Heimkehr

von Sabine Auerbach

Der einzige Baum im Hof steht noch in vollem Laub, obwohl es bereits November ist. Eine Robinie oder Akazie, glaube ich. Jetzt, da die hierherkommen, sollte ich zurückgehen!? Ich weiß nicht, ob hinter diesem Satz ein Ausrufe- oder Fragezeichen steht. Gerade jetzt, da ich mich seit einiger Zeit mit der Geschichte abgefunden habe, weder zurückgehen zu können, ja auch gar nicht zurückgehen zu wollen, wobei das Verbot, nicht zurückgehen zu können, sehr lange Wut in mir ausgelöst hat, eine Wut, die ich nach und nach und über die vielen Jahre hinweg mit Überlegungen beschwichtigte, dass ich diese Welt da drüben ja schließlich freiwillig verlassen habe, aber was heißt schon freiwillig? Satt hatte ich diesen alles Schöne verschlingenden Moloch. Andererseits gibt es einen Ort, von dem ich nichtleugnen kann, dass es mich zu ihm zieht.

Während ich in den grauen Morgen Berlins hinausschaue, frage ich mich, was zu tun ist. Wenn ich noch heute ginge, wüsste ich nicht einmal, wie ich hinüberkommen könnte. Alle Verbindungen von hier nach dort sind gekappt. Irgendwo müsste ich einen Grenzübergang passieren und dann einen Bahnhof und die Zugverbindung heraussuchen. Nach zehn Jahren Einreiseverbot weiß ich allerdings nicht mehr, von welchem Bahnhof der Zug abfährt. Ich starre auf die Giebel und Dächer der vor mir liegenden Stadt, bis ihre Konturen, im dichten Nebel eingetaucht, verschwinden und auch die Farben völlig verblasst sind. Aus dem substanzlos gewordenen Bild vor mir entsteht allmählich und zunächst noch sehr vage ein Bild, das andere Giebel und Dächer und auch ein paar Türme einer Kleinstadt erahnen lässt. Wie ein Vogel nähere ich mich der Silhouette meines Steintals. Es könnte kurz vor achtzehn Uhr sein, da sich gerade ein Dämmergrau über seine ungleichen Dächer legt. Es scheint, als vermische sich das Dämmergrau mit dem Rauch der Schornsteine, als krieche es die grauen Häuserwände hinab und fülle allmählich die fast menschenleeren Straßen und Gassen. Spatzen flattern im Halbdunkel durch die noch winterlich kalte Luft. Sie steigen, vom Wind getrieben, fallen und setzen sich schließlich auf mehrere schwarze Stromleitungen über einer Kreuzung des kleinen Städtchens…..

 

 

Der Wind ist kaum zu spüren. Kein Glockengeläut. Für die einhundert Kilometer bis in mein Steintal habe ich mit der Bahn vier Stunden gebraucht. Ein Visum war nicht nötig, es gab keine Grenzkontrolle mehr. Die Stufen des Bahnhofgebäudes nehmen meine Beine wie im Traum. Vor meinen Augen fahren scheinbar federleicht wippend drei russische Panzer durch knöcheltiefe Löcher im Asphalt. Der Rauch aus den Schornsteinen der gegenüberliegenden Häuser ist schwarz, die Luft schmeckt nach Ruß. Die Geschäfte in der Bahnhofstraße, eine Drogerie, ein Blumenladen, haben, es ist Samstagvormittag, geschlossen. Die Tür eines weiteren Geschäfts ist mit gekreuzten Brettern vernagelt. Die erste Querstraße erscheint mir zu kurz, die Häuser zu klein. Mehrmals muss ich den Bürgersteig verlassen, eine Absperrung aus dünnen rostigen Eisenstangen, durch Stricke miteinanderverbunden, verhindert ein Weitergehen. Bei der ersten Barriere dieser Art beuge ich mich noch neugierig über die Stricke mit den roten Wimpeln und schaue in ein schwarzes Loch…..

 

 

Der Marktplatz weist kaum Veränderungen auf. Die Backsteinkirche mit den zwei Türmen überragt das Rathaus um das Dreifache. In seine weiß getünchte Fassade hat der Schwamm links und rechts der Renaissancepforte eine bizarre Landschaft ins Weiß gefressen. Beim Anblick der kühnen gotischen Architektur des dahinterstehenden Gotteshauses kann man das und den desolaten Zustand aller den Platz säumenden Häuser übersehen. In einer Straße hinter dem Marktplatz jedoch stockt mir der Atem: unbewohnte, hoffnungslos heruntergekommene einstige Behausungen.

 

 

 

 

Türen fehlen oder sind mit gekreuzten Brettern vernagelt. Fenster wie aufgerissene schwarze Mäuler, noch vorhandene Rahmen zersplittert oder verfault. Von der Feuchtigkeit sind die Putzflächen der Außenwände ineinander gerutscht und sehen aus wie schrumpelige Haut.

Hinter der nächsten Ecke fehlen ganze Häuser. Von einigen Behausungen kann man noch Grundmauern erahnen, weil sich hinter schnurgeraden Steinresten Unrat angesammelt hat. Mein Blick schweift über ein größeres Areal aus Schotter, Steinen und diversen Schlaglöchern, gefüllt mit Regenwasser, aus denen Lumpen, Matratzenteile, Papp- und Papierreste quellen. Daneben leere Bier -und Weinflaschen, alte Kochtöpfe, eine zusammengesunkene Wellblechhütte, ein Fahrradgerippe. Der Wind spielt mit einer Blechdose und ein paar Zeitungsresten. Schnellen Schritts nähere ich mich der nur wenige Meter weit entfernten Hauptstraße. Aber auch hier schaue ich auf mehrere zugrunde gegangene Häuser. Wo eines fehlt, hat man eine Mauer hochgezogen. Auf einer Ruine wankt ein halbes Dach. Der Rest einer Dachrinne steht spitzwinklig von der Ruine ab, als wolle sie sich von jahrzehntelanger Anklammerung befreien. Ich schaue in den grauen Himmel und frage mich, ob dieser Ort von der Sonne beschienen etwas freundlicher wirken würde. Im Blumenladen keine einzige Schnittblume, nur ein paar Grünpflanzen, übriggebliebene Gestecke von Totensonntag und kärgliche Adventsgebinde. Im Fenster nebenan behaupten sich ein paar Hausschuhe und Pantoffeln gegen Staubschichten der vergangenen Wochen, Monate. Auch in der Hauptstraße ist kein Mensch zu sehen. Ausgestorben, alle tot, könnte man meinen, wenn es nicht mächtig aus den Schornsteinen qualmen würde. Durch den Dunst nehme ich etwa fünfzig Meter weit entfernt einen Lichtschein wahr. Wieder beschleunige ich meinen Schritt und erreiche eine Konditorei mit einem Namen, den ich aus meiner Kindheit kenne, wenn gleich sich der Laden damals an anderer Stelle befand. Beim Betreten des Geschäfts staune ich über die vier Frauen. Aus welchem Winkel dieser Stadt sie auch immer kommen, eine steht hinter dem Ladentisch, die übrigen vor mir. Die Verkäuferin setzt gerade mehrere Kuchenstücke mit einer Zange auf eine rechteckige Pappe: Schiffchen, Zitronenschnitten, Leipziger Lerchen….und irgendwie werde ich auf einmal unruhig, zappelig und sehe noch viel mehr Schiffchen, Zitronenschnitten und Eclairs…eines möchte ich haben, nur eins, aber ich habe keinen einzigen Pfennig in der Tasche. Dafür eine Dose Ananas im Nylonbeutel aus dem jüngst gesandten Päckchen von Tante Hilde. Die Dose schiebe ich, als ich dran bin, samt Beutel über den Ladentisch der Verkäuferin entgegen und sage, dass dies für die Ananastorte unserer Familie zum kommenden Freitag ist und ich weiß, was hier alle wissen, ohne diese Zutat von drüben kann die Konditorei keine Ananastorte zu meinem sechsten Geburtstag zubereiten. “Ein Schiffchen“, sage ich, als ich endlich dran bin, „gleich auf die Hand“. Die Verkäuferin setzt auch mein Schiffchen mit der Kuchenzange auf eine schmale Pappe und ich trage dieses kleine Wunder, eine Seite weiß, die andere dunkelbraun, lächelnd aus dem Geschäft. Zwanzig, dreißig Schritte laufe ich mit ihm die Straße hinauf und betrachte es stolz, als hätte meine Hand es dem Grau der Stadt entrissen. Richtiger jedoch ist, dass dieses Schiffchen, bestehend aus Mürbeteig und einer Cremefüllung, zur Hälfte mit Couverture überzogen, das erste Freudengefühl seit meiner Ankunft auslöst. Und dieses Freudengefühl lässt es nicht zu, einfach in die Mitte des Stückes zu beißen, um die Creme und die darin enthaltenen Stachelbeeren zu verschlingen.

Vor dem Denkmal des berühmt gewordenen Schustersohnes der Stadt bleibe ich stehen. „Ist so das Zurückkommen?“, frage ich stumm mein steinernes Gegenüber, „der einzige Sonnenstrahl ein mit Creme gefülltes Stück Kuchen?“ Selbst, wenn dieser Mann lebendig wäre, könnte er mir meine Frage nicht beantworten, denn er hat nach seinem Weggang nach Italien seinen Geburtsort für immer gemieden. Ich beiße durch den Schokoladenüberzug, durch die Cremefüllung und fühle eine Stachelbeere zwischen meinen Zähnen. Ja, es schmeckt und fühlt sich an, wie in meiner Kindheit: etwas rau und sauer, ein wenig süß und sahnig. Wunderbar! Von hier aus sieht die vor mir liegende Hauptstraße, deren Häuser erst vor kurzem weiß, zitronen- oder ockergelb, hellgrün, hellblau oder hellgrau gestrichen wurden, recht freundlich aus. Bei näherem Hinsehen jedoch zeigen sich bereits mannigfache Blasen und Risse in der Farbe. Die Risse offenbaren dunkle, mehrschichtige Tiefen. Ein

Blick von einer Seitenstraße auf den rückwärtigen Teil der Häuser entlarvt den Schwindel: Die Menschen sitzen hinter bunt getünchten Fassaden in ruinierten Behausungen: kein Klecks Farbe hier, dafür fehlender Putz und rissiges Gemäuer, defekte Dächer und kaputte Dachrinnen. Die Menschen sitzen hinter kaschierten Fassaden und beschäftigen sich am Samstagvormittag womit? Es gibt auch in der Hauptstraße kein Restaurant, kein Café, die einzige Eisdiele hat geschlossen. Ob die Menschen am Samstagabend ins Theater gehen? Das Städtchen hat, und das sehe ich, als ich in eine Seitenstraße einbiege, ein imposantes Schauspielhaus bekommen. Wie ich finde, an unpassender Stelle, nämlich fünfzig Schritte vom Bürgersteig eingerückt in einer schmalen Straße. Der einstigen Häuserfront fehlen hier fünf oder sechs Gebäude. Ob sie dem Theater geopfert wurden oder zuvor zusammengesunken sind, interessiert wahrscheinlich nicht einmal ihre einstigen Bewohner, die wegen der Fernheizung und eines Badezimmers in eine Neubauwohnung am Stadtsee gezogen sind.

 

Als ich plötzlich vor dem stattlichen Doppelhaus mit dem ehemaligen Lebensmittelgeschäft im Erdgeschoss stehe, staune ich und ich empfinde eine tiefe Dankbarkeit. Das Haus meiner Kindheit hat der jahrzehntelangen Gleichgültigkeit getrotzt.

 

 

 

 

 

 

 

 

Sabine Auerbach

Ausschnitte aus dem Buch „Unverhoffte Morgengabe“ Literareon 2015

 

 

 

 

 

 

 

1976 Studien- und Berufsverbot in der DDR mit 21 Jahren

1979 Ausreise nach West-Berlin

Text: erster Besuch des Heimatortes Anfang Dezember 89 nach 10jährigem Einreiseverbot