspruch der folgenden beiden Jahrzehnte. Die Staatssicherheit konnte und wollte den Entspannungskurs nicht verhindern. Die Partei proklamierte die völkerrechtliche Anerkennung der DDR und der Nachkriegsrealität in Europa als historischen Sieg. Doch Partei und Stasi waren sich der Gefahren bewusst und boten alles auf, die Folgen der Annäherungspolitik im Inneren mit ihren Mitteln zu beherrschen. 
Die SED-Führung feierte einen ihrer größten Triumphe und ließ sich gleichzeitig den Teppich unter den Füßen fortziehen, auf dem ihre Macht stand. Aus der "Suffjetzone", wie Konrad Adenauer das „Gebilde“ gerne genannt hatte, war die Deutsche Demokratische Republik geworden. Noch am gleichen Tag gaben die Republik Österreich und das Königreich Schweden die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Ost-Berlin bekannt. Kurz vor Jahresende folgte als erster NATO-Staat das Königreich Belgien. Nach jahrelangen Klimmzügen, außerhalb des sowjetischen Bündnissystems ein bisschen Anerkennung zu erhaschen, war nun der Weg in die UNO und andere internationale Organisationen frei. Am 18. September 1973 stiegen vor dem Glaspalast der Vereinten Nationen am East River in New York gleichzeitig die schwarz-rot-goldene Fahne der Bundesrepublik Deutschland und die DDR-Flagge mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz auf. Damit schien die deutsche Zweistaatlichkeit auf unabsehbare Zeit besiegelt. Und doch gab es für die DDR Umstände, die mehr als nur ein Wermutstropfen im schäumenden Sekt der Festtagsstimmung waren. Bei der SED-Führung existierte die berechtigte Sorge, die Verhandlungen mit dem westlichen Klassenfeind könnten die alten Feindbilder des Kalten Krieges verblassen lassen. Sie setzte die Parole in die Welt, angesichts der politischen Entspannung verschärfe sich notwendigerweise und gesetzmäßig der ideologische Klassenkampf. Die Dialektik der Systemauseinandersetzung erfordere erhöhte politische Wachsamkeit. Gerade auf dem Gebiet der Ideologie sei für naive und politisch unreife Gemüter die Aufweichungs- und Unterwanderungsstrategie des Gegners nicht mehr auf den ersten Blick erkennbar. Der Klassenfeind schrecke vor nichts zurück. Ein Bericht der SED-Bezirksleitung Halle beklagte die "politische Sorglosigkeit" mancher sozialistischer Leiter: "So erhielten die Großhandelsgesellschaften des Bezirks eine größere Anzahl importierter Herrensocken zum Verkauf in den Geschäften, die mit dem Bildnis des westdeutschen Profi-Fußballspielers Uwe Seeler , Uwe ausgestattet waren."xv Sein Empfänger, Erich Honecker, Erich, hielt diese Mitteilung für so hervorhebenswert, dass er sie mit seinem Kugelschreiber markierte, wohl um auf das ungeheuerliche Beispiel mangelnder Wachsamkeit gegenüber den Anschlägen des Klassenfeindes bei gegebener Gelegenheit zurückzukommen. Der gleiche Bericht teilte mit, dass in einem wissenschaftlichen Institut Fachzeitschriften aus der BRD für alle Mitarbeiter zugänglich seien. Das zuständige Fachministerium müsse endlich einschreiten, um diesen Skandal zu beseitigen. "Nichts verbindet uns mit der imperialistischen BRD und alles mit unserem sozialistischen Vaterland", verkündete die Propaganda stereotyp. Ein Kurs verschärfter Abgrenzung von der BRD sollte die Entspannungs- und Normalisierungspolitik ergänzen.

Verfassungsänderung und Umbenennungswelle

Am Abend des 27. September 1974 erfuhren die erstaunten Zuschauer der "Aktuellen Kamera", dass die Volkskammer die Verfassung der DDR geändert hatte. Im Unterschied zu der breiten Diskussion um den Verfassungsentwurf im Frühjahr 1968 hatte es diesmal nicht einmal eine Vorwarnung gegeben. Erich Honecker , Erich begründete das "Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Verfassung" in einer Rede, und anschließend bestätigten die Abgeordneten einstimmig die Vorschläge. Während Artikel 1 in der Fassung von 1968 gelautet hatte "Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation", hieß es nun: "Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern"xvi. Artikel 8, der früher ausführte "Die Deutsche Demokratische Republik und ihre Bürger erstreben ... die Überwindung der vom Imperialismus der deutschen Nation aufgezwungenen Spaltung Deutschlands, die schrittweise Annäherung der beiden deutschen Staaten bis zu ihrer Vereinigung auf der Grundlage der Demokratie und des Sozialismus"xvii, entfiel ganz. So verabschiedete sich die SED-Führung offiziell von der deutschen Nation. Für den Alltag der DDR-Bürger hatte dies alles kaum eine Bedeutung. Sie waren es ohnehin gewohnt, mit einer Verfassung zu leben, auf die sich zu berufen wenig Sinn hatte, weil die vielen schönen Versprechen nicht einklagbar waren. Man wird also davon ausgehen können, dass die staatsstreichartige Verfassungsänderung vor allem auf Außenwirkung abzielte und der Bundesrepublik den festen Willen signalisieren sollte, die DDR wolle für immer eigene Wege beschreiten.
Danach setzte eine Welle von Umbenennungen ein. Überall wurde nach Möglichkeit die Bezeichnung deutsch oder Deutschland getilgt. In Leipzig wurde das "Hotel Deutschland" in "Hotel am Ring" umbenannt. Dieser Vorgang hatte eine gewisse Symbolwirkung, da in jener Zeit oft ein Zitat von Willi Stoph kolportiert wurde: „Was ist Deutschland? Ein Hotel in Leipzig“. 
Lediglich die SED, ihr Zentralorgan, das „Neue Deutschland“, die vier Blockparteien, die Massenorganisationen und die wegen alliierter Nachkriegsregelungen bezüglich des Namens nicht zur Disposition stehende „Deutsche Reichsbahn" machten eine Ausnahme. Ansonsten behalf man sich mit Abkürzungen. Das „Neue Deutschland“ hieß nun meist ND. Es wurde erzählt, viele Kunden hätten am Zeitungskiosk die bewusst missverständliche Formulierung gebraucht: „Ich möchte ein neues Deutschland“. Dies mag in den Bereich der Witze und Wandersagen gehören. Doch tatsächlich stand nun auf den Briefmarken in der Regel nicht mehr die vollständige offizielle Staatsbezeichnung, sondern nur noch das Kürzel „DDR“. Konsequenterweise wurde das Stichwort "Deutschland" auch aus der zweiten Ausgabe von Meyers Neuem Lexikon gänzlich gestrichenxviii. Wer etwa nachschlagen wollte, auf welches Land sich Heinrich Heines Heine, Heinrich Poem "Deutschland - Ein Wintermärchen" bezog, fühlte sich vom DDR-Meyer verlassen. Vielleicht aus Furcht vor der Lächerlichkeit, rückte die Redaktion in die folgende vierbändige Ausgabe von 1978 eine siebenzeilige Definition ein: "Deutschland: bis 1945 Land in Mitteleuropa, dann von ausländischen und deutschen Imperialisten systematisch gespalten. Seit 1945 existieren auf dem Territorium des ehemaligen D. die Deutsche Demokratische Republik und die Bundesrepublik Deutschland, zwei Staaten mit gegensätzlicher politisch-gesellschaftlicher Ordnung". Es folgten Verweise auf deutsche Geschichte, Kunst, Literatur und Musik.xix Immerhin wurde nach einer kurzen Phase der Überspitzung wieder eingeräumt, dass es eine gemeinsame Geschichte und Kultur gäbe. 
Immer stärker wurde in den folgenden Jahren die sozialistische Nation der DDR propagiert. Die Schulkinder lernten in Erdkunde die Wasserkraftwerke der Wolga-Don-Kaskade und die anderen Großbauten des Kommunismus. Wo der Rhein und die Donau flossen, mussten sie nicht unbedingt wissen. Gewisse Erfolge kann man diesen Bemühungen nicht absprechen. Doch wurden sie immer wieder durch das reale Leben konterkariert. Schon im Vorschulalter kannten die Kinder den Intershop und bettelten den Westbesuch an, mit ihnen in den Laden zu gehen, wo es so schön riecht. Diese Dimension deutsch-deutscher Topographie begriffen sie auch ohne die Schule. Die Nation aus der Retorte der sozialistischen Ideologie wurde für die SED immer mehr zum Problem. 
Die gesamtdeutsche Dauerkomödie der Deutschen im Umgang mit ihren nationalen Symbolen fand in der DDR ihren Höhepunkt im faktischen Verbot der Nationalhymne. Der Text von Johannes R. Becher , Johannes R. wurde seit 1974 weder gesungen noch gedruckt. Die markante Zeile "Deutschland einig Vaterland" skandierten im Herbst 1989 die Demonstranten und sangen voll böser Ironie den Text, soweit sie sich noch an ihn erinnern konnten. So wurde die "Spalter-Hymne" - wie sie in den fünfziger Jahren der Westen genannt hatte - zum Totengesang des sozialistischen deutschen Teilstaates.


Drittes Kapitel
Rückkehr zum Heimatbegriff

Sowjetische Weltraumflüge waren stets Überraschungen. Erst wenn das Fluggerät im All war, meldete die sowjetische Nachrichtenagentur TASS  den neuen Erfolg der Weltraumfahrt. Auf diese Weise konnte man Verschiebungen, Fehlstarts und andere Pannen verheimlichen. Freilich stieg mit dem Überraschungseffekt auch der Sensationswert der Nachricht. 
Am 27. August 1978 gab es gleich eine dreifache Überraschung. Erstens die Meldung über den Start der Sojus 31 am Vortag. Zweitens die Mitteilung, dass sich an Bord der DDR-Kosmonaut Sigmund Jähn befindet. Die dritte und größte Überraschung aber war die Schlagzeile, mit der das „Neue Deutschland“ aufwartete.  In dicken roten Lettern stand auf der Titelseite des Zentralorgans: „Der erste Deutsche im All – ein Bürger der DDR“. 
Diese Zeitungsüberschrift war mit Sicherheit nicht die spontane Idee eines übermüdeten Nachtredakteurs. Sprachregelungen – zumal in so heiklen Fragen – wurden im SED-Staat von der obersten Führung angeordnet und streng eingehalten. Plötzlich war der umjubelte Held der DDR ein Deutscher. Die Zeitungsleser, denen das zweiseitige Extrablatt des ND auf den sonntäglichen Frühstückstisch flatterte, rieben sich erstaunt die Augen. 
Die DDR wollte eine eigenständige sozialistische Nation sein und besann sich, um diese These zu legitimieren auf ihre Wurzeln in der deutschen Geschichte, auf Luther, auf Preußen, sogar auf Friedrich II. und Bismarck. Sie besann sich expressiv verbis auf die deutsche Wertarbeit und wenigstens unausgesprochen auf deutscher Pflichterfüllung, Treue und Tugend. Für diese wenn auch nur halbherzigen Wiederbelebungsübungen kam ihr der so  treuherzig und aufrichtig dreinschauende Fliegeroffizier aus dem Voigtland gerade recht. 
Kaum war Sigmund Jähn im All berichteten alle Medien von einem unglaublichen Begeisterungsturm in der Bevölkerung. Auf den Straßen wurde die erwähnte Sonderausgabe des „Neuen Deutschland“ verteilt. Auch in den folgenden Tagen berichteten die Zeitungen fast ausschließlich über den Weltraumflug, als gäbe es auf der Erde plötzlich keine Probleme mehr. In unglaublich kurzer Zeit erschienen überall Plakate mit dem beiden Kosmonauten Waleri Bykowski und Sigmund Jähne. Sollte es tatsächlich so etwas wie eine originäre Begeisterung für den Weltraumhelden gegeben haben, wurde sie schnell erstickt unter der erbarmungslosen Propagandalawine, die sich über das Land wälzte. 
 „Die janze DDR jähnt“ scherzten die Leute. Es gab aber weniger freundliche Witze. „Was wäre gewesen, wenn der Fallschirm bei der Landung nicht aufgegangen wäre?“, lautete eine Frage. Die Antwort: „Dann hätte die DDR endlich wieder einen glühenden Kommunisten gehabt.“ Andere machten sich über die Plakate lustig. Der Weltraumheld hatte auffallend rote Finger. Warum das so sei? Die Antwort lautete, immer wenn er einen der Hebel am Steuerpult anfassen wollte, hat er eins auf die Pfoten gekriegt,  

Erbe und Tradition 

Die SED-Führung suchte in dieser Zeit nach neuen Legitimationsmustern in der deutschen Geschichte.  Es sollten nicht mehr allein Gestalten und Bewegungen der fortschrittlichen Volksmassen sein, die Identifikationsmöglichkeiten boten und Heimatgefühle weckten, sondern darüber hinaus Traditionen, die tief in der Region verwurzelt waren. Die Pflege von „Erbe und Tradition“ war nun die Rede. Seit der Abschaffung der fünf Länder im Jahr 1952 und der Einrichtung gesichts- und geschichtsloser Bezirke war jeder Regionalismus vermieden worden. Plötzlich war wieder von Sachsen, Mecklenburg und vor allem von Preuße die Rede. 
Am 30. November 1980 wurde das von Christian Daniel Rauch , Christian Daniel geschaffene und 1857 eingeweihte Reiterdenkmal Friedrich II.  aus dem Park von Sanssouci in Potsdam wieder in die Nähe seines traditionellen Standorts Unter den Linden versetzt. Eine kleine Preußenwelle schien die Oberfläche des still ruhenden Sees ideologischer Unveränderlichkeit zu kräuseln. Das bundesdeutsche Feuilleton zerbrach sich den Kopf über diese Neubewertung der Geschichte in Ost-Berlin. In Moskau und Warschau dagegen gab es gerunzelte Stirnfalten, doch schließlich konnte man den Genossen in der DDR nur schwer verwehren, was man sich selbst an patriotischen Gefühlen gönnte. 
Der Preußenwelle folgte 1983 das Lutherjahr. Der Reformator Luther, Martin sollte nicht mehr allein Fürstenknecht und Bauernschlächter sein, sondern eine bedeutende und progressive Persönlichkeit der Weltgeschichte. Man stellte sogar die Behauptung auf, er sei der nach Marx , Karl und Engels , Friedrich weltweit bekannteste Deutsche, ohne dies allerdings statistisch zu belegen. Dem Lutherjahr schlossen sich die Bach, Johann Sebastian- und-Händel, Georg Friedrich-Ehrung, die Schinkel, Karl Friedrich-Welle und ähnliche Ereignisse an. Die Absicht war nur allzu leicht durchschaubar. Die alt gewordenen SED-Führer hatten schmerzhaft erkannt, auf welch schwankendem Boden ihr Lebenswerk ruhte. Sie wollten jenseits der Staatsideologie eine Identifikation der Bürger mit ihrer Heimat schaffen. So wurden bis dahin als reaktionäre Vertreter der Ausbeuterklasse bewertete Persönlichkeiten wenigstens teilweise rehabilitiert, jedenfalls mit repräsentativen Biographien bedacht. Luther – Friedrich II. – Bismarck … Einige Witzbolde fragten schon: Wer kommt als nächstes in der Reihe?


Viertes Kapitel
Sehnsucht nach der verlorenen Heimat

Heimat ist ein unsicherer Ort. Am 3. Oktober 1990 um null Uhr erlosch mit dem Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes – so die staatsrechtlich exakte Formulierung – die Existenz der DDR.  Kurz vor Mitternacht erklang die dritte Strophe des Deutschlandliedes und zu den Klängen der Freiheitsglocke wurde das schwarz-rot-goldene Banner am Mast emporgezogen. Dann stiegen die Feuerwerksraketen in den Nachthimmel über Berlin. Auf der Tribüne vor dem Reichstag stand die Prominenz der Bundesrepublik. Der Bundeskanzler Helmut Kohl bildete allein schon aufgrund seiner physischen Präsenz den Mittelpunkt. Neben ihm standen seine Gattin, der Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der SPD-Vorsitzende Willy Brandt, und ganz im Hintergrund der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, dessen Amt sich in diesen Minuten erledigte.
Innerhalb weniger Monate hatte sich eine gänzliche Neuorientierung der Bevölkerung vollzogen. Am 29. Dezember 1989 veröffentlichte das „Neue Deutschland“, das Parteiblatt der nunmehr zur Partei des Demokratischen Sozialismus (SED/PDS) gewendeten Staatspartei, die Resultate einer Meinungsumfrage. Auf die Frage welcher Partei sie bei einer Wahl ihre Stimme geben würden, nannten 34 Prozent die SED/PDS. Die CDU lag bei 7,9 Prozent, das Neue Forum bei 4,8 Prozent und die Sozialdemokratische Partei (SDP) bei 5,4 Prozent. Mit Sicherheit war diese Meinungsumfrage von politischen Absichten geprägt. Doch hätte man die Zahlen wohl kaum veröffentlich, wenn sie nicht einer verbreiteten Stimmung unter den ehemals staatstreuen DDR-Bürgern entsprochen hätte. Bevor Anfang 1990 der Zug der Zeit eindeutig in Richtung deutsche Einheit abfuhr, waren die Kräfte der Beharrung sehr stark. Die häufigsten Zukunftswünsche der DDR-Bürger waren Sicherung der Vollbeschäftigung und stabile Preise (34,7 Prozent), medizinische und soziale Betreuung  (33,6 Prozent), Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung (32,5 Prozent). 52,1 Prozent der Befragten trauten die Lösung dieser Aufgaben am ehesten der Regierung Modrow zu. Die Datenerhebung fand zwischen dem 19. und 21. Dezember 1989 statt. 
Am Abend des 19. Dezember 1989 bot sich beim Besuch von Bundeskanzler Kohl in Dresden ein ganz anderes Bild. Auf dem Neumarkt vor der Ruine der Frauenkirche sammelte sich eine riesige Menschenmenge mit schwarz-rot-goldenen Fahnen. Die Menge skandierte die Zeile aus der Nationalhymne der DDR „Deutschland, einig Vaterland“ und rief im Sprechchor immer wieder „Helmut, Helmut …“. Die wenigen DDR-Flaggen mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz gingen in der Menge unter. Ebenfalls im Dezember 1989 wurden bei der Montagsdemo in Leipzig Plakate mit der Aufschrift „Helmut, nimm uns an der Hand, führ‘ uns ins Wirtschaftswunderland!“ herumgetragen. Ganz offenbar wollte eine deutliche Mehrheit der Bürger eine andere Heimat als die DDR.
Kaum hatten die Ostdeutschen den aufrechten Gang erlernt, sehnten sich schon wieder nach einer Autorität. Die Hoffnungen richteten sich nun auf Bundeskanzler Kohl. Er verkörperte den reichen Onkel aus dem Westen, der mit seiner dicken Brieftasche alle Probleme löst. Wieder wurde die Verantwortung an eine Vaterfigur delegiert. Als nicht alle Träume von den „blühenden Landschaften“ in Erfüllung gingen kippte die Stimmung in ihr Gegenteil. Es verbreitete sich bereits in den neunziger Jahren eine „ostalgische“ Grundstimmung, die seit 2015 ein seltsames Amalgam mit rechtspopulistischen Ideen bildet. 

Abwicklung und Kaufrausch

Trotz Blasmusik und Bierbuden war am Abend des 2. Oktober und am folgenden Tag der deutschen Einheit die Stimmung auf der Festmeile zwischen Brandenburger Tor und Alexanderplatz eher von gedämpfter Freude geprägt. Längst hatten sich die Alltagssorgen in den Vordergrund geschoben. Alle Probleme der künftigen Entwicklung lagen auf dem Tisch. Die Bevölkerung der DDR hatte die Währungsumstellung und ihre Folgen hinter sich. Am 1. Juli 1990 war die die Währungs-, Sozial- und Wirtschaftsunion in Kraft getreten. Am Abend des 30. Juni 1990 waren die Regale leer. In der Nacht wurden die Westprodukte eingeräumt und am Morgen begann der Kaufrausch. Die Kunden wollten endlich die Produkte erwerben, die sie nur aus dem Werbefernsehen kannten. Der Osten wurde von den Westwaren förmlich überschwemmt. Längst hatten die Handelsketten das Land aufgeteilt wie die Goldsucher ihre Claims. Erst einige Jahre später – als die Firmen längst in westlicher Hand waren – begann die Begeisterung für Ostprodukte wie Spreewaldgurken oder Tempo-Linsen. Plötzlich waren die einfachen Pappkartons mit dem Linsengericht wieder begehrt.
Zunächst grassierte im Osten die Arbeitslosigkeit. Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) wurden zwischen 1989 und 1991 mehr als 2,5 Mio. Menschen arbeitslos. Die Gesamtzahl der Erwerbstätigen im neuen Bundesgebiet ging von fast 9 auf 6.7 Millionen zurück. Der Staat reagierte mit umfassenden Transferzahlungen und einem aufwendigen Einsatz arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen. Allein im Zeitraum von Oktober 1990 bis Ende 1991 wurden nach Angaben des IAB 440.000 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durchgeführt. Ohne derartige Instrumente wären die Arbeitslosenquoten in den neunziger Jahren noch höher gestiegen. 
Doch die Zahlen allein sagen wenig über die mentale Situation nach der Abwicklung vieler Betriebe aus. Allein das Wort Abwicklung wurde als zynisch empfunden. Für die westlichen Manager war es ein Terminus technicus, für die Betroffenen der Verlust ihrer Biographie. In der DDR ist die Arbeit mit einer fast religiösen Aureole umgeben gewesen. Natürlich war das auch politische Propaganda. Trotzdem stand im Alltag der Betrieb im Mittelpunkt des Lebens. Dort befanden sich auch Kindereinrichtungen, Ferienheime, Sport- und Freizeitmöglichkeiten und vieles andere. Der Betrieb delegierte Mitarbeiter zum Studium und übernahm sie später wieder. Zudem war im Betrieb auch im ganz praktischen Sinne viel zu holen. Ein Sack Zement, ein paar Bretter, eine Fuhre Sand. Und die Kollegen halfen sich gegenseitig, wenn es darauf ankam, etwas zu „organisieren“. Das alles brach seit 1990 weg. Dabei ging es nicht vorrangig um die materielle Absicherung, sondern vor allem um den Verlust des Eigenwertes von Menschen, die sich bisher über ihre Arbeit definiert hatten. 
Als die eiserne Klammer des Zwangssystems fiel, wurden die eingeübten Überlebensstrategien der Mangelgesellschaft gegenstandslos. Die Mauer beengte das Leben nicht mehr, bot aber auch keinen Schutz vor dem kalten Wind des Kapitalismus, der gerade in die Phase einer schrankenlosen Globalisierung getreten war. Die relative Gleichheit der sozialistischen Einheitsgesellschaft wich schnell einer neuen Ungleichheit zwischen den Verlierern und Gewinnern der Wende. Es waren vor allem die Schattenseiten der Marktwirtschaft mit denen die Bewohner der Neuen Länder nun in Berührung kamen. Die politischen Parolen und Symbole der SED-Herrschaft wurden ersetzt durch eine aufdringliche Werbung. Die neue Gesellschaft sonderte einen beträchtlichen Prozentsatz der erwerbsfähigen Bevölkerung als nicht brauchbar aus. Menschen, die ihren Wert über die berufliche Tätigkeit definierten, empfanden sich plötzlich als nutzlos. 
Nach dem Mauerfall setzt eine große Wanderungsbewegung ein. Bis Ende 1990 verließen rund 800.000 Menschen den Osten. Manche von ihnen waren zuvor vom SED-Grenzregime am Gehen gehindert worden. Die Meisten gingen, weil sie für sich in der Heimat keine Perspektive mehr sahen. Nach einem deutlichen Rückgang setzte um die Jahrtausendwende eine neue Abwanderungswelle ein. 2001 waren es fast 200 000 Menschen, die den Osten verlassen. Mit der Einwohnerzahl sanken die Steuereinnahmen und die Kaufkraft. Wohnungen standen leer, Kindertagesstätten, Schulen und Kultureinrichtungen wurden geschlossen. Ein Teufelskreis, der zu weiterer Abwanderung führte. Vor allem junge und leistungsorientierte Menschen machten sich in den Westen auf zum Studium oder zur Ausbildung. Dort fanden sie Jobs und oft auch Partner. Erst nach und nach kehrt sich der Trend um: Heute stehen den 3.681.649 Wegzügen der Jahre von 1991 bis 2017 immerhin 2.451.176 Zuzüge gegenüber. Leipzig, Potsdam und das Berliner Umland weisen wieder positive Bilanzen auf. Doch noch sind die Folgen der großen Wanderung nicht überall überwunden. 
Die Stimmung im Osten ist im zweiunddreißigsten Jahr der Einheit schlecht. Manche sagen, sie ist so kritisch wie 1989 als das Volk die SED-Führung zum Teufel jagte. Daran knüpft die rechtspopulistische AfD an. „Der Osten steht auf“ oder „Vollende die Wende“ steht auf ihren Wahlplakaten.  Laut dem Bericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit hat sich die Wirtschaftskraft Ostdeutschlands in den vergangenen drei Jahrzehnten mehr als verdoppelt.  Sie war allerdings auch 2019 – also vor der Corona-Krise - noch um 27 Prozent niedriger als in den alten Ländern. Auch die Einkommen und die Vermögen sind geringer. Doch im Osten erreichte die Arbeitslosenquote im Sommer 2019 mit 6,3 Prozent einen historischen Tiefstand und lag nur noch leicht über der Westquote von 4.7 Prozent. Erinnert sei an die dramatischen Zahlen aus den neunziger Jahren. Im Jahr 2000 lag die Arbeitslosigkeit im Osten bei 18,7 Prozent. Heute beträgt sie in Thüringen 5,2 und Sachsen 5,3 Prozent und überall werden Leute gesucht. Wer in das Horn vom abgehängten Osten bläst, möchte auf diesem Feuer sein rechts- oder linksradikales Süppchen kochen. Die Ziele von AfD und Linkspartei sind scheinbar gegensätzlich, die Argumentationsmuster gleichen einander aufs Haar. 

Neue Ostalgie im Zeichen des Ukraine-Krieges

Vor der Corona-Epidemie schienen angesichts positiver Wirtschaftsdaten die Ost-West-Ressentiments im Abklingen. In den Jahren 2020 und 2021 kannten die Medien kaum noch ein anderes Thema als die Pandemie. Man hätte vermuten können, dass in den obrigkeitsstaatlich geprägten Regionen der ehemaligen DDR die Zustimmung zu den staatlichen Verordnungen der Seuchenbekämpfung stärker wären, als in dem freiheitlich und antiautoritär geprägten Westen. Das Gegenteil war der Fall. Im Osten verbreitete sich eine diffuse Proteststimmung eigener Art. Sie griff auf die Rituale und Gesten der Friedlichen Revolution von 1989 wie die Montagsdemo zurück, vereinnahmte aber auch rechte Denkmuster und wirkte auf Außenseiter aller Art wie ein Magnet. Die Versuche der AFD, die Bewegung vor ihren Karren zu spannen, waren nicht sonderlich erfolgreich. Jedenfalls fand der große Aufschwung der Rechtsbewegung im Gefolge von Corona nicht statt. Mit dem Abflauen der medialen Aufmerksamkeit seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine verlor sich auch die Protestbewegung. Genauer gesagt, sie ging in ebenso heterogene Bewegung gegen Waffenlieferungen an die Ukraine über. 
Auch diese neue Protestbewegung ist im Osten präsenter als im Westen. In der ehemaligen DDR erwacht offenbar eine sentimentale und romantische Russlandneigung zu neuem Leben. Sie wurzelt tief in der deutschen Geschichte. Bereits im 19. und frühen 20. Jahrhundert fehlte es nicht an deutschen Dichtern und Denkern, die sich von der Glaubenstiefe des einfachen russischen Volkes Heilung versprachen. Rainer Maria Rilke, der gemeinsam mit seiner Geliebten Lou Andrea-Salomé Russland bereiste und Leo Tolstoj besuchte, sei hier nur als Beispiel genannt. Als die Oktoberrevolution siegte, meinten manche Dichter, wie Johannes R. Becher, die alte Hoffnung „ex oriente lux“ würde sich nun erfüllen. Sein Glaube an die Sowjetunion trug ausgesprochen religiöse Züge. Selbst bürgerliche Schriftsteller wie Lion Feuchtwanger oder Heinrich Mann ließen sich ungeachtet aller Verbrechen Stalins nie von ihrer Verehrung für den Diktator abbringen. 
Seit dem Ende des Krieges betrieb die Sowjetische Besatzungsmacht eine intensive Kulturpolitik. Trotz aller Übergriffe sowjetischer Soldaten in der Nachkriegszeit, trotz des Vorgehens der sowjetischen Truppen gegen die aufständische Bevölkerung am 17. Juni 1953 und trotz der Intervention der Sowjetarmee 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei blieb eine irrationale Neigung der Bevölkerung zur Sowjetunion immer erhalten. Sie existierte parallel zu den vielen bösen Geschichten über die Russen und ihre Taten nach Kriegsende. Filme und Bücher aus der Sowjetunion spielten stets eine große Rolle in den internen Diskussionen der DDR, insbesondere im Zeichen der Tauwetterperiode 1956, aber auch zu Beginn der Reformzeit nach 1962, als Ulbricht grünes Licht für einen Umbau der Wirtschaft erhalten hatte Dieser Einfluss kulminierte noch einmal seit dem März 1985, als Michail Sergejewitsch Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU wurde. Dankbarkeit ist keine politische Kategorie, doch fast alle DDR-Bürger erinnern sich an die Situation im Oktober und November 1989, als unter dem Schlachtruf „Gorbi, Gorbi“ Demonstranten durch die Straßen zogen. Gegen die Sowjetunion, genauer gesagt, gegen eine hochgerüstete Streitmacht von rund 350 000 sowjetischen Soldaten wäre weder die demokratische Revolution noch die Wiedervereinigung möglich gewesen. 
Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine verbinden sich diese Faktoren mit der konkreten Furcht vor den Konsequenzen einer Stilllegung der Erdgas- und Erdölleitungen, die den Osten besonders hart treffen würden. 
Komplementär zu der romantisch-sentimentalen Russlandverklärung werden auch antiwestliche Ressentiments wieder lebendig. Seit Jahrzehnten war die NATO die Inkarnation alles Bösen auf der Welt, die CIA der Anstifter vieler Putsche gegen fortschrittliche Regierungen. Man traut den dunklen Mächten des US-Imperialismus auch heute noch zu, 2014 in Kiew und vorher anderswo die Fäden gezogen zu haben. 

Wachstumsregion Ost

Stehen wir also vor einer neuen Ostalgie im Zeichen einer friedensbewegten russlandfreundlichen, fremdenfeindlichen Basisbewegung, gar vor einer neuen Ost-West-Spaltung?  
Am 12. Juni 2022 fand in Bad Saarow ein „Ostdeutsches Wirtschaftsforum“ statt. Die anwesenden Politiker gaben sich optimistisch, verwiesen auf gigantische Industrieansiedlungen in Brandenburg und Sachsen-Anhalt und erklärten Ostdeutschland zur Wachstumsregion. „Um den nicht zuletzt durch die Demografie bedingten Mangel an Fachkräften zu überwinden, bedürfe es unter anderem des Zuzugs ausländischer Arbeitssuchender“, heißt es im Bericht des „Tagesspiegels“ über die Pressekonferenz des Bundeskanzlers Olaf Scholz. xx „Ebenso wie beim unausweichlichen Ausbau der erneuerbaren Energien bedürfe es von Seiten der Bevölkerung auch beim Zuzug von Arbeitskräften Akzeptanz. ‚Diejenigen, die mit dumpfen Parolen auf politischen Stimmenfang gehen, erweisen dem Osten einen Bärendienst …“xxi
Helmut Kohl hatte 1990 den Wählern „blühende Landschaften“ versprochen. Als die angekündigte Blütezeit auf sich warten ließ, gab es viel Enttäuschung. Gegenwärtig ist klar, dass der Weg in die neue Heimat der Ostdeutschen lang und kompliziert sein wird. Mit Gegenwind ist zu rechnen. Wichtig ist vor allem, dass die Menschen den Fortschritt nicht von außen erwarten, sondern in die eigenen Hände nehmen.