Zwischen Sehnsucht und Grauen: eine Annäherung an das schwierige Konzept „Heimat“ in Ost und West

Von Gunther Hirschfelder

Heimat: ein vielschichtiges und schwieriges Wort, weil es in seiner Bedeutung nie neutral ist. Wer von Heimat spricht, meint meistens eine – und zwar seine eigene – Herkunftsregion, aber in einem positiven, gewissermaßen verklärten Sinn. Nimmt man die begriffliche Ebene stärker ins Visier, zeigen sich Problematik und Unschärfe des Konzepts Heimat deutlich: In alltagssprachlicher Hinsicht kann der Terminus sowohl politisch als auch historisch oder individuell konnotiert sein; irgendwie bedeutet Heimat für jeden etwas anderes. Dabei zeigt die Popularität des Begriffs in der Gegenwart eindrücklich, dass er für breite Bevölkerungsteile sinn- und orientierungsstiftend wirkt. Der Tübinger Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger leistete auch bei der Diskussion des Heimatbegriffs Bahnbrechendes, denn er löste ihn aus den Fängen einer verkrusteten Volkskunde. Für ihn war vor allem die orientierungsstiftende Funktion wichtig: Über einen festen räumlichen Bezug, aber auch eine vertraute soziale Umgebung – etwa Familie, Nachbarn oder Vereine –, könnten Menschen Sicherheit, Verlässlichkeit und Überschaubarkeit erleben. Hingegen stellte die Kulturwissenschaftlerin Ina Maria Greverus den Begriff „Identität“ in den Mittelpunkt. Heimat war für sie eine wesentliche Bezugsfläche, die Menschen benötigen, um eine eigene Identität zu entwickeln. Greverus schreibt Heimat eine Orientierungsfunktion zu, die soziale Bedürfnisse der Sicherheit und der Vertrautheit befriedige. Heimat verfüge damit über eine dreifache Struktur: Sie entfalte sich als individuell empfundene „heile Welt“ zwischen den Polen Gemeinschaft, Raum und Tradition. Damit gewinnt Heimat auch noch eine zeitliche Ebene.

Diese kulturwissenschaftlichen Zugänge bauen eine Brücke zur Interpretation eines spezifischen Heimatverständnisses in DDR und BRD, das im Folgenden näher beleuchtet werden soll. Heimat ist eben nicht nur ein Ort, Heimat sind auch Menschen – Schulfreunde, Kolleginnen, Großeltern –, die in einen emotional aufgeladenen Erfahrungsraum eingebunden sind.

Heimat, so wird deutlich, manifestiert sich in vier Dimensionen: Sie verfügt erstens über eine räumliche Dimension, bezieht sich also in der Regel auf einen bestimmten Ort. Sie verfügt zweitens über eine soziale Dimension; es handelt sich um eine Lokalität, die man mit der Sicherheit einer Gemeinschaft assoziiert. Heimat weist drittens eine zeitliche Dimension auf: Oft denkt man nostalgisch an seine Heimat zurück. Damit verfügt sie viertens über eine emotionale Dimension. Der Heimatbegriff erfüllt damit kulturell bestimmte Funktionen: Einerseits schafft er Orientierung durch Vertrautheit, andererseits ermöglicht er die Herausprägung einer eigenen Identität sowie die Herausbildung von Gruppenidentität durch das gemeinsam Erlebte an einem bestimmten Ort.

 

Bedeutungswandel im Zuge der Industrialisierung

Heimat bleibt ein schillernder Begriff. Die Konturen des Phänomens werden deutlicher, wenn man die Genese des Terminus einer näheren Betrachtung unterzieht. Im 19. Jahrhundert war Heimat zunächst der Gegensatz zur Fremde. Heimat reichte dabei vom Haus über die Region bis zum Landstrich. Dabei hatte Heimat zunächst auch eine rechtliche Bedeutung, denn Heimat knüpfte sich als juristischer Begriff zunächst an den Besitz von Haus und Hof. „Heimat“ war also ganz nüchtern dort, wo man über Grundbesitz verfügte. Dieser Grundbesitz – Heimat im juristischen Sinn – ließ sich vererben, man konnte ihn allerdings durch Verkauf ebenso verlieren. Taglöhner, Bettler und Vagabunden galten als heimatlos, denn sie waren nicht in Besitz von eigenem Grund. An dieses Verständnis von Heimat knüpfte sich ein ganzes Spektrum anderer Rechte, etwa das Bürgerrecht, das Heiratsrecht, der Anspruch auf obrigkeitliche Unterstützung oder verschiedene Arbeitsrechte.

Ein erster markanter Wandel des Heimatbegriffs setzt an dem Punkt ein, als die Modernisierung der Arbeitswelt, insbesondere der ländlichen Bevölkerung, im 19. Jahrhundert eine zunehmend hohe Mobilität abforderte. Dem Soziologen Hartmut Rosa zufolge liegt die Ursache für die emotionale Aufladung des vormals neutral-juristischen Heimatbegriffs in den sich rasch verändernden Beziehungsgeflechten zwischen Mensch und Welt und dem Wegfall vertrauter traditioneller Ordnungen. Der Bedeutungswandel des Terminus hin zu einer nostalgisch-leidenschaftlichen Vokabel sei ein „Ausdruck der durch Beschleunigung erzeugten Entfremdungsangst“.

Im Zuge der Urbanisierung und Industrialisierung wurde Heimat Ende des 19. Jahrhunderts stärker mit der ländlichen agrarromantischen Sphäre assoziiert, dem Gegensatz zur bedrohlichen, anonymen Großstadt. Dass sich vor allem städtisches Bürgertum auf die Suche nach Heimat in einer vermeintlich ursprünglichen, als idyllisch gezeichneten ländlichen Dorfgemeinschaft begab, ist ein Motiv, das die Auseinandersetzung mit Heimat bis heute prägt. Einhergehend mit der Romantisierung des vermeintlich „Ursprünglichen“ erhielt der Heimatbegriff auch seine politische Konnotation. Gerade das national-konservative Milieu des Kaiserreichs erkannte im ländlich-emotional besetzten Terminus einen bewahrenswerten Orientierungspunkt. Das hiermit verbundene Ursprüngliche, Authentische, Naturwüchsige, bisweilen Harte konnte so auch als ethisches Ideal dienen.

 

Vom nationalsozialistischen Kampfbegriff zur Heile-Welt-Vokabel

Spätestens in der Zeit des Nationalsozialismus griff man die erstarkte national konnotierte Heimatpolitik in einer regelrechten Heimatindustrie mit Dutzenden von Filmen, Initiativen und Liedern auf. Die regional-nationale Komponente des Begriffes, wie sie in der Kulturpolitik des Kaiserreiches vorformuliert wurde, gewann in der Blut-und-Boden-Ideologie eine rassische Komponente, die Heimat nun mehr nicht allein geographisch besetzte, sondern ethnisch; Heimat war auf diese Weise zugleich ein Instrument der Ausgrenzung und der Eroberung.

Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs erlebte das Konzept „Heimat“ eine neue Konjunktur: Angesichts zerschlagener Familien, zerbombter Städten, Kriegstraumata und eines kollektiv empfundenen Gefühls der Schuld ergriff die Politik Maßnahmen; der Bewahrung und Weitergabe von Trachten, Liedern, Tänzen und Bauten kam hierbei eine orientierungsstiftende Funktion zu. „Heimat“ stillte das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Vertrautem und Identität und diente als zentrales Sujet zahlreicher Heimatfilme wie „Der Förster vom Silberwald“ (1954), die nach dem Krieg die Sehnsucht nach Unschuld, Idylle und heiler Welt stillten. Aber unter der Decke der Gemütlichkeit brodelte es: Mit dem Aufbruch der wilden Sechziger, als angelsächsische Musik und schließlich der revolutionäre Geist der „Achtundsechziger“ ein neues Lebensgefühl schufen, erhielt Heimat eine miefige und reaktionäre Konnotation. Diese negativen Assoziationen verschärften sich in den 1970er- und 1980er-Jahren; Heimat wurde zum Kampfbegriff einer BRD-Jugend, die sich in hohem Maße zu einer linksalternativen Gesinnung bekannte. Heimat, das war der Feind, das waren die Ewiggestrigen, die Volkstümelnden, die Ausländerfeinde. Für die Verfechter des Fortschritts war Heimat gleichbedeutend mit den Parteien CDU und CSU, die gewissermaßen das Sinnbild des Übels verkörperten.

 

 

 

„Heimat“ in der DDR – Naturidealisierung und Ostalgie

In der DDR war das Verhältnis zur „Heimat“ wesentlich komplexer. Die Führung bestand aus einer bunten Mischung: Kosmopolitische Revolutionäre und kleinbürgerliche Apparatschiks vereinten sich zu einer problematischen Elite. Wie gut, dass der große Bruder Sowjetunion die Marschrichtung vorgab. Die DDR-Führung verordnete Liebe zum sozialistischen Vaterland, fertig. Doch hatten die Menschen dabei ein eher eigensinniges Verhältnis zu ihrer Heimat: Warum war das Lied „Unsere Heimat“, komponiert von Herbert Keller und Hans Naumilkat und 1951 von der Pionierorganisation Ernst Thälmann an den Start gebracht, so erfolgreich? Es wurde schließlich zu einem der meistgesungenen Lieder im Osten Deutschlands. Die Antwort ist einfach: Einmal trug es dem Wunsch Rechnung, gewissermaßen korrekt und unschuldig einem positiven Verhältnis zum Herkunftsraum Ausdruck zu verleihen; der Heimatbegriff stellte in diesem Sinne eine Abgrenzungsmetapher zum Nationalsozialismus dar, da er durch den Raumbezug vom völkischen Gedankengut entkoppelt schien. Aber das Lied griff auch ältere Traditionen auf, die in der Romantik und ihrer Naturidealisierung wurzeln: Besungen werden „die Tiere der Erde“, „die Vögel in der Luft“, „die Fische im Fluss“, „die Bäume im Wald“ und das „Korn auf dem Feld“. So nimmt es kaum wunder, dass diverse Künstler „Unsere Heimat“ immer wieder neu aufgriffen – auch in der Wendezeit, als Angelika Weiz 1989 eine kritische Neuinterpretation vorlegte, die dann auf der erfolgreichen Langspielplatte „Heimat“ erschien. Wir erkennen an diesem Beispiel, dass man in der DDR mit dem Heimatbegriff rang, weil sich in ihm das dissonante Verhältnis zu Raum und Staat spiegelte.

Um den Begriff „Heimat“ ist es dann nach 1989 eher ruhig geworden; Heimat klingt nach Bekenntnis, und das war gerade in den neuen Bundesländern schwierig, während sich der Westen im Erfolg des Neoliberalismus suhlte. Gleichwohl zeugten populäre Filme wie „Sonnenallee“ (1999), „Good Bye, Lenin!“ (2003) oder „Herr Lehmann“ (2003), welche die vergangenen DDR-Alltage aus ostdeutscher Perspektive beleuchten, von einer seit Beginn der 1990er-Jahre aufkeimenden Ostalgie – einer Wortneuschöpfung aus „Osten“ und „Nostalgie“. Die damit bezeichnete Sehnsucht nach dem Leben vor dem Mauerfall manifestierte sich im Hype um DDR-Produkte und -Symbole, die in Supermärkten zum Kauf angeboten wurden; sie sollten dem empfundenen Identitätsverlust zumindest in materieller Hinsicht entgegenwirken. Freilich wehrten sich viele Ostdeutsche angesichts der Unfreiheit und Unterdrückung, die sie im sozialistischen Regime erfahren hatten, gegen den ostalgischen Trend. Heute findet sich sowohl in den neuen als auch in den alten Bundesländern eine breite Palette von Heimatdeutungen, die von grünen Ansichten bis hinein ins braune Spektrum reicht: Konzepte von Heimat finden sich in Events wie dem „Heimatliebe“-Festival, das seit 2017 mit großem Erfolg im bayerischen Regensburg stattfindet, in TV-Formaten wie „Heimatrauschen“ im Bayerischen Rundfunk oder in parteipolitischen Vereinnahmungen.

 

 

Aufbruch zu neuen Heimathorizonten?

In den 2010er-Jahren entstand der Eindruck, als hätte sich Deutschland mit dem Heimatbegriff versöhnt; durch die Europäisierung der Politik und Kultur und den enorm gewachsenen Wohlstand war den Diskussionen die Schärfe genommen worden. Die nationalkonservativen Kräfte, die sich in der Partei „Alternative für Deutschland“ konzentriert hatten, konnten allenfalls in einigen ostdeutschen Landesparlamenten ihren Anspruch auf Deutungshoheit geltend machen, blieben jedoch so polarisierend, dass „Heimat“ im rechtspopulistisch aufgeladenen Sinn keine breitere Annahme erfuhr. Auch die Umweltbewegung hat noch nicht begonnen, den Heimatbegriff für sich zu entdecken, obgleich Umweltgefahren, die die eigene Heimat gefährden, sich besser instrumentalisieren ließen als die für viele abstrakt anmutende Erwärmung des Globus, zu dem kaum ein direkter emotionaler Bezug besteht.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat alle Parameter im Februar 2022 verschoben. Neue Heimatängste haben sich seitdem noch nicht artikuliert, doch sie keimen bereits auf. Im deutschen Osten wirken sie aufgrund der noch aus Zeiten der Sowjetunion stammenden engen Verbundenheit zu Russland wesentlich stärker. Angesichts der rohen Brutalität der Kriegsführung Wladimir Putins wurde vielen seiner ehemaligen Sympathisanten nun drastisch vor Augen geführt, hinsichtlich der Intentionen des Staatsoberhaupts einer Täuschung unterlegen gewesen zu sein. Diese Erkenntnis birgt jedoch zugleich das Potenzial zur Emanzipation von der eigenen Vergangenheit, die auch durch neue Generationen ostdeutscher Menschen vorangetrieben wird. Die nach 1989 Geborenen werden beim Gedanken an die DDR kaum noch vom Gefühl der Ostalgie befallen; beinahe 33 Jahre nach dem Mauerfall liegen die lediglich aus Erzählungen, Filmen und Literatur bekannten Alltage im Arbeiter-und-Bauern-Staat für sie in weiter Ferne. Für das Konzept einer neuen, inklusiven „Heimat“, das mit einer multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft kompatibel sein muss, eröffnet sich sowohl in West und Ost die Möglichkeit, sich von politischen Konnotationen zu lösen und jenseits von Ideologien eine Normalisierung zu erfahren. In einer zunehmend globaler werdenden Welt mündet der Aufbruch zu neuen Heimathorizonten voraussichtlich in einem weiteren Bedeutungsgewinn der Region, die in Zeiten von weltumfassenden Wirren, Krisen und Kriegen Überschaubarkeit, Vertrautheit und realen Wirkungsraum bietet.

 

Literatur:

Egger, Simone: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden. München 2014

Köstlin, Konrad/Bausinger, Hermann (Hg.): Heimat und Identität. Volkskunde Kongress in Kiel 1979. Neumünster 1980.

Rosa, Hartmut: Heimat im Zeitalter der Globalisierung. Konrad-Adenauer-Stiftung 2012.

Seifert, Manfred (Hg.): Zwischen Emotion und Kalkül. „Heimat“ als Argument im Prozess der Moderne. Leipzig 2010.