Herr von Bülow im Havelland

Politische Brisanz übersehen- Die Pleite der DDR-Staatssicherheit

von Karl-Heinz Baum

 

Es ist wohl eine der schönsten Geschichten zum Thema „Heimat“, die sich 1985 in der Stadt Brandenburg an der Havel abspielte. Die damalige Leiterin des Museums im Dom St. Peter und Paul Gerda Arndt und ihr Mann Alfred atmeten auf. Ihren Brief aus der DDR an den Tegernsee nach Münsing-Ammerland hatten sie 1983 verschickt. Es war ein Brief ins „Feindesland“, wie DDR-Obere die Post über die deutsch-deutsche Grenze in den deutschen Westen nannten. In DDR-Postämtern gab es einen Extra-Raum, in dem Stasi-Leute stets alle Briefe, Pakete und Päckchen prüften und nicht selten öffneten. War nichts zu bestanden, leimten sie das Delikt wieder zu und schickten es an den Bestimmungsort.

Familie Arndt hält schon die Antwort in der Hand. Beiden ist bewusst, dass sie ihre Idee nur mit der Evangelischen Kirche in der DDR verwirklichen können. Doch die Kirche zögert, sie feiert 1983 das Lutherjahr: vor 500 Jahren wurde Reformator Martin Luther geboren. Zudem hatte auch die DDR ein Lutherkomitee gegründet: Vorsitzender war der erste Mann der DDR: der Vorsitzende des Staatsrats und Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands: Erich Honecker. Bis dahin galt Luther in der kommunistischen Geschichte als „Fürstenknecht“. Die Evangelische Kirche hatte alle Hände voll zu tun, dass Luther nicht Nationalheld der DDR wurde.

Das Anliegen der Familie Arndt wurde deshalb erst 1985 verwirklicht. Wie die meisten Menschen in der DDR zwischen Warnemünde und der Wartburg sahen auch sie vor allem Westfernsehen. Sie lachten wie die Westdeutschen über Sendungen mit Vicco von Bülow und Evelyn Hamann über Knollennasenmenschen, über den Fernsehhund „Wum“, über Möpse („Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos“) oder über den Sketch, in dem ein „Erwin Lindemann“ Proben zum Lottogewinn einübt, über „Die Nudel“, die einem Verehrer im Gesicht klebt, die Verehrte sich aber nichts anmerken lässt, oder über die beiden Herren „Müller-Lüdenscheid“ und „Doktor Klöbner“, die in einer Hotel-Badewanne sitzen („Ich bade immer mit dieser Ente“), weil einer im falschen Zimmer ist.

Die Arndts sehen viele Sendungen mit dem Karikaturisten, Humoristen und Satiriker, der sich nach dem Familienwappen „Loriot“ nennt, französisch nach dem Vogel Pirol. Ihnen fällt auf, dass er häufig erwähnt: „Ich bin in Brandenburg an der Havel geboren.“ Das hatte sie 1983 auf den Gedanken gebracht, einen Brief über die deutsch-deutsche Grenze an Vicco von Bülow zu schreiben. Sie luden ihn in seine Heimatstadt ein und wollten eine Ausstellung organisieren. Die DDR-Staatssicherheit übersieht diesen Kontakt offenbar, womöglich weil der zuständige Mensch annimmt, der Adressat mit adligem Namen sei gewiss einer der nach 1945 aus der Sowjetischen Besatzungszone vertriebenen Junker oder deren Nachfahre. Er ahnt nicht, dass der Brief einen gut bekannten Westdeutschen erreichen soll.

Die Antwort kam schnell. Loriot, der nie in der DDR gelebt hat, war Feuer und Flamme, diese Idee zu verwirklichen. Auch ihm war klar, dieser Plan werde nicht einfach sein. Doch die Umstände waren günstig. Albrecht Schönherr, Berlin-Brandenburgischer Altbischof, war einer der Domherren in der Stadt Brandenburg. Dompfarrer Heinz Hoffmann war zugleich Vorsitzender des Evangelischen Kunstdienstes in der DDR.

Domherr Schönherr gehörte zu jenen Kirchenoberen, die die DDR-Grenzen ohne Kontrolle passieren durften. Er fuhr an den Starnberger See und holte Ausstellungsstücke. So wurde ein bürokratisches Einfuhrverfahren umgangen. Die DDR sollte auch später nicht die Stücke beschlagnahmen und so die Ausstellung verhindern können. Es gab eine Hintertür für eine legale Einfuhr: die „Selbstanzeige“. Angehörige des DDR-Zolls begutachteten 67 Originalzeichnungen und Schallplatten, Fotos, Fotomontagen, die fast alle in Loriots Büchern aus dem Diogenes-Verlag stehen. Der Zoll hatte nichts auszusetzen. So ging alles seinen Gang. Die Ausstellung sollte am 18. Mai 1985 öffnen und am 3. August schließen, wurde aber bis zum 1. September verlängert.

Schon im Februar informierte Hoffmann die Stadtverwaltung. Der Künstler Vicco von Bülow alias Loriot komme im Mai in die DDR, will Oberbürgermeisterin Elvira Lippitz seine Referenz erweisen und es solle im Dom eine Ausstellung geben. Zugleich bat Hoffmann brieflich um die Druckgenehmigung für Plakate und 250 Einladungen. „Druckgenehmigung“ war in der DDR ein Zensurinstrument. So wussten staatliche Stellen, was mit welchem Inhalt wo gedruckt wurde.

In der Stadtverwaltung war Loriot ziemlich unbekannt. Hoffmann drang nicht bis zur Oberbürgermeisterin vor, ihn empfing die Stadträtin für Innere Angelegenheiten Roswitha Neuhaus. Sie gab zwei Monate später zu Protokoll, dass ihr „dieser Name unbekannt gewesen“ sei. Besser hätte die Funktionärin kaum sagen können, dass sie eine staatstreue DDR-Bürgerin sei: sie sah offenkundig kaum Westfernsehen. Immerhin schrieb ihr Kulturstadträtin Gisela Rankewitz, bei Loriot handele es sich „um einen Charikaturisten (!) aus der BRD“. Von ihm sei auch ein Buch in der DDR im Berliner Eulenspiegel-Verlag erschienen. Neuhaus bat die Kollegin, den Rat des Bezirks in Potsdam zu informieren und nachzufragen, „um mehr über diesen Künstler zu erfahren“. So steht es in ihren Brief an den 1. SED-Kreissekretär in Brandenburg/Havel vom 8. 7. 1985. „Hinweise zur Bedeutung dieses Künstlers Loriot und der Ausstellung habe ich nicht erhalten.“ Die SED-Bezirksleitung in Potsdam teilte nur mit, gegen die Ausstellung im Dom sei nichts einzuwenden. Druckgenehmigungen solle es weder für Plakate noch Einladungen geben. Auch dort hatte man offenbar keine Ahnung über den Künstler vom Tegernsee.

Schon diese Zeilen zeigen, warum aus DDR-Sicht ziemlich alles falsch lief, aus Sicht der Kirche und Loriots aber alles in der Spur war. Allerdings überlegten staatliche Stellen wenige Tage vor Beginn der Ausstellung, das Ganze zu unterbinden. In einem handschriftlichen Vermerk hielt Pfarrer Hoffmann fest: „Jetzt ziehen wir das durch!“ Mit so viel Unerfahrenheit über Loriot hatte auf kirchlicher Seite kaum einer gerechnet. Man nahm zur Kenntnis, es gebe keine Druckgenehmigung. Loriot ließ Einladungen im Westen drucken und sorgte dafür, dass sie nach Brandenburg kamen. Handgefertigte Plakate wurden auf dem Domgelände ausgehängt. Doch auch ohne diese Aktionen wäre wohl geschehen, was die SED wirklich in Rage brachte: die unglaubliche Besucherzahl.

Der Dom hat 850 Sitzplätze, aber an diesem 18. Mai war kein Stehplatz, kein winziges Eckchen mehr frei. Beobachter schätzten mindestens 1500, wenn nicht 2000 Menschen. Solch außergewöhnliche Veranstaltungen meldete in der DDR der „Buschfunk“, die Flüsterpropaganda, die kein wie auch immer ausgeklügeltes Überwachungssystem unterbinden konnte. Noch heute erzählt man sich in Brandenburg, der SED-Bezirkschef Günter Jahn sei „ziemlich erbost“ gewesen, dass die Behörden in Potsdam nicht in die Vorbereitung der Veranstaltung eingebunden waren.

Erst in Tagen und Wochen nach dem 18. Mai arbeiteten DDR-Stellen auf, was alles geschehen war und untersuchten die Informationspannen. Es war schon peinlich, dass die Potsdamer Behörden nichts davon wussten, dass der DDR-Staatssekretär für Kirchenfragen Klaus Gysi (Vater des heutigen „Linke“-Politikers Gregor Gysi) und der Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR Hans Otto Bräutigam kamen. Schönherr hatte sie eingeladen. Der Chefredakteur der DDR-Satirezeitschrift „Eulenspiegel“ Karl Kultzscher war der Festredner. Er brachte die beiden DDR-Karikaturisten Renate Holland-Moritz und Peter Bofinger mit.

Doch von der politischen Prominenz am Ort war nur die Kulturstadträtin da. Dafür hatte Neuhaus gesorgt. Schon als Hoffmann die Einladung übergab, erklärte sie, die Oberbürgermeisterin sei da in Urlaub und sie selbst auch; die Kulturstadträtin werde den Künstler im Rathaus empfangen und zur Ausstellung kommen.

Begonnen hatte es an diesem sonnigen Maientag schon am späten Nachmittag im Pfarrgarten im Schatten des Doms. Loriot plauderte mit angereisten Journalisten, eine Handvoll aus dem deutschen Westen – von dpa über den Deutschlandfunk bis zur „Frankfurter Rundschau“ – die anderen aus der DDR von der „Jungen Welt“ bis zu Kirchenzeitungen. Er erzählte über Schönherrs Besuch: „Es war für mich eine ganz neue Erfahrung, dass ein so hoher Kirchenmann sich traut, in meinen Zeichnungen zu wühlen um dann zu sagen: ‚Das nehmen wir!‘ oder: ‚Das finde ich gar nicht komisch!‘

Bernhard-Viktor Christoph-Carl von Bülow wurde am 12. November 1923, einem Montag, in Brandenburg/Havel geboren. Als er vier Jahre alt war, zogen die Eltern in „Brandenburgs Vorort Berlin“, wie er es 1985 nannte. Loriot besuchte seine Geburtsstadt Brandenburg zum ersten Mal seit fast sechzig Jahren. Für ihn ging ein Traum in Erfüllung:

„Das ist wie Weihnachten, Ostern und Geburtstag an einem Tag. Das ist etwas Ungeheuerliches. Ich beneide jeden, der in seiner Heimat wohnen bleibt und eine große Kontinuität mit seinem Wohnort verbindet und dort lebt. Aber: er weiß nichts von dem Gefühl, was es bedeutet, nicht zu Hause zu sein und nach langer Zeit wieder dorthin zu kommen, weil der Gedanke an die Heimat, die man so lange nicht sieht, sich mit einer Gloriole, mit einer Vergoldung der Kindheit verbindet, die etwas ganz Unbeschreibliches ist, das hat etwas ganz Romantisches, was man sonst vielleicht nur in Romanen liest. Und das erlebe ich. Das erlebe ich hier! Das kann ich in ein paar Worten nicht beschreiben.“

In den Tagebüchern der frühverstorbenen Mutter hatte er gelesen, dass der Besitzer des Kaufhauses Flakowski ihn als Zweijährigen auf dem Arm der Mutter ganz reizend gefunden habe und ihm einen Teddybären schenkte. „Und nun stehe ich plötzlich seitdem zum ersten Mal vor dem Kaufhaus Flakowski – das gibt es ja noch – und weiß: von hier kam der weiße Teddybär! Die Tage in der Stadt Brandenburg sind wahrscheinlich eines der eindrucksvollsten Erlebnisse meines nicht so ganz kurzen Lebens. Ich bin betroffen von der Schönheit dieses Landes. Was ich in diesen Tagen erlebe, geht über das Herz; so etwas kann man nicht in eine satirische Form kleiden.“

Da steht ihm der Höhepunkt, der Auftritt im Dom noch bevor. Die vielen Menschen, die sich dort drängeln, wollen ihn, den sie aus dem West-Fernsehen kennen, persönlich erleben und ein Autogramm ergattern. Doch erst reden die Macher. Gerda Arndt für das Dommuseum, Domherr Albrecht Schönherr erinnert an den 18. Mai als Weltmuseumstag. Karl Kultzscher sagt: „Loriots Zeichnungen machen den Menschen das Leben lebenswerter.“ Er verspricht, „Das dicke Loriot-Buch“, in der DDR 1977 erschienen und längst vergriffen, werde demnächst in dritter Auflage erscheinen. Dann hätten auch die Anwesenden eine Chance, es zu erwerben. „Denn inzwischen haben es wohl alle Buchhändler, alle Autoschlosser und alle Lieferanten gespundeter Bretter!“ Ein versteckter Hinweis, dass das Buch ohnehin nur als „Bückware“ unterm Ladentisch zu haben war und nur zu haben sein wird: als Gegenleistung für einen schnellen Termin einer Autoreparatur oder das Beschaffen von Brettern.

Als Loriot die Stufen im Dom hinaufgeht, brandet minutenlang Beifall auf; in einer Kirche kaum üblich. „Meine lieben, lieben Brandenburger!“ Nach dieser Anrede klatschen alle erneut: „Es hat für mich überhaupt nichts Wichtigeres gegeben als diesen Tag heute. Ich möchte darum dem lieben Gott und anderen wichtigen Institutionen in diesem Lande von Herzen danken für ihre wohlwollende Duldung (Lachen und Beifall, auch SED-Genosse Klaus Gysi lacht). Ich bin in diese Stadt gefahren, in der ich geboren bin, im Taufregister von St. Gotthard steht mein Name. Sie werden wissen wollen, was ich empfunden habe, als ich hierhergekommen bin. Es ist zweierlei. Es ist Respekt und Liebe. Und ich glaube, dass wir mit diesen beiden Begriffen so manchen Komplikationen leicht beikommen können. Ich danke vor allem dieser Stadt, dass sie mich aufgenommen hat wie einen nicht verlorenen Sohn. Ich möchte Ihnen sagen, dass ich stolz darauf bin, einer von ihnen, ein Brandenburger, zu sein.“ (wieder großer Beifall)

Bei den Journalisten erkundigt sich Loriot später scheinheilig, ob er mit der Bemerkung „Gott und andere wichtige Institutionen“ gegen in der DDR übliche Rangordnungen verstoßen habe. Er wusste ja nicht, dass ausgerechnet der SED-Politiker Gysi an dieser Stelle sehr laut gelacht hatte. Für Loriot begann erst nach der Veranstaltung die Arbeit: er musste unermüdlich Autogramme geben. Einige hielten ihm „Das dicke Loriot-Buch“ entgegen. In einem stand: „Das begehrteste und gefragteste Buch der siebziger Jahre, dennoch errungen von …“ Es war ein Hochzeitsgeschenk, das nun mit Loriots Widmung höhere Weihen bekam.

„So etwas hat unser Dom in seiner 800-jährigen Geschichte noch nie erlebt“, kommentierte damals ein älterer Besucher die Veranstaltung. „Eine Sternstunde, eine Sternstunde für Brandenburg!“ ergänzte an jenem Tag eine 20-jährige in Jeans und T-Shirt. Loriot blieb noch ein paar Tage in der Stadt.

Der Leiter der Ständigen Vertretung Bräutigam schreibt in seinen Erinnerungen, die Anerkennung und Zuwendung, die Loriot „den Brandenburger Mitbürgern entgegenbrachte, hatte sie zutiefst berührt. So etwas hatten die Menschen hier noch nie erlebt, aber insgeheim lange entbehrt. ‚Respekt und Liebe‘ war die Losung des Tages. Sie berührte den Kern der Deutschlandpolitik, wie Loriot sie verstand. Er hatte recht. Es waren Anerkennung und Zuwendung, die wir unseren ostdeutschen Landsleuten schuldeten. Niemand hat das schöner und bewegender zum Ausdruck gebracht als Loriot im Dom zu Brandenburg.“ (Hans Otto Bräutigam: „Ständige Vertretung. Meine Jahre in Ost-Berlin“ Hamburg 2009)

Für die staatlichen DDR-Stellen und die Staatssicherheit kam das dicke Ende erst, als alles vorbei war. Sie merkten, was das für eine hochpolitische deutschlandpolitische Veranstaltung war. Bis dahin hatten sie die Loriot-Ausstellung unterschätzt, hatten sie für eine kirchliche Veranstaltung mit einem in Brandenburg geborenen, in der DDR kaum bekannten BRD-Künstler gehalten, zu der wohl kaum zweihundert Leute kommen – ein kleines Häuflein im großen Dom.

Die Stadträtin für Inneres ahnte, was kommen könnte. Neuhaus schrieb in ihrer Rechtfertigung am 8. Juli (lange Sätze waren im DDR-Funktionärsdeutsch üblich): „Als mich noch am 18.05.1985 Kollegin Dr. Rankewitz persönlich über den Verlauf der Ausstellungseröffnung informierte, war ich sehr befremdet darüber, dass ich nicht über den Besuch der Persönlichkeiten und der damit verbundenen Aufwertung einer nichtreligiösen Ausstellung im kirchlichen Raum vorher informiert war und zweitens darüber verärgert, dass trotz frühzeitiger Information an die verantwortlichen staatlichen Organe die zuständigen Fachleute im Bereich der Kultur keinen Hinweis über die Resonanz des Künstlers „Loriot“ gegeben hatten. Diesen meinen Standpunkt habe ich sofort dem Stellvertreter des Vorsitzenden für Inneres des Rates des Bezirks, Genossen Salinger, dargelegt und Mitteilung an den 1. Stellvertreter der Oberbürgermeisterin gemacht.“

Tags darauf schreckten die Berichte der westdeutschen Korrespondenten in Zeitungen und im Funk den Zentralen Operativstab („ZOS“) im Ministerium für Staatssicherheit in Berlin auf. Stasiminister Erich Mielke rief sofort in Potsdam an: Die Stasidienststelle der Stadt Brandenburg musste erklären, was da eigentlich am Wochenende im Dom zu Brandenburg los war. Ihr Fernschreiben an den Zentralen Operativstab in Berlin vom 20. Mai 1985 liest sich so: „Die Veranstaltung fand am 18.5. um 18 Uhr im Brandenburger Dom statt. Sie beinhaltete eine Ausstellung des in Brandenburg geborenen, nun in der BRD lebenden Künstlers Vicco von Bülow, genannte(!) ‚Loriot‘. Ursprünglich sollte sie bereits 1983 anlässlich seines 60. Geburtstages durchgeführt werden. Organisator war die Kirchenleitung Berlin-Brandenburg, personifiziert durch Dr. Hoffmann (verantw. für den Bereich Kunst/Kultur). Von der Kirchenleitung wurden etwa 150 Einladungen verschickt. Weitere etwa 100 Einladungen wurden von der Brandenburger Kirchenleitung zum Versand gebracht. Genehmigt war die Veranstaltung als geschlossene Veranstaltung. ... Die Ausgangsinformation orientierte auf 150 geladene Gäste.“

Wie üblich hatte die Stasidienststelle in Brandenburg an der Havel Inoffizielle Mitarbeiter (IM) eingesetzt. Einer kümmerte sich um die Prominenten und was wer im Dom zu sagen hatte und notierte, „die Veranstaltung verlief ohne Vorkommnisse, ohne Anspielungen oder Ausfälle gegen unseren Staat“. Ein anderer fragte die Redakteurin der „Jungen Welt“, wie sie von der Veranstaltung erfahren habe. Antwort: „Das Gerücht habe im Eulenspiegel-Verlag kursiert, da bin ich einfach losgefahren.“ Ein dritter IM bemerkte, dass Autos „aus allen Bezirken der DDR“ in der Nähe des Doms standen und sechs Wagen akkreditierter westlicher Journalisten, die blaue Kennzeichen hatten. Er monierte, dass offiziell Eingeladene einfach andere Interessierte mitbrachten und dass es keine Einlasskontrollen gebe. In Kirchen ist das auch nicht üblich.

Die Staatssicherheit der DDR fragte am 13.6. Dompfarrer Hoffmann, warum die Kirche nicht um Genehmigung gebeten habe. Antwort: Weil die Veranstaltung innerhalb des Doms stattfand, habe man keine Genehmigung eingeholt und sie auch nicht angemeldet. Er sehe sie als „innerkirchliche Veranstaltung.“ Dem Vorhalt, die Ausstellung habe keinen religiösen Charakter gehabt, widersprach er: Von Bülow sei ein gebürtiger Brandenburger. Die Kirche habe „damit ein bisschen Vergangenheit dokumentieren wollen“. Er möchte aber nicht, dass es „dadurch jetzt zu irgendwelchen Missverständnissen“ zwischen Staat und Kirche komme.

Zur gleichen Zeit kommt eine Analyse der Bezirksverwaltung Potsdam der Staatssicherheit – Abteilung XX/7 – zur selbstkritischen Erkenntnis: „Die zu vorliegendem Sachverhalt geführten Überprüfungen lassen eindeutig den Schluß zu, daß sowohl zentrale als auch örtliche staatliche Organe von der geplanten Ausstellung rechtzeitig Kenntnis erhielten, es aber verabsäumten, entsprechenden Informationspflichten nachzukommen. Die Ausstellung wurde offenkundig als rein innerkirchliche Veranstaltung angesehen. Die politische Brisanz und ihr möglicher kulturpolitischer Stellenwert für die DDR wurde (!) nicht richtig eingeschätzt und damit indirekt der Kirche die Initiative überlassen.“

Die Stasiuntersuchungen zogen sich noch einige Wochen hin. Am 18. Juni wurde DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker informiert, unter Punkt 4 eines Schreibens des Rats des Bezirks Potsdam heißt es: „Diese Veranstaltung war seitens der Kirche von vornherein im innerdeutschen Sinne angelegt und bekam einen gesamtdeutschen Anstrich. Das ganze Vorhaben war in keiner Weise abgestimmt worden. So wurde die Bezirksleitung vor vollendete Tatsachen gestellt. Seit Jahren treten wir gegen den Missbrauch kirchlichen Raumes für nichtkirchliche Zwecke auf. Dieses kirchenpolitisch bewährte Prinzip wurde durch den Präzedenzfall dieser Ausstellung durchlöchert und seine Aushöhlung durch die Anwesenheit des Staatssekretärs für Kirchenfragen und Vertreter zentraler Redaktionen (Eulenspiegel-Verlag) toleriert. Aus bezirklicher Sicht wird es künftig schwerer sein, destruktive Vertreter der Kirche zu veranlassen, auf nichtreligiöse Veranstaltungen mit politisch abträglichem Charakter zu verzichten.“ Aus dem Büro Erich Honecker 18.6.1985

Die Befürchtung war begründet. Genau das geschah im Herbst 1989, nicht nur in Brandenburg an der Havel, sondern in vielen Kirchgemeinden zwischen Ostsee und Erzgebirge. Die Menschen blieben nicht mehr in den Kirchen, sondern gingen auf die Straßen. Viele andere schlossen sich an. Sie beendeten damit die Macht der DDR-Staatssicherheit und bereiteten so die deutsche Einheit am 3. Oktober 1989 vor. So eine Pleite hat die Staatssicherheit selten erlebt.

Bereits vor und vor allem nach Loriots Tod am 22. August 2011 gibt es nicht nur in Brandenburg an der Havel Gedenkstätten für den Humoristen. Inzwischen gibt es dort einen Loriot-Pfad: er führt von seinem Geburtshaus über die Taufkirche und das Kaufhaus Flakowski zum Dom. Am Altstädtischen Markt sitzt bereits Loriots Erfindung des Herrn Müller-Lüdenscheid als holzgeschnitzte Figur und begrüßt die Gäste der Stadt. Der Kulturverein Brandenburg an der Havel hat zudem Loriots Möpse „ausgewildert“; die bronzenen, gehörnten, 50 Zentimeter großen Waldmöpse finden sich an vielen Stellen in der Innenstadt, vor allem nahe der Brücken über die Havel. Es werden jedes Jahr mehr. In mehreren deutschen Städten gibt es, so in Bremen und in Stuttgart, nach Loriot benannte Straßen. Auch sie werden jedes Jahr mehr.