Diktatur als Heimat?: Leben in Potsdam und Ost-Berlin, 1950-1989

von Rainer Eckert   

Ja, ich bin Ostdeutscher. Diese Aussage ist einerseits richtig, andererseits beschreibt sie mich nur unzulänglich. Denn ich bin auch Europäer, Deutscher, Protestant, Wissenschaftler, Museumsmensch, Sozialdemokrat und weiterhin auch demokratischer Sozialist – wenn dieser Begriff auch nur schwer definitorisch zu fassen ist. Aus all diesen Eigenschaften setzt sich meine Identität zusammen, daraus entstehen aber auch für mich verpflichtende Denkweisen und Handlungen. Dazu gehört das Engagement, für die „Werte des Westens“ und die der Friedlichen Revolution – also für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte. Ein geeintes Europa ist mir genauso wichtig wie der Erhalt christlicher Grundüberzeugungen. Immer geht es auch um die Verbesserung unserer Welt, um Frieden, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit und Gleichheit der Menschen.    

Eines war ich aber nie: DDR-Bürger – allerdings nur in meiner Selbstsicht, nicht in der der Herrschenden. So lebte ich 39 Jahre in der DDR, war also formal Staatsbürger dieses Lands, jedoch war die SED-Diktatur nie meine Heimat. Ich bin der Meinung, dass ein Staat, der Bürgerrechte verweigert, auch keine Bürger hat, sondern Einwohner oder Insassen. So war für mich vor 1989/1990 Heimat etwas anderes. Es waren Freunde, Familie und ein Leben, das sich den Anforderungen der Diktatur soweit entzog wie ich es wagte. Geographisch war Heimat meine Geburtsstadt Potsdam, es war die Gegend, die wir als Kinder und Jugendliche mit unseren Fahrrädern erreichen konnten. Auch West-Berlin mit meinen Großeltern gehörte dazu und später dann Ost-Berlin als Studien- und Arbeitsort.[1] Nach der Wiedervereinigung kamen Deutschland und Europa, ja der gesamte Westen, zu meiner Heimat dazu. Für mich war das eine neue Erfahrung.

Die Frage nach einer „Heimat DDR“ entschied sich schon in meiner Kindheit und Jugend. Dabei waren drei Jahre 1961, 1968 und 1972 mit verschiedenen Ereignissen in diesen Zeitspannen ausschlaggebend. Geboren wurde ich 1950 als uneheliches Kind, in einem Spannungsverhältnis meiner Eltern zwischen ergebenem Glauben an den Kommunismus und eine Ablehnung dieser Gesellschaftsform vor einem evangelischen und sozialdemokratischen Hintergrund. Da mein Vater früh starb, fiel die Erziehung zum Kommunisten für mich ab meinem fünften Lebensjahr fort. Jetzt dominierte der Einfluss meiner Mutter, für die die DDR keine Heimat war. Jedoch liebte sie Potsdam und hing an ihrer kleinen Wohnung mit zwei Durchgangszimmern in einem von der Wehrmacht errichteten Altneubaublock und an dem, was sie sich in ihrem Leben geschaffen hatte. Wichtiger waren ihr jedoch ihre Eltern in West-Berlin, mein Großvater, ein Kellner und meine Großmutter, die ihre Familie zeitweilig als Toilettenfrau über Wasser hielt. Dass wir sie jede Woche oder zumindest alle 14 Tage in ihrer Einzimmerwohnung mit der Toilette auf „halber Höhe“ in einem Moabiter Hinterhof besuchten, war für uns selbstverständlich.

Mit dem Bau der Berliner Mauer, den ich in Ost-Berlin miterlebte, war das vorbei und es begann der zermürbende und erniedrigende Kampf um eine Besuchserlaubnis für oder zu meinen Großeltern. Mein Großvater starb, ohne seinen einzigen Enkel noch einmal sehen zu können. Meine Großmutter trafen wir noch bei den Passierscheinabkommen in Ost-Berlin und sie konnte uns auch in Potsdam besuchen. Sie war schwer krank und lebte vielleicht nur noch wegen der Liebe zu uns, und um uns unterstützen zu können, weiter. 1971 starb sie unter ungeheuren Qualen und Schmerzen. Uns blieb nur Wut auf dieses System, dass unsere Familie zerstört hatte. So war 1961 für mich als Elfjährigen von einschneidender Bedeutung. Letztlich begann hier etwas, was für mein weiteres Leben in der Diktatur prägend war. Es war der Hass auf dieses System, der Versuch seinen Ansprüchen so gut wie möglich zu widerstehen und der Wille, sich trotzdem im Leben und später im Beruf zu behaupten.

Das war schon in der Schule schwierig. Zu den Jungen Pionieren ging ich noch freiwillig, der FDJ entzog ich mich so lange es ging. Als die Frage auftauchte, wer denn nun „würdig“ sei das Abitur abzulegen, gab ich doch nach und trat in die Jugendorganisation der SED ein. Ähnlich war es mit der Jugendweihe. Ich ging den für Protestanten oft so typischen Weg eines unguten Kompromisses. Zuerst die Jugendweihe ohne innere Anteilnahme, dann die Konfirmation – mit dem Herzen dabei. Bei der Jugendweihefeier stellte ich mich in die letzte Reihe und sprach das Gelöbnis nicht mit. Besonders mutig war das nicht. Mutiger und gefährlicher war dann später – gemeinsam mit meiner Mutter – die Fälschung der ärztlichen Unterlagen, die ich bei der Musterung vorlegen wollte. Das ging jedoch gut und ich wurde ausgemustert. Ich hätte in der Nationalen Volksarmee nicht eine Diktatur schützen wollen, die nicht meine Heimat war, auch wollte ich im Kriegsfall nicht auf andere Deutsche schießen. Außerdem hatte ich auch ganz einfach Angst vor den in dieser Armee herrschenden unmenschlichen Zuständen.

Schon früh, spätestens in der Erweiterten Oberschule, war auch die politische Denunziation durch Klassenkameraden ein Problem, das mich einzeln aber auch gemeinsam mit Mitschülern mehrfach traf. Dies führte uns, nach einem Treffen mit jungen westdeutschen Christen in Ost-Berlin, bis kurz vor die Relegation von der Schule. Uns retteten prominente Eltern von Mitschülern und ich hatte die Erfahrung gemacht, dass in der DDR Denunziation breit aufgefächert war und durchaus nicht nur über die Staatssicherheit erfolgte. Bis heute wird dies in Forschung, Erinnerung und Medien viel zu wenig beachtet.

Und dann kam mein „Schicksalsjahr 1968“. Es begann damit, dass ich in dem kalten Winter dieses Jahres einen Jungen aus einem Eisloch im Potsdamer Heiligen See zog und so als Lebensretter ausgezeichnet wurde. Dann folgte im Frühjahr die Abstimmung zur „sozialistischen“ Verfassung der DDR. Und auch das war wie so vieles in der Diktatur mit widersprüchlichem Verhalten verbunden. Kurz vor dem Abitur fuhren wir Oberschüler auf einem LKW stehend und Fahnen schwingend durch Potsdam und warben für ein „Ja“ bei der Abstimmung. Niemand wollte sich dieser Aktion verweigern oder wagte dies. Die Potsdamer reagierten desinteressiert oder ungehalten. Dann kam mit dem 6. April der Tag der Abstimmung und ich hatte den Mut, offen im Wahllokal stehend und für alle sichtbar, mit „Nein“ zu stimmen. Dabei ging es jedoch nicht um die Frage der staatsrechtlichen Form einer möglichen Heimat, sondern um die Ablehnung der Diktatur und die verfassungsrechtliche Festschreibung der deutschen Zweistaatlichkeit. Direkte Folgen hatte mein Verhalten für mich nicht.

Die Sprengung der bereits wieder im Aufbau befindlichen Ruine der Potsdamer Garnisonkirche im Mai und Juni 1968 war für mich ein weiteres prägendes Ereignis. Wir versammelten uns als Junge Gemeinde zu einem stummen Protest am Zaun, der das Sprengungsareal umgab. Die Staatssicherheit auf der anderen Seite dieses Zaunes blieb wegen der Anwesenheit westlicher Medien tatenlos, teilte uns aber mit, dass wir ihnen bekannt seien, sie uns heute jedoch unbehelligt lassen würden, wir aber mit späterer Verhaftung rechnen könnten. Am Tag der abschließenden Sprengung fotografierte ich den barbarischen Vorgang und dieses Mal verhaftete mich ein Volkspolizist und „führte mich zu.“ Mehrere Stunden saß ich dann ohne ein Verhör in einer Zelle der Potsdamer Bezirksverwaltung der Volkspolizei. Dann öffnete sich die Zellentür und ich konnte ohne eine Frage oder Begründung gehen. Sogar meinen Fotoapparat, eine primitive Pouva Start, erhielt ich zurück – mit den Bildern von der Sprengung. Auch dies blieb für mich ohne Folgen und ohne Wirkung auf mein Abitur. Nicht anders war es, als wir wegen eines erwarteten Beat-Konzerts zu einer FDJ-Veranstaltung nach Brandenburg an der Havel fahren wollten und dort von der Polizei abgefangen wurden. Mehrere Stunden waren wir im Gastraum der MITROPA eingesperrt und mussten dann zurückfahren. Wieder gab es für mich keine Folgen und ich denke, dass der Überwachungsapparat der Diktatur in solchen Fällen lückenhaft war oder nicht perfekt arbeitete. Jedenfalls spricht auch das gegen die oft vertretene These der lückenlosen Überwachung durch die Geheimpolizei.

Und dann kam der 21. August 1968 mit der brutalen Aggression der Sowjetunion und ihrer Verbündeten gegen die Tschechoslowakei bei ihrem Versuch, einen demokratischen Sozialismus zu errichten. In der Nacht vom 20. zum 21. August saß ich in einem Zug von Budapest nach Ost-Berlin und machte aus meiner Begeisterung für den Prager Frühling kein Hehl. Das half mir später, als der Zugfunk den Überfall verkündete und wir durch die Fenster unseres Abteils die Kolonnen sowjetischen Militärs mit ihren Transportfahrzeugen und Panzern sehen konnten. Jetzt zog eine Gruppe junger Tschechen und Slowaken hoch erregt auf der Suche nach Ostdeutschen durch den Zug – offensichtlich um sie zu verprügeln. Grund war vor allem die Annahme, dass Einheiten der Nationalen Volksarmee direkt an der Aggression beteiligt waren. Dass mir nichts geschah, hatte ich meinen Mitreisenden zu verdanken, die erklärten, dass ich „ein guter Ostdeutscher“ sei. In Prag sah ich dann die protestierenden Einwohner und hörte die Schüsse der Okkupanten und schließlich gelang es mir mit dem letzten noch die Stadt verlassenden Zug wieder Bad Schandau zu erreichen. Einmal mehr wusste ich, dass ich nicht in meine Heimat zurückgekehrt war.

Unsere Träume und Hoffnungen waren zusammengebrochen und in Potsdam fanden wir uns zu einer wieder stummen Protestversammlung gegen die Aggression auf dem Platz der Nationen, dem heutigen Luisenplatz, zusammen. Dazu hatten mutige Studenten der Pädagogischen Hochschule aufgerufen. Die Staatssicherheit registrierte unseren Protest und filmte uns bzw. unsere Gesichter ganz unverhohlen mit Schmalfilmkameras. Später hörte ich, dass die einzelnen Personenfotos ausgeschnitten und in Alben geklebt worden waren, die die Geheimpolizei zur Identifizierung Verhafteten vorlegte. Aber auch dies blieb ohne Folgen für mich und fand auch keinen Niederschlag in den Akten. Für mich selbst war eine selbstgewählte Folge, dass ich meinen Studienplatz als Lehrer für Geschichte und Deutsch an der Humboldt-Universität zurückgab, da ich später in der Schule keine Lügen über geschichtliche Tatsachen und Abläufe verbreiten wollte. So war ich das erste Mal arbeitslos und hatte Glück, dass ich durch persönliche Vermittlung eine Anstellung im Staatsarchiv Potsdam fand. Das eigentliche Leben spielte sich jedoch im „Café Heider“ ab, auf Feten, in Freundes- und Diskussionskreisen. Wäre ich damals gefragt worden, hätte ich dies als meine Heimat bezeichnet. Es war etwas das wohl für den gesamten Osten typisch war und so im Westen nicht existierte.

Nach einem Jahr Arbeit delegierte mich dann das Archiv zum Studium der Archivwissenschaft und Geschichte an die Ost-Berliner Humboldt-Universität. Gleichzeitig war es eine Zeit des Trampens, des Vervielfältigen und Verteilens verbotener Literatur, des Bücherschmuggels sowie des Treffens in oppositionellen Diskussionskreisen. Es ging dabei nicht um die Abschaffung der DDR als Staat, sondern um ihre Reform im Sinne eines demokratischen Sozialismus. Ob dies die DDR zur Heimat gemacht hätte muss offenbleiben. So blieb die schizophrene Situation in einem Land zu leben, dass eben diese Heimat nicht war, gleichzeitig auf Veränderung zu hoffen, aber ebenfalls zu meinen, dass die Situation nicht zu verändern sei und die Diktatur auf „ewig“ Bestand haben würde.

Doch zuerst machte ich ab 1969 die Erfahrungen eines Studiums an der Humboldt-Universität. Aus heutiger Sicht war das Unterrichts-Curriculum nicht schlecht. Anders als heute, wo jeder Dozent das anbietet, woran er gerade arbeitet und Studenten oft bei der Karriere nur schaden, bewegte wir uns einmal durch die ganze Weltgeschichte und alle nur möglichen Hilfswissenschaften. Bedrückend war dagegen das Prokrustesbett  des Marxismus-Leninismus in das alles hineingezwängt wurde, die direkten Lehrveranstaltungen zu diesem Ideologie-Korsett der Diktatur, die unverfrorenen Lügen besonders bei der Vermittlung der Geschichte des 20. Jahrhunderts, der eingeschränkte Zugang zu „bürgerlicher“ Literatur und der Russisch-Unterricht als der Sprache der Besatzungsmacht. Dazu kamen die Arbeitseinsätze und besonders die erzwungene militärische Ausbildung bzw. die Zivilverteidigung. Über allem lastete die Beobachtung kritischen Denkens durch fanatische Dozenten und Kommilitonen und die überall vermutete Bespitzelung durch die Staatssicherheit. Vieles wurde hier nur geahnt und stellte sich nach der Aktenöffnung entweder als übertrieben aber auch als für zu harmlos eingeschätzt heraus.

Ein besonderes Problem war die Beschaffung einer Wohnung oder eines möblierten Zimmers. Die Studentenheime fand ich abstoßend und so wohnte ich jahrelang unter Umständen, die heute kaum vorstellbar sind. Moderne Medien gab es keine, Telefon, Computer oder Vervielfältigungstechnik ebenso wenig oder reglementiert. Heimat war das alles nicht, die bestand wie früher in der Jungen Gemeinde, jetzt in der Studentengemeinde oder im Jungmännerwerk, und in den dissidentischen Diskussionsgruppen sowie den Treffen in den „Oppositionskneipen und -cafés“. Deren Geschichte ist noch nicht geschrieben, ich denke besonders gern an das Ost-Berliner „Café-Burger“ zurück.

Und überall war der Verrat allgegenwärtig. Das führte die Staatssicherheit zuerst in Potsdam auf meine Spur und zur „Operativen Personenkontrolle Demagoge“. Der „OV Demagoge“ wurde dann wegen des Verdachts staatsfeindlicher Hetze und staatsfeindlicher Gruppenbildung geführt. Vor der Haft rettete mich und meine Freunde, dass unter uns die Kinder mehrerer SED-Prominenter waren – so ein Neffe des Politbüromitglieds Erich Mückenberger. Schließlich entschied Staatssicherheitsminister Erich Mielke persönlich: „Keine Verhaftungen im OV-Demagoge – aus politischen Gründen“. Trotzdem zwang mich die Potsdamer Staatssicherheit zu einem ersten Verhör. Das endete mit der Drohung von drei Jahren Haft wegen Spionage – wenn ich meine Verfehlungen gegen „die sozialistische Heimat“ nicht durch Zusammenarbeit gut machen würde. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und lehnte diese Erpressung zur Inoffiziellen Zusammenarbeit mündlich und schriftlich ab. Die mit zittriger Hand geschriebene Ablehnung einer Kooperation mit dem MfS „aus moralischen Gründen“ ist in „meinen“ Akten, jetzt im Bundesarchiv, erhalten. Die Offiziere der Geheimpolizei reagierten gereizt, die von mir erwartete Verhaftung blieb jedoch aus. Stattdessen blickten die Vernehmer in meine Zukunft und sagten mir voraus, dass ich beruflich nie eine Chance bekommen würde, nie reisen könnte und immer am Rand der Gesellschaft dahinvegetieren würde. Daran hielten sie sich und noch 1988 schätzte mich die Staatssicherheit als Staatsfeind, „Sozialismus Verbesserer“ und „Spinner“ ein.

Kurze Zeit vor diesem Erpressungsversuch war ich unter Mithilfe meiner Kommilitonen aus der FDJ ausgeschlossen worden, ich wurde von der Universität ohne zeitliche Begrenzung relegiert und musste mich letztlich drei Jahre in der Produktion „bewähren“. Außerdem war ich wieder monatelang arbeitslos, in der DDR ein gefährlicher Zustand, erkrankte schwer und lebte ohne polizeiliche Anmeldung bzw. Aufenthaltsgenehmigung in Ost-Berlin, letztlich also illegal. Die schließliche Anstellung im Wasserstraßenbau Berlin, wo ich mit dem Fegen eines Werkstatthofes meine Tätigkeit begann, hatte die Staatsicherheit arrangiert und aus meiner heutigen Sicht war es nicht die schlechteste Zeit in meinem Leben. Das eigentliche Problem war, dass ich nicht wusste, ob ich in der DDR jemals wieder würde studieren können.

Durch einen Zufall gelang es mir dann eine Anstellung am Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften zu bekommen. Das waren für mich ein großes Glück und eine Chance. Doch begriff ich erst nach einiger Zeit, dass ich hier an wissenschaftliche Hilfsarbeiten gebunden war und meine Forschungen nachts, an Wochenenden und im Urlaub bewältigen musste. Das galt auch für meine Dissertation, deren Thema einmal geändert und dann ganz gestrichen wurde. Ich musste von neuem Anfangen und bewältigte die Arbeit zur deutschen Besatzungspolitik in Griechenland im Zweiten Weltkrieg neben meinem Broterwerb in knapp zwei Jahren. Das half mir jedoch alles nichts, ich bekam bis kurz vor der Friedlichen Revolution keine Stelle als Wissenschaftler und durfte nicht in den Westen reisen. In die SED einzutreten lehnte ich ab und so hatte ich keine berufliche Chance. Die Staatssicherheit hatte ihr Wort gehalten. Dieses System trieb mich letztlich in die Depression und bis an den Rand des Selbstmordes. Und auch deshalb konnte die DDR nicht meine Heimat werden.

Das führt angesichts der „bleiernen Lethargie“ der 1970er und am Anfang der 1980er Jahre natürlich zu der Frage, warum ich nicht versuchte, aus der SED-Diktatur zu fliehen oder wenigstens einen Ausreiseantrag stellte. Vielleicht war ich ja ganz einfach zu feige, richtig ist aber auch, dass ich die Meinung vertrat, dass ich trotz meines angespannten Verhältnisses zur DDR doch meinen engeren Lebenskreis für meine Heimat hielt. So sollten die anderen von der Macht verschwinden: die Staatspartei samt ihrem ganzen Unterdrückungs- und Bespitzelungsapparates. Die Friedliche Revolution bestätigte diese Haltung, wenn ich selbst auch erst sehr spät in der Endphase der DDR wieder begann, mich politisch und oppositionell zu betätigen.

Bis heute ist mir vollkommen fremd geblieben wie – außer der Gruppe der Träger und Profiteure der Diktatur – Ostdeutsche die DDR als ihre Heimat betrachten können. Der engere Lebensbereich ja, Ostdeutschland als Ganzes kommt dafür in Frage, aber doch nicht die DDR als SED-Diktatur. Darüber hinaus bleibt mir heute noch etwas anderes zu sagen. Vieles, was ich in meinem Leben in der kommunistischen Diktatur lernte und vertrat, ist auch heute gültig. Insofern halte ich es für falsch, wenn immer wieder zu lesen oder zu hören ist, dass die Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung alles neu lernen mussten. Für die Steuererklärung gilt das sicherlich, für anständige menschliche Verhaltensweisen und moralische Überzeugungen keinesfalls. Da erscheint es mir eher so, dass besonders widerständiges Verhalten heute wieder gefragt ist. Damit meine ich jedoch nicht den Widerstand gegen eine notwendige und vernünftige Impfpflicht und gegen Anti-Corona-Maßnahmen, sondern genau das Gegenteil. Heute geht es wieder um die Verteidigung einer richtig verstandenen Freiheit, um Menschenrechte und die Würde des Einzelnen. Und genau dies ist zu erreichen, wenn egoistische Eigeninteressen zugunsten des Wohls der Allgemeinheit zurückgestellt werden. Besonders die Schwachen in unserer Gesellschaft benötigen Rücksicht und Unterstützung. Das muss gelingen, um Deutschland als eine wirkliche Heimat zu erleben.

Anmerkungen:


[1] Das beschreibe ich in meinem autobiographischen Text: Eckert, Rainer: Leben im Osten: Zwischen Potsdam und Ost-Berlin 1950-1990; Biographische Aufzeichnungen. Halle/Saale, 2021. Hier sind auch die Literaturnachweise für meine weiteren Ausführungen zu finden.