„Meine Kontakte nach drüben waren intensiv“

Aktionen von Hallenser Heavy Metal Fans gegen die Mauer nach ihrer Ausreise nach Westberlin

Aus Ole Giec /Frank Willmann (Hrsg.): Mauerkrieger. Aktionen gegen die Mauer in West-Berlin 1989

Halle an der Saale

Eine schöne Filmkulisse hätte Halle in den 1980er Jahren abgeben können, trostlos und in schwarzweiß. Die Abgase der Zweitaktmotoren hingen in der Luft, im Winter der schwere Geruch der Kohleöfen. Die Saale türmte übelriechende Schaumkronen auf. Wenn der Wind die Ausdünstungen des Chemiekombinats Buna in die Stadt wehte, schlossen die Menschen die Fenster. Atemwegserkrankungen hatten Hochkonjunktur, Allergien machten die Runde. Schimmel und Schwamm saßen in den historischen Gemäuern der Altstadt, in denen ein Bad und warmes Wasser als Besonderheiten galten. Industrieanlagen überschütteten die Stadt mit Schmutz. Was seit Ende des Zweiten Weltkrieges grau geworden war, wurde Anfang der 1980er schwarz und verfiel. …Was im Westen als selbstverständlich galt, war in der DDR verboten. Kritik wurde genauso unterbunden wie eine eigene Meinung. Für die Menschen galt daher: Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Wer aufmuckt, bekommt Probleme. Schlimmstenfalls landete man im „Roten Ochsen“, dem berüchtigten Hallenser Knast. Die Schulen waren von kommunistischen Lehrern und ihren Helfern dominiert. Parteibücher sagten, wer Recht hatte und wer nicht. Die Mitgliedschaft in der FDJ, der Jugendorganisation der SED, half auf dem Weg zum Abitur. Eine Verpflichtung zum dreijährigen Armeedienst sicherte den Studienplatz – egal welche intellektuellen Voraussetzungen vorhanden waren. …

… Träume vom Westen endeten an der Mauer. Wer dennoch einen Blick wagen wollte, heimlich und privat, hielt sich an ARD und ZDF. Das Fernsehen strahlte seine Botschaft von Freiheit und Demokratie tief in den Osten. Während sich der eine Teil der Deutschen zum Reiseweltmeister aufschwang, blieb dem anderen der Thüringer Wald oder Usedom. Wenn Geld und ein parteikonformer Lebenslauf vorhanden waren, Bulgarien oder Ungarn. Aber die Sehnsüchte wuchsen im gleichen Maße wie der Mangel. …

In der DDR am Establishment zu rütteln, war mit Repressionen verbunden. Wer die sozialistische Ordnung störte, durch falsche Musik, Äußerlichkeiten wie „westlich-dekadente“ Kleidung und/oder bunte Haare, lebte unsicher. Selbstbestimmung war nur ungern gesehen, simples Nichtstun galt als strafwürdig. Aufmüpfigsein, Nein zu sagen, kam dem nahe. Man konnte von der Schule fliegen, den seltenen Abiturplatz oder die Lehrstelle verlieren. Auffällige Jugendliche wurden beobachtet, in Karteien der Staatssicherheit erfasst, teils von den eigenen Freunden bespitzelt. Trieben sie es in ihrem Drang nach Freiheit und Individualismus zu weit, landeten sie im Knast. Wer volljährig war und sich weigerte an den Wahlen teilzunehmen, wurde persönlich zur Urne geführt. Widersetzte man sich der Begleitung, war die Zukunft verbaut.

 

Vier Schulfreunde, ein Traum

Anders sein, anders denken, fühlen, erleben, bedeutete für junge Menschen in der DDR-Isolation. An jeder Schule gab es einen, wenn man Glück hatte, zwei Unangepasste. An der Hallenser Polytechnischen Oberschule „Fritz Weineck“ dagegen entzogen sich gleich vier dieser Flegel der Bequemlichkeit der Mitläufer. Seit Kindesbeinen miteinander befreundet, wuchsen sie im bürgerlichen Paulusviertel in der Altstadt auf. Die Mitte der 1960er geborenen Jungs bestimmten den Ton innerhalb ihrer Klasse. Sie zerstörten heimlich die Wandzeitungen „der Roten“, wehrten sich gegen sinnentleerte Rituale und diskutierten mit den Lehrern. „Schaut aus dem Fenster... Soll das euer Sozialismus ein?!“ Mal gab es stille oder offene Sympathien, mal Ablehnung bzw. heftige Zurückweisung. Die Gruppe zu belangen, erwies sich als schwierig. Die Jungen galten als schulische Leistungsträger. Politische Agitation versandete. Mit dem Versuch, die Gründung einer Staatsbürgerkunde-AG durch den Sohn eines Polizisten zu verhindern, trieben sie ihr rebellisches Verhalten auf die Spitze. Auf der Toilette wurde der Initiator des Projektes, der Sohn eines Volkspolizisten, gestellt und deutlich ermahnt. Als das nicht half, setzte es Prügel. Ihr Verhalten zog Konsequenzen nach sich: Der Beitritt in die FDJ wurde ihnen verweigert. Nach außen zeigten sie Reue, innerlich jubelten sie. Sie wähnten sich auf dem richtigen Weg: Wenn sie volljährig wären, so beschlossen sie, wollten sie in die Bundesrepublik gehen….

 

Ordnung und Kontrolle

Anderssein bedeutete Generalverdacht. Die „Organe“ sahen in der Bewegung eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit. Dass Heavy-Metal für die Jugend eine Flucht aus der Tristesse des Alltags war, ein Versuch, sich als Individuum wahrzunehmen, dazu fehlte den Machthaber die Vorstellungskraft. Alkoholexzesse, Lärm oder öffentliches Urinieren der Metaler führte zur Festnahme. Einige Stunden nur, die ausreichten, um den Festgenommenen einzuschüchtern. Die Staatssicherheit glaubte, „Kräfte des Gegners“ seien am Werk, um die sozialistische Jugend zu verführen. Sie sollte dazu bewegt werden, „sich gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR sowie deren verfassungsmäßigen Grundlagen“ zu wenden. Um den Gegner „zurückzudrängen“, waren Informationen nötig. Treffpunkte und Neigungen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen mussten ausgekundschaftet werden, ihre Hobbys, ihr Lebenswandel, ihre Familienverhältnisse. Wie waren sie vernetzt? Gab es Kontakte in das „Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet“ (NSW)?...

Es liegen Zahlen der Staatssicherheit vor, säuberlich recherchierte Listen mit Namen und Adressen: 1986 wurden in Halle „21 jugendliche Heavy-Metal-Fans operativ bearbeitet, aber eine weitaus höhere Zahl von ca. 200 Personen, welche als Heavy-Metal-Anhänger auch äußerlich in Erscheinung treten, sind präsent“. Unter operativer Bearbeitung war nichts anderes zu verstehen als die Unterwanderung der einzelnen Gruppen und ihrer Treffpunkte zum Zwecke der „Zersetzung“. Gerüchte wurden gestreut, die die Szene „destabilisieren“ sollten. Führende Köpfe und Musiker wurden zum Wehrdienst einberufen, um sie aus dem Verkehr zu ziehen. Wer sich weigerte, konnte schnell im Gefängnis verschwinden.

…..

Aus den Interviews

„Im Februar 89 sind Heiko und ich nach Berlin gefahren, zur Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der Hannoverschen Straße. Es gab schon die ersten ständigen Besetzer dort. Wir wollten darum bitten, dass sie uns helfen in unserem Ausreisebemühen. Die alles überwachende Volkspolizei tricksten wir aus. Wir konnten kaum unser Ausreiseanliegen vorbringen und schon wurden wir wieder von den Vertretungsmitarbeitern raus komplimentiert. Wir waren wirklich nach zehn Minuten wieder draußen. Namen aufgenommen, Daten und fertig. Die Angestellten der Ständigen Vertretung waren sauer über die Besetzer und wollten nicht noch mehr Probleme haben. Deutsche Beamtenmentalität. Wir sind zurück nach Halle. Im April bekam Heiko seine Papiere. Er hatte fürchterlich lang gewartet. Ich war nicht entmutigt, hatte ja erst ein paar Monate den Antrag laufen.  Im März 1989 durfte Mecke endlich ausreisen, Heiko folgte im April. Doch vorher ging es in Leipzig erstmalig richtig zur Sache. Die Stasi griff uns an. Aus der Nikolaikirche kommend wurden wir plötzlich in einer Straßeneinengung von Stasischlägern eingekesselt. Im folgenden Handgemenge entriss ich einem Stasimann einen Festgenommenen und dann nichts wie weg. Egon Krenz bekam 1989 von mir Post. Anbei mein zerrissener Wahlberechtigungsschein zur Volkskammerwahl und die Bemerkung, dass ich diese Wahl als Farce betrachte. Umgehend kam mein Laufzettel zur Ausreise. Schnell alle Stempel bei den verrücktesten Meldestellen abgeholt, dusselige Kommentare angehört und ab ging es in den Westen. Ein Freund hat mich nach Berlin begleitet, zum Tränenpalast. Es war ein zwiespältiges Gefühl - der Abschied von der Familie, in Halle am Bahnhof von vielen Freunden und schließlich in Berlin von dem letzten Freund – das liegt jetzt hinter mir, dachte ich. Es war kein Schritt ins Ungewisse. In Westberlin angekommen wartete Raik mit Sekt und Freunden zum Empfang. Jetzt hieß es leben, zum Reflektieren war später noch Zeit. Der erste Eindruck - viel mehr Farbe, ein Unterschied wie Tag und Nacht. Am Brandenburger Tor hieß es erst mal Mauer gucken. Von der richtigen Seite! Ich wohnte ne Weile bei Raik und bekam recht schnell eine Wohnung mit Dirk im gleichen Haus. ….

 

Im Osten verschärfte sich die Situation zunehmend und wir kamen zu dem Schluss, dass wir nicht zum Konsumieren rüber gekommen waren. Wir wollten unsere politische Gesinnung zeigen. Die DDR dort angreifen, wo es weh tut! Ich konnte die Existenz der Mauer nicht akzeptieren. Sie grenzte nicht nur meine persönliche Freiheit ein, sondern noch viel schlimmer, diente sie doch der Unterdrückung der ostdeutschen Bevölkerung. Es galt dem DDR-Regime die Gegnerschaft zu erklären. Mit unserem Handeln unterstützten wir den Freiheitswillen der Ostdeutschen. An den Händen von Krenz, Mielke und Co. klebte Blut, da war es legitim Mauer und Stacheldraht anzugreifen. 1989 hatten sich die West-Berliner arrangiert und den meisten Ausgereisten war der Osten egal.“

„Der Ausreiseantrag lief während der ganze Armeezeit. Mecke ist vor mir raus, ich bin offiziell zur Kommunalwahl 89 rausgekommen, die haben mich nochmal drei Jahre warten lassen. Ich hab meinen alten Job weitergemacht, Abrechnungen für den Konsum. Ich bin die Stellen abgefahren, Rechnungen zusammen gesucht, abgegeben, ein ruhiger Posten. Nach der Armee bin ich mit Dirk und Andy rumgezogen, die oppositionellen Treffen in der Hallenser Marktkirche, immer samstags. 1987 ging das los, Versammlungen nach dem Gebet, Gesprächskreise, Mahnwachen mit Kerzen vor der Marktkirche. Montags sind wir nach Leipzig, wir waren mit die ersten in der Nikolaikirche. Das ist immer voller geworden, stumme Proteste mit Kerzen, Transparente. Polizei war vorhanden auf dem Platz, aber wegen der Leipziger Messe mit ihren internationalen Gästen haben die nicht durchgegriffen. Das haben wir ausgenutzt. Der Platz hat 89 nicht mehr gereicht, und dann kam die große Geschichte. 

Als ich ausgereist bin, war ursprünglich mit Raik ausgemacht, dass ich zu ihm nach Berlin komme, aber ich bin erst mal zu meinem Opa. Ich hatte eine Freundin in Halle, meine jetzige Frau. Solange das noch nicht geklärt war, habe ich in Bayern gewartet.“…

1986 war für Raik Adam ein Jahr der Entdeckungen. Die Welt rief und vom ersten Gehalt leistete er sich ein Auto, schrottreif, aber fahrtüchtig. Er machte sich auf, um durch die Bundesrepublik zu reisen. Er wollte die neue Heimat kennen lernen: Hamburg und die Nordsee, München, Köln. Mehrere Wochen Marokko folgten, ein Hippieleben am Atlantik, Amsterdam kam dazu. Bis zum Fall der Mauer bereiste er 15 Länder. Das Fernweh wurde gestillt. Metal-„Götter“ wie Ozzy Osbourne und die Scorpions erlebte er live beim Monster of Rock in Nürnberg. „Freiheit“, sagte er sich, „lässt sich auch mit Arbeit erleben. Im Sommer kam die Demonstration gegen die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf dazu und die einschneidende Erkenntnis, das erste Mal in seinem Leben seine Bürgerrechte wahrnehmen zu können. …

Er zog … aus und mietete in Neukölln eine Wohnung. Im Haus wohnten vier weitere Hallenser. Es lag nur 200 Meter von der Mauer entfernt. …

Politisierung

b 1987 änderte Raik Adam schrittweise seine Haltung in Bezug auf Mauer und DDR. In der „Bronx“, seinem Kreuzberger Stammclub, lernte er Henry Krause kennen. Krause trug lange Haare wie er, kleidete sich in Leder und war ein Freund härterer Musik. Der ehemalige Altenburger war anders als Adams bisherige Freunde und Bekannte. Unter denen galt der als im Westen angekommen, der die DDR ignorierte. Henry Krause dagegen interessierte sich für das Geschehen im Osten. Krause hatte eine bewegte Vergangenheit hinter sich. Der Fluchtversuch, den er mit 18 über Bulgarien unternahm, scheiterte vier Kilometer vor der griechischen Grenze. … „Ich sag nur Heavy Metal! Er war überzeugter Antikommunist, ich überzeugter Anti-DDR-ler. Er war der lebende Widerspruch! Einerseits wollte er in Kreuzberg inmitten der Subkultur leben, andererseits war er tief konservativ, Mitglied der Jungen Union (JU; Jugendorganisation der CDU) und hegte große Sympathien für Franz Josef Strauss.“

Obwohl Raik Adam sich zum linken und autonomen Spektrum Kreuzbergs hingezogen fühlte, fanden der DDR-Flüchtling und die Freunde aus der „Szene“ nie wirklich zueinander. Abends saßen sie fröhlich in der Kneipe, tranken und feierten. Kamen sie auf Politik zu sprechen, drifteten die Meinungen weit auseinander. Im Herbst 1987 verstärkten sich die Gegensätze. Raik Adam wollte auf der Schule für Erwachsenenbildung (SFE) in Kreuzberg auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachholen. Die Schulleitung war politisch links eingestellt. Es gab keinen Leistungsdruck und keine Noten. Raik Adams Motivation war groß und der Lebensunterhalt Dank BAföG gesichert. Die basisdemokratische Struktur der Schule, der antiautoritäre Führungsstil, das Mitsprachrecht der Schüler, so fand Raik Adam, behinderten das Lernen. “Jeder Anlass wurde genutzt, um politische Diskussionen im Unterricht vom Zaune zu brechen. Westdeutsche Bürgerkinder, die Weltrevolution spielen wollten. Habe mich anfangs eingemischt, aber schnell eingesehen, dass gegen deren Dogmen nichts zu machen war. Damit war ich der Revanchist an der Schule und galt als unsicherer Kantonist, besonders wenn ich „linke“ Themen wie Ökologie und Anti-Atomkraft besetzte. In deren Augen galt die DDR als legitimer Versuch eines Gesellschaftsentwurfes.“ … Mit Henry Krause dagegen fanden sich Gemeinsamkeiten. Der Freund zog in Raik Adams Nachbarhaus. Der wurde nun politisch aktiv. Der Einstieg erfolgte über die „Internationale Gesellschaft für Menschenrechte“ (IGfM), deren Mitglied Krause war. Das MfS ließ mehrere umfangreiche Gutachten über diese Organisation anfertigen… Wie weit die Observierung durch die Stasi ging, lässt sich den Akten des MfS entnehmen. Durch eine Arbeitskollegin der Mutter Raik Adams war das MfS über Neuigkeiten und Veränderungen im Leben der Familie Adam informiert. Raik Adams West-Berliner Wohn- und Arbeitsverhältnisse waren genauso bekannt wie die Höhe seiner Miete und seine Urlaubsziele. Die Bespitzelung fand aber nicht nur auf der östlichen Seite der Mauer stattfand, sondern erfolgte auch in West-Berlin. Das Haus in Neukölln, in dem ab Februar 1986 Raik Adam mit den Hallensern zusammen lebte, geriet in den Fokus der Staatssicherheit. …

Politische Aktionen in West-Berlin

…. Für den Abend des 16. Juni 1987 war starker Wind vorhergesagt. Sie parkten ihre Autos außerhalb der Sichtweite der DDR-Grenzsoldaten. Niemand sollte mithilfe ihrer Nummernschilder ihre Namen herausbekommen. Es gab Leute unter ihnen, die dieses Vorgehen für übertrieben hielten, aber die hatten sich nicht durchsetzen können. Mit einem Handwagen zogen sie die Sachen auf die Wiese vor dem Reichstag. Damit niemand im Osten sie sehen konnte, hielten sie sich im Sichtschatten des Gebäudes. Als sie den ersten Ballon mit Heliumgas füllten, tauchten hinter der Mauer DDR-Grenzaufklärer auf, die sie beobachteten und fotografierten. Die Aktion wurde nun aktenkundig. Raik Adam, Henry Krause und andere IGfM-Mitglieder hängten die Flugblätter an die Ballons. Sie wollten warten, bis der starke Wind etwas abflaute. Sie rauchten und wandten ihre Gesichter ab, um von den Grenzaufklärern nicht erkannt zu werden. Der Wind zerrte an den prall gefüllten Ballons. Nach einer Stunde entschieden sie, die Halteschnüre zu durchtrennen. Die über einen Meter großen Ballons wurden schnell kleiner und trieben über die Mauer in den Osten hinüber. Ob der Auslösemechanismus zum Abwurf der Flugblätter funktioniert hat, erfuhren sie nie … Die spontane Demonstration am Abend des 13. August 1988 am Checkpoint Charly bestand, so erinnert sich Raik Adam, aus etwa 150 ehemaligen DDR-Bürgern. Das Aggressionspotential war hoch. Das Jubiläum des Mauerbaus sollte genutzt werden, um auf die Unterdrückung in der DDR hinzuweisen. Am Tage war es bereits zu einer Demonstration auf dem Adenauerplatz gekommen, organisiert von der IGfM. Raik Adam war als stiller Beobachter am Rande dabei. In der DDR kam zu seinem Ärger nichts davon an, stattdessen reagierten die Autonomen. „Die fühlten sich genötigt, gegen die Reaktionäre von der IGfM anzutreten. Mit denen hatte ich den Abend zuvor noch in einer Kreuzberger Kneipe gefeiert. Jetzt standen wir uns gegenüber. Zum Glück gab es nur Verbales, aber heftig genug war es.“ Raik Adams und Henry Krauses Leder-Outfit, das dem der Autonomen nicht unähnlich war, half ihnen bei weiteren Aktionen. Nachts zogen sie durch Kreuzberg, im Kofferraum Plakate gegen den Krieg der Sowjetunion in Afghanistan. Die BILD-Zeitung meldete am nächsten Tag: „Unbekannte klebten in Kreuzberg Plakate für die Freiheit Afghanistans.“ Die Mitglieder der IGfM jubelten über den Coup „in der Sympathisantenhochburg der Kommunisten“, wie Raik Adam sich erinnert. Ähnlich gingen sie vor, als sie das Büro der DDR für Besuchs- und Reiseangelegenheiten, inoffiziell auch „Passierscheinbüro“ genannt, in Kreuzberg plakatierten. Auf rosafarbenem Hintergrund war der „flüchtige Dachdeckergeselle“ Erich Honecker zu sehen, der zur Fahndung ausgeschrieben war. Die Verbrechen, derer man ihn beschuldigte, waren Anstiftung zum Mord an DDR-Flüchtlingen und Freiheitsberaubung in 17 Millionen Fällen. … Adam entwickelt erste Ideen für direkte gewaltsame Angriffe auf die Mauer. Diesem Risiko wollte er sich allein allerdings nicht aussetzen. Henry Krause war in seinen Augen zwar zuverlässig, schien ihm aber für solche Aktionen nicht geeignet. Im Frühjahr 1989 konnten nach und nach erst Dirk Mecklenbeck, dann auch Andreas Adam und Heiko Bartsch die DDR verlassen. Mit ihrer Ausreise fanden sich die Personen zusammen, mit denen Raik Adam seine Pläne umsetzen konnte. Er holte seinen Bruder und den Cousin am „Tränenpalast“ in der Friedrichstrasse ab. Es gab eine große Willkommensparty, fünf Meter von der Mauer entfernt, mit Lagerfeuer und den Freunden aus Halle. René Boche, Gundor Holesch, auch die IM „Vera Stein“ alias Evelyn P. waren dabei. Sie tanzten und tranken unter den Augen der Grenzsoldaten. Der Aufforderung der Hallenser, herüber zu kommen und mitzufeiern, kamen sie allerdings nicht nach. Kurz nach Mitternacht tauchte die West-Berliner Polizei auf. Sie zeigte Verständnis für den Grund der Party, forderte die Feiernden aber trotzdem auf sich zu trollen…

Raik Adam stellte den Neuankömmlingen seine Wohnung zur Verfügung, zeigte ihnen die Stadt, das bunte Leben Kreuzbergs. Andreas Adam und Dirk Mecklenbeck waren begeistert von der Idee, die DDR von West-Berlin aus anzugreifen. Wie sie genau vorgehen sollten, wussten sie zunächst nicht. Die drei jungen Männer informierten sich über das Geschehen im Osten, in der Hoffnung Ansätze zur Umsetzung ihres Vorhabens zu finden. Am 12. Mai 1989 war es so weit. Über die Medien erfuhren sie von fünf westdeutschen Grünen, die auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz mit Plakaten für eine Abrüstung in Ost und West demonstriert hatten. Nach wenigen Minuten kam es zur „Zuführung“ der Demonstranten durch die Volkspolizei. Adam und seinen Freunden war weniger die Demonstration der Westdeutschen wichtig, als die Reaktion der Ost-Berliner Bevölkerung. Die Medien berichteten von spontanem Beifall der zahlreichen Umstehenden. Die Gruppe war sich einig: Das aufkeimende Aufbegehren in der DDR wollten sie durch spektakuläre Angriffe auf die Mauer unterstützen … Die Gruppe fuhr zu dem  ausgespähten Reichsbahngelände in Neukölln. Mit einer Streife der Alliierten oder der West-Berliner Polizei war nicht zu rechnen. Sie versteckten sich neben einer ausrangierten Eisenbahnbrücke. Die mit Benzin befüllten Flaschen klirrten in der Tasche. Sie wähnten sich unbeobachtet. Dass sie bereits bei ihrer Ankunft von Grenzsoldaten bemerkt wurden, ahnten sie nicht. Bis zum Grenzzaun waren es etwa vierzig Meter. Ein guter Werfer konnte es schaffen, den Zaun oder die Anlagen dahinter in Brand zu setzen. Die Gruppe verhielt sich einige Minuten ruhig und sondierte die Lage. Der menschenleere Grenzstreifen war ausgeleuchtet, in Ost-Berlin dagegen brannte kaum Licht. Sie kontrollierten ein letztes Mal ihre Vermummung und schalteten die mitgeführte Kamera ein. Sie wollten die Bilder nach erfolgreicher Aktion den Medien zukommen lassen. Der erste Molotow-Cocktail landete im Sand eines Postenweges. Die nächsten Flaschen flogen kaum weiter. Der sandige Boden brannte auf mehreren Quadratmetern. In der Gruppe machte sich Unruhe breit. Wieder verfehlte eine Flasche ihr Ziel. Die Irritation wuchs. Die zwei Schatten, die unter der Eisenbahnbrücke aus der Dunkelheit traten, bemerkten sie zunächst nicht. Einer der Molotow-Cocktails schlug knapp hinter den beiden Grenzsoldaten ein. Flammen schossen in den Nachthimmel…Das MfS notierte unter der Überschrift „Handlungen gegnerischer Kräfte anlässlich des 17. Juni 1989“: „Um 23 Uhr 50 bis 00 Uhr 04 Bewerfen des Hoheitsgebietes der DDR durch maskierte Täter mit 10 Brandflaschen, Brandfläche 35 mal 5 m.“  Dass einer der Grenzer seine Waffe entsicherte, durchlud und auf die Gruppe zuging, berichten die Akten nicht. …

… Im Juni 1989 wurden die „Neu-West-Berliner“ von ihrem Freund Heiko Bartsch besucht, der mittlerweile in Bayern lebte und als Kraftfahrer arbeitete. Am zweiten Tag seines Besuchs beschloss die Gruppe, ihre Aktion in der Nähe der Rudower Höhe umzusetzen. Heiko Bartsch, nichts ahnend und überrascht von den Plänen, fand sich nachts im Süden West-Berlins wieder, direkt vor dem Grenzzaun, schon mehrere Meter auf DDR-Gebiet. Auf der Westseite Berlins wuchsen Hecken, die Sichtschutz boten und bei einer Entdeckung als Versteck geeignet waren. Dirk Mecklenbeck reichte seinen vermummten Freunden Bolzenschneider. Leise begannen sie, den verzinkten Streckmetallzaun zu zerschneiden…

… Der materielle Schaden sollte groß sein und die Pioniere der Grenztruppen für einige Zeit beschäftigen. ….

Die nächste Aktion, so das Ziel der Gruppe, sollte die Grenzsoldaten „treffen“. Sie wussten, was in der DDR, was in der Leipziger Nikolaikirche vor sich ging. Die Zahl der Montagsdemonstranten wuchs an. Am 4. September 1989 versammelten sich sogar 1.200 Teilnehmer, eine für DDR-Verhältnisse ungemein große Zahl. Die Versuche der Staatssicherheit, die Oppositionsbewegung zu zerschlagen, schienen zu verpuffen. Die Gruppe wollte die Bewegung unterstützen, indem sie psychologischen Druck auf die Grenzsoldaten ausübte. Ihr Kalkül war einfach: Wenn es ihnen gelänge, mit gezielten Aktionen Soldaten beim Dienst an der Grenze zu verunsichern, würde die Nachricht gerüchteweise weiter getragen werden. Aus Verunsicherung, so hofften sie, entstünde dann irgendwann Angst. Vielleicht würden Grenzsoldaten sich sogar weigern, weiterhin die Grenze zu sichern. Am 13. August 1989, dem 28.Jahrestag des Mauerbaus, griffen sie von Neukölln aus den Wachturm der Grenztruppen in der Harzerstrasse / Bouchéstrasse an. Das Unternehmen war riskant. In West-Berlin standen unmittelbar an der Mauer Wohnhäuser. Vermummung, dunkle Kleidung und der Schutz der Nacht halfen hier nicht wirklich. Der Blick auf die beleuchteten Straßen war ungehindert, eine Meldung bei der West-Berliner Polizei schnell gemacht. … „Andy, Mecke und ich haben mehrere Molotow-Cocktails auf den Turm geworfen. Er brannte lichterloh. Mitten im Wohnviertel. (…) Die beiden Grenzer hinter den Glasscheiben hatten wir vorher gewarnt, dass es gleich heiß und hell werden würde. Die sind getürmt. Früher hätten die das vielleicht nicht gemacht, aber die wussten doch auch, was in ihrem Land so langsam abging. Warum den Kopf hinhalten für etwas, für das man nicht viel oder vielleicht sogar nichts mehr übrig hatte?“… Vermummt und mit Motorradhelmen ausgerüstet, erklomm die Gruppe den Besichtigungsturm. Weithin sichtbar befestigten sie ein großes Transparent an den Holzverstrebungen. Schnell kam die Reaktion: Im Todesstreifen fuhren ein Motorradfahrer und ein Kübelwagen mit Grenzaufklärern vor. Zusätzlich rückten bewaffnete Soldaten an. Das Vorgehen der Gruppe wurde genauestens dokumentiert und per Funk an die Vorgesetzten weitergeleitet. Passanten jenseits der Mauer blieben stehen, steckten die Köpfe zusammen, diskutierten leise. Einer von ihnen grüßte die Gruppe mit dem Victory-Zeichen. Sekunden später wurde er verhaftet und abgeführt. …

Exil-DDRler in Westberlin

Meine Kontakte in den Osten blieben intensiv. Viele der jüngeren Ausgereisten sammelten sich in der alternativen „Schule für Erwachsenenbildung“ (sfe), ebenfalls im Mehringhof. Die Bildungseinrichtung, die zum Abitur führte, kannte keine Zeugnisse. Mit der Möglichkeit, Lehrer abzuwählen, stellte sie eine Reform-Utopie dar. Gegen Ende der 1980er Jahre bestanden einzelne sfe-Klassen mehrheitlich aus früheren DDR-Bürgern. Sie lebten von einer Kombination aus Bafög und Stiftungszuschüssen und engagierten sich beim Lernen in sehr unterschiedlichem Maße. Die externen staatlichen Abiturprüfungen wurden oft nicht abgelegt; das Bafög lief weiter. Der 1984 ausgereiste Frank Willmann schildert es so: „Die Zeit als Schüler wurde für manchen zur Basis für ein Bohemienleben, wie sie es sich an grauen Nachmittagen in der DDR ausgemalten hatten. (Wir) tollten bei Gelegenheit nackt durch Kreuzberg oder malten abstrakte Bilder an die Mauer.“ (Anne Hahn / Frank Willmann: Der weiße Strich. Vorgeschichte und Folgen einer Kunstaktion an der Berliner Mauer, Berlin 2011, S. 51). …

Schon Mitte der 1980er Jahre hatte sich in West-Berlin eine Gruppe von szene-affinen Ausgereisten gebildet, die das repressive DDR-System, aber auch die konsumorientierte Bundesrepublik ablehnten. Durch neu Ausgereiste, erhielt sie einen steten Zulauf, der bis zu den Massenfluchten von 1989 anhielt. Zahlenmäßig bedeutend war diese Gruppe nie. Ihr mögen fortlaufend einige Dutzend Personen angehört haben. Innerhalb des linksalternativen Milieus exponierte sie sich kaum. Umgekehrt war die Zahl der Ausgereisten in Berlin stets so groß, dass sie nicht zwingend auf intensive Kontakte mit dem Szene-Mainstream angewiesen waren.

Möglicherweise galten auch viele ihrer Beschäftigungen als zu unpolitisch. Willmann schreibt: „Die kreative, linke oder wehrdienstunwillige Jugend Westdeutschlands tummelte sich in der Stadt. Dennoch blieben viele Ostler unter sich, wohnten zusammen, feierten in ihren Cliquen und Stammkneipen. Sie gründeten Bands, Künstlerzirkel und Zeitungen, malten und musizierten, schrieben Gedichte, fotografierten oder drehten Super-8-Filme.“ (Anne Hahn / Frank Willmann: Der weiße Strich, Berlin 2011, S. 51). In ihren vorwiegend unpolitischen Aktivitäten zeigte sich das Fremdgebliebensein der „Ostler“. In der linken Szene West-Berlins teilte niemand ihre biografischen Erfahrungen. Vielmehr überwog ein vollkommen anderes Verhältnis zur DDR. …Angestoßen vom Bürgerrechtler Roland Jahn, der selbst 1983 zwangsausgebürgert worden war, veröffentlichte die linksalternative „Tageszeitung“ (taz) seit 1986 regelmäßig eine „Ost-Berlin-Seite“ mit Nachrichten aus der Opposition. Ebenfalls auf Initiative von Jahn ging 1987 „Radio Glasnost“ an die Öffentlichkeit, eine Sendung mit Originalbeiträgen aus der DDR. Sie wurden über die Grenze geschmuggelt und als monatliches, einstündiges Programm im neu gegründeten Szene-Sender „Radio 100“ ausgestrahlt. Auch die Autonomen-Blätter „radikal“ und „interim“ begannen, Texte zur DDR zu veröffentlichen. Beide Publikationen lagen ab Mitte 1988 in der Umweltbibliothek in Ost-Berlin aus.