Grenze als Heimat? Heimat als Abgrenzung zur offiziellen DDR

von Hannelore Offner

Wie hat sich Heimat in mir verankert? Aufgewachsen in der Rhön, waren meine Kindheit und frühe Jugendzeit von dem Leben an der innerdeutschen Grenze bestimmt. Die kuppige Landschaft der Basaltberge umfasst neben der Hessischen und Bayerischen Rhön eine kleine Region im fränkisch geprägten südwestlichen Thüringen.

Mental fühlten wir uns dem Leben auf der anderen Seite der Grenze verbunden, vor allem durch Radio und Fernsehen. Die familiären Bindungen reichten dorthin und wurden immer intensiv gepflegt. Ohnehin erschien Fulda näher als die ehemalige Residenzstadt Meiningen mit ihrem berühmten Theater. Zur Bezirksstadt Suhl, am Südhang des Thüringer Waldes gelegen, gab es keinen Bezug. Die Eigenheiten in unserem Landstrich lebten wir selbstverständlich, die traditionellen Feste, besondere Naturschönheiten, die von Dorf zu Dorf verschiedene Mundart. Das Leben war dort schon immer geprägt vom rauen Klima einer abgeschiedenen Region. Fromm waren die Bewohner wie in anderen kargen Gebirgsgegenden auch. Und die fränkische Lebensart war immer spürbar. All das hat ein tiefes Gefühl von Vertrautem geschaffen und eine Verbundenheit der Menschen mit der Natur.

Dennoch war der Alltag von der Grenze bestimmt: Abenteuerliche Fluchtgeschichten, Selbstschussanlagen, Minen, die junge Rehe verletzten oder töteten, junge Menschen, die neue Wege ersonnen, um sich über Nacht auf und davon zu machen. All das prägte die Kindheit. Erst jetzt wissen wir von dem so nahe gelegenen und inzwischen bekannten „Fulda-Gap“. Dort an der osthessischen Grenze, einem Teil des Eisernen Vorhangs, standen sich die Truppen der Amerikaner und des Warschauer Pakts am nächsten und es drohte das Schreckensszenario eines möglichen Nuklearkrieges.

Innerhalb der 5-Kilometer-Sperrzone konnten wir uns mit unserem Dauerpassierschein bewegen. Schulfreundinnen aus benachbarten Orten, die schon außerhalb dieser Zone lagen, war es verwehrt, den bewachten Kontrollpunkt mit Schlagbaum zu passieren. Genauso ging es dem Teil der Familie aus der Hessischen Rhön und aus dem weiteren Westen Deutschlands. Als 1973 das Sperrgebiet direkt hinter den Ort verlegt wurde, war die Bewegungsfreiheit weiterhin beschnitten. Plötzlich waren die vertrauten Hügel und Wälder mit den Bergquellen nicht mehr zugänglich, ebenso die eigene Wiese am Waldrand mit Blick über die Grenze hinweg auf die westliche Milseburg.

Im Gegensatz zur Staatsideologie und trotz der Verfolgung junger Christen Anfang der fünfziger Jahre blieb die Kirche Mittelpunkt des Lebens. Und die wenigen, die als parteitreu galten, bewegten sich am Rande der Gemeinschaft. Trotzdem haben Spitzel, so genannte Grenzhelfer oder Mitglieder aus dem Jagdverein, Menschen verraten. Der recht freundliche Postbote war dafür bekannt, bei Feiern herumzuschleichen und unter Fenstern zu lauschen. Wegen eines politischen Witzes im Gasthaus landete beispielsweise ein Bewohner in einem alten Zuchthaus. Wenn er offiziell wenig in Erscheinung trat, im Hintergrund zog selbstverständlich der Staatssicherheitsdienst die verborgenen Fäden im politisch neuralgischen Grenzgebiet.

Aber die Autorität lag noch beim Pfarrer und nicht beim ortsfremden Bürgermeister. Um die Kirchengemeinde herum gruppierte sich das dörfliche Leben, das Kirchenjahr mit seinen Höhepunkten prägte die Gemeinschaft. Der Friedhof stellte Bezüge her zu den Genealogien der Verstorbenen, zu Schicksalsschlägen und tragischen Ereignissen, die im Gedächtnis und Erzählen fortlebten. All das festigte den Zusammenhalt. Trotz staatlichem Bevormunden und dem Versuch, die sozialistische Ordnung auf dem Land zu etablieren, blieb der Glaube fest verankert und war ein Hort für unangepasstes, auch kritisches Denken. Während des Kirchenkampfes im Nationalsozialismus behauptete sich hier eine Gemeinschaft der Bekennenden Kirche. 1937 widersetzte sich diese mit einem mutigen Schreiben an das Geheime Staatspolizeiamt Weimar1 dem drohenden Verbot, weiterhin Gottesdienst in einer privaten Notkirche zu feiern.

Anfang der fünfziger Jahre lehnten sich Bauern gegen die LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) auf. Manche flohen samt Fuhrwerk und zahlreichem Vieh über eigene Wiesen an der grünen Grenze, kurz bevor diese stärker befestigt wurde. Neben der Zwangskollektivierung rankten sich die Geschichten der Kindheit auch um die Zwangsaussiedlungen nach Einrichtung des Sperrgebietes. Im Rahmen einer „Grenzbereinigung“ mussten aufgrund willkürlicher Entscheidung oder politischer Denunziation Familien in einer Nacht- und Nebel-Aktion Haus und Hof verlassen, um als kriminell gebrandmarkt in ferne Gegenden gebracht zu werden. Der so genannten Aktion „Ungeziefer“ von 1952 folgte 1961 die angeordnete Vertreibung weiterer Menschen unter dem Decknamen „Kornblume“. Die Erzählungen davon waren präsent und das unrechtmäßige Vorgehen von Parteifunktionären und Volkspolizisten entlarvte gleichzeitig die Floskeln vom zukunftsweisenden sozialistischen Aufbau. Ja, es beförderte neben gewissen Anpassungen einen Widerstandsgeist, wenn auch vielmehr im privaten Raum.

Früh habe ich gelernt, gegenüber Lehrern missliebige Meinungen zu verschweigen, aber ebenso Offizielles zu unterlaufen. Dank der westlichen Medien kam die freie Welt über Radio und Fernsehen in unseren Alltag, offene und leidenschaftliche Bundestagsdebatten ebenso wie der Karneval aus dem Rheinland, den wir am Rosenmontag vor dem Fernseher, der das verbotenen Westprogramm übertrug, mitfeierten. Mit der Pubertät wendete ich mich von der Pionier- und FDJ-Arbeit ab. Die Jugendstunden beim Pastor entsprachen unserem Bedürfnis nach freiem Reden und unseren Fragen an das Leben.

Bis heute ist für mich widerständiges Verhalten mit dieser Herkunft verknüpft. Das habe ich erst viel später verstanden. Anfang der achtziger Jahre engagierte ich mich bei den „Frauen für den Frieden“ in Ost-Berlin gegen ein neues Wehrdienstgesetz, das vorsah, Frauen im Falle der Verteidigung oder Mobilmachung einzuziehen. Als ich die DDR 1984 hinter mir gelassen hatte, konnte ich endlich den zuvor unerreichbaren Teil der westlichen Rhön entdecken: Kloster Kreuzberg, die Hochmoore, die Wasserkuppe. Sehnsuchtsorte, die durch die Familie präsent waren und in der Jugendzeit meiner Mutter noch erwandert wurden.

Die historischen Wurzeln dieser Region reichen weit zurück. Bereits im Jahr 795 ist unser Ort urkundlich erwähnt. Ausgrabungen des Weimarer Museums für Ur- und Frühgeschichte, bei denen wir als Jugendliche gern helfend dabei waren, brachten fränkische Gräberfelder aus dem 7. Jahrhundert zu tage, das Grab einer fränkischen Fürstin mit Krone, vergoldeter Gewandspange und einem Dolch an der Seite.2 Im späten Mittelalter zahlte die Gemarkung den Zehnt zeitweise an die Abtei Fulda und dann an den Grafen von Henneberg. Die Traditionen reichen bis zur fränkischen Schule der Herrgottsschnitzer. 1995 dokumentierte ich aus Anlass der 1200-Jahr-Feier in dem Videofilm „In Westheim ist verkehrt die Welt“ einige dieser historischen Erzählungen. Denn Heimat ist da, wo Traditionen lebendig geblieben sind, noch gelebt werden.

Und zur Heimat gehört der mundartliche Wortschatz, er wurde noch bis in die 1980er Jahre an die Kinder weitergegeben. Sprache stiftet kulturelle Identität. Sie verbindet die Menschen, bringt emotionale Nähe und stellt ein Band mit den Vorfahren her. Dort, wo ich gekannt werde, muss ich mich nicht erklären, ich weiß alle Zwischentöne im Miteinander zu deuten. Nach mehr als 40 Jahren in Berlin ist mir die fränkische Klangfarbe nicht verloren gegangen und bot gerade in Ost-Berlin des Öfteren Anlass zur Nachfrage. So habe ich, wenn es um ein Verorten ging, gern auf diese Herkunft verwiesen. Damit konnte ich mich zuerst einmal von der DDR abgrenzen. Rhön als ein Rückzugsort von politischer Indoktrination. Um unliebsamen politischen Diskussionen aus dem Weg zu gehen, konnte ich mich ebenso im Westen auf die Rhön anstatt auf die realsozialistische DDR beziehen. Und ich begegnete im West-Berlin der achtziger Jahre dem in der politischen Szene gängigen Tabu, von Heimat zu sprechen.

Dennoch stellt sich die Frage: Wie können wir unseren Erinnerungen trauen?

Ja, der Heimatbegriff erinnert an die Kindheit und löst Emotionen aus. Bezieht er sich auf eine idealisierte Vergangenheit? Er birgt die Erinnerung an die Bezüge, in die wir ganz selbstverständlich hineingewachsen sind. All diese Erfahrungen haben den Lebensweg mitbestimmt. Das ist eine Verbundenheit, die bleibt und nicht mit anderen Orten zu ersetzen ist. Dennoch sollte nicht ausgeklammert bleiben, welche Enge alt hergebrachte Traditionen gleichzeitig mit sich bringen. Bereits in der Schulzeit hat es mich gedrängt, alles Fremde zu erkunden und später „das Weite zu suchen“. So war mein Leben durch ausgedehnte Reisen bestimmt, die ich mit künstlerischen Projekten verbinden konnte. Zu jenen Kulturen hat es mich hingezogen, in denen über Jahrhunderte gewachsene Strukturen sichtbar und spürbar sind und seit Generationen fortwirken.

Gleichwohl suchen wir im 21. Jahrhundert wie bei den Reisen über den Erdball nach verlorenem Idyll und in den sich rasant entwickelten urbanen Strukturen nach dem Gefühl von Zugehörigkeit und Vertrautem. Mit der Neuentdeckung von regionaler Nachhaltigkeit und dem Trend zur „Landlust“ wird Heimat vielleicht auch zunehmend ein Gegenentwurf in einer globalisierten Welt.

Angesichts von einschneidenden politischen Veränderungen, Umbrüchen und den Folgen sowohl im vergangenen Jahrhundert, als auch im gegenwärtigen Krieg in der Ukraine erfährt der Heimatbegriff eine völlig andere und neue Bedeutung.

 

 

Hannelore Offner, 1955 in Meiningen/Thüringen geboren. Studium der Kunstwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin, Diplom, M.A. Tätig in der Galerie im Alten Museum Berlin. Aktionen der Gruppe Frauen für den Frieden in Ost-Berlin. 1984 Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR und Ausreise nach West-Berlin. Kuratorische Ausstellungsarbeit. 1993-1996 tätig in der Abteilung Bildung und Forschung beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Seit 1996 Projektarbeit im Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin, im Jahr 2000 Herausgabe des Buches “Eingegrenzt - Ausgegrenzt. Bildende Kunst und Parteiherrschaft in der DDR 1961-1989“ zusammen mit Klaus Schröder. Kuratorin von internationalem Künstler-Austausch.  Veröffentlichungen zum Thema Kunst und Diktatur und zur zeitgenössischen Kunst.

1 Landeskirchenarchiv Eisenach, BEGAS DOKUMENTE ZUM KIRCHENKAMPF IN THÜRINGEN,

14-1937 Schreiben des Bruderrats der Kirchgemeinden Kaltenwestheim über Meiningen, Mittelsdorf und Reichenhausen an das Geheime Staatspolizeiamt Weimar durch das Kreisamt Eisenach vom 7. April 1937 LKAE, LBG 41, 186, S. 693-695.

2 Wolfgang Timpel, Fränkische Körpergräberfelder von Kaltenwestheim und Kaltensundheim, Lkr.Meiningen. In:

Führer zu archäologischen Denkmälern in Deutschland, Südliches Thüringen, Band 28, Stuttgart 1994, S. 185-188.