Heimat DDR?

von Grit Poppe

Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer“, war eins der Lieder, die ich als Kind gern sang. Ich mochte die Melodie, den Inhalt und auch das Pathos. Dass „unsere Heimat“ auch die „Bäume im Wald“ sind, das „Gras auf der Wiese, das Korn auf dem Feld“, „die Vögel in der Luft und die Tiere der Erde und die Fische im Fluss“ fand ich richtig. Dass mit dem „Schützen“ und dem „Volk“ sang man halt mit als Kind, es gehörte zum Lied ja dazu und „schützen“ kann man ja auf verschiedene Weise. So viele Gedanken machte ich mir da nicht. Auch den Song vom „kleinen Trompeter“ mochte ich ja, vor allem wegen seiner Melodramatik, für die ich offenbar zu dieser Zeit empfänglich war.

Dass die Bäume, das Gras, die Tiere und das Land in Wirklichkeit niemandem gehören, lernte ich ebenfalls als Kind. Als Achtjährige las ich erstmals die (wie man damals sagte) Indianerromane „Die Söhne der großen Bärin“, (zu dieser Zeit) eine Trilogie von Liselotte Welskopf-Henrich, in der ganz nebenbei vermittelt wird, wem die Natur gehört: nämlich ausschließlich sich selbst. Ich liebte diese spannenden, literarisch gut geschriebenen und beeindruckend recherchierten Bücher so sehr, dass ich sie immer wieder las und schließlich selbst begann „Indianergeschichten“ zu schreiben. Die Geschichte von Harka, dem Protagonisten des ersten Bandes, beginnt in den Black Hills und die wurden ebenso Heimat für mich wie der Stahnsdorfer Waldfriedhof, neben dem ich aufwuchs. Die DDR als Heimat interessierte mich schon als Kind nicht. Meine ersten Berufswünsche waren Indianerhäuptling und Pirat. Natürlich wollte ich dieses Berufsziel nicht in der DDR verwirklichen. Grenzen im Kopf gab es ja zum Glück nicht. Als mir aufging, dass diese Wünsche vielleicht nicht so ganz realistisch sind, da war ich 12 oder 13, wollte ich Schriftstellerin werden. Die meisten Erwachsenen belächelten diesen Wunsch. Die Lehrer und Lehrerinnen, die uns zur Berufsberatung schleiften, ich glaube, das war in der achten Klasse, achteten nicht sonderlich auf das, was ich zu verkünden hatte, ging es doch in Wahrheit um eine Werbe-Show für die NVA – und da interessierten ohnehin nur die Jungen. Auf viel Gegenliebe stieß die Veranstaltung in unserer Klasse offensichtlich nicht, so dass ich sie unter „merkwürdig“ oder auch „idiotisch“ abspeicherte.

Meine Heimatliebe lag also schon früh eher in der Literatur – da konnte ich Abenteuer erleben, zunächst mit Liselotte Welskopf-Henrich und den Dakota in der Prärie, später fuhr ich lesend mit Jack London zur See oder suchte in Alaska Gold, begab mich mit Herman Melville auf Walfang oder in die düstere Welt von Mary Shelleys „Frankenstein“.

Heimatgefühle für Stahnsdorf oder auch heute für Potsdam hatte und habe ich nicht. Was vielleicht auch daran liegt, dass ich lieber in Klütz bei meiner „Omi“ war als Kind und Jugendliche. Natürlich nur in den Sommerferien, denn ich musste ja in die Schule. In der Tagesoberschule „Heinrich Zille“ in Stahnsdorf hatten wir sicher gute und schlechte Lehrer, aber gern ging ich da nicht hin. Das lag vor allem am Sport, dem militärischen Charakter dieses Fachs, der absolut autoritären Lehrerin und ihrer Herumbrüllerei, dieser Alles-im-Kollektiv-Manie. Für mich gab es oft Strafrunden, Demütigungen und Häme. Schon als Kind entzog ich mich dem „Kollektiv“, wo ich nur konnte. Ich bin nie ein Gruppen-Mensch gewesen. Das war schon im Kindergarten so: alles aufessen zu müssen war für mich ebenso eine Qual wie der Zwang zum Mittagsschlaf.

Sport- und Arbeitsgemeinschaften nach der Schule waren verpflichtend. Die meisten Schüler gingen innerhalb der Schule diesen Verpflichtungen nach. Ich wollte nachmittags mit der Schule nichts mehr zu tun haben, besuchte jahrelang jeden zweiten Donnerstag den „Club der jüngsten Poeten“ im Klubhaus „Herbert Ritter“ in Babelsberg (nicht selten war ich die einzige Teilnehmerin), ging einmal in der Woche zum Voltigieren im Park Babelsberg und zur „Indianistik“ nach Potsdam. Ich wollte auch nie ins Ferienlager, sondern fuhr die acht Wochen im Sommer stets nach Klütz zur „Omi“, da war ich frei, hatte meine Ruhe, konnte mich den ganzen Tag herumtreiben oder lesen. Der Ort war für Kinder ideal. Es gab den damals noch recht wilden Park Bothmer mit Pferden und Abenteuerspielplatz, ein Kino und eine Bibliothek. Bei schönem Wetter packten wir unsere Badesachen, kauften bei Bäcker Westphal noch schnell eine Tüte mit handtellergroßen Eierplätzchen für zehn Pfennig das Stück und liefen zum Bus, der nach Boltenhagen an die Ostsee fuhr. Herr W., der Busfahrer, machte sich manchmal einen Spaß daraus, dass er kurz anfuhr, wenn er sah, dass wir angerannt kamen. Dann grinste er uns an, öffnete die Tür und nahm uns selbstverständlich doch noch mit. Wenn der Bus mal ausfiel oder zu voll war, trampte ich – oft auch allein, das war normal. Meine Großmutter besaß keinen Fernseher – auch weil sie dafür zu arm war – , für mich war das ein Glück. Denn statt vor der Glotze zu sitzen, las ich. Erst „meine“ Bücher aus der Klützer Bibliothek, dann auch die, die meine Omi sich geholt hatte. Dass meine Großmutter kaum Geld hatte und wenig besaß, fiel mir als Kind nicht auf. Die Toilette, die sich eine Treppe tiefer befand, teilte sie sich mit Nachbarn; in ihrer Wohnung gab es keine Dusche und kein zum Waschen geeignetes Waschbecken. Ich wusch mich in einer Emaille-Schüssel und es war okay. Zuhause war es ja in dieser Beziehung auch nicht viel anders. Wir besaßen dort allerdings ein Waschbecken mit kaltem Wasser – immerhin. Das WC lag ebenfalls außerhalb der Wohnung und war nicht beheizbar. Außerdem regnete es durch, so dass unter dem Klappfenster immer eine Schüssel stand. Mit Nachbarn teilen mussten wir uns zuhause das stille Örtchen allerdings nicht.

Aus meiner damaligen Sicht spielte Geld keine Rolle und als ich einmal einen Fünf-Mark-Schein (Ostgeld) bekam, von einem Erwachsenen, der in den Westen ausreisen wollte und wohl als „Abschiedsgeschenk“ gedacht, meinte ich, jetzt wäre ich reich. So ging es mir dann später nur noch ein einziges Mal: als ich für die erste Lesung nach dem Mauerfall in Westberlin ganze 50,- DM erhielt. Ich wunderte mich, dass es Leute gab, die mir dafür, dass ich ihnen etwas vorlas Westgeld gaben, kaufte mir einen Döner, den ich bis dahin nicht kannte und versuchte den am Stand zu essen. Bestimmt die Hälfte davon landete auf dem Fußboden. Seitdem kaufe ich einen Döner nur noch „zum Mitnehmen“ – heutzutage vielleicht noch einmal im Jahr. Manchmal denke ich dann beim Essen noch an das erste Döner-Mal. An Heimat als Heimat denke ich dagegen eigentlich so gut wie nie. Schon gar nicht an die DDR als „meine“ Heimat. Ich bin in Boltenhagen geboren, also ein Ostseekind und gern am Meer. Dass ich mich als Kind in Klütz heimisch fühlte, hatte sicher mit der Großmutter zu tun, die mich so sein ließ, wie ich war, der Seeluft & norddeutschen Landschaft, dem Park, Kino und der Bibliothek, den Plätzchen von Bäcker Westphal, den zu Späßen aufgelegten Busfahrer und dem Gefühl von fast grenzenloser Freiheit – auch in der engen DDR.