Ein Plädoyer gegen bequeme Stühle

von Gabriel Berger

So oft ich nach meiner Nationalität gefragt werde, stehe ich vor einem unlösbaren Problem. Ich würde gern darauf verzichten, es zu lösen. Besonders von Menschen meiner Generation wird mir jedoch häufig gesagt, ich müsste mich ihm stellen, seine Lösung würde mich meiner eigenen Identität einen Schritt näherbringen. Vielleicht. Doch mir behagt der kleinliche Hang der Menschen nicht, sich selbst und andere möglichst exakt auf einer willkürlich gewählten Skala einzuordnen. Sie unterteilen sich nach Nationalitäten, Religionen, politischen Anschauungen, Stammes- oder Klassenzugehörigkeiten, nach Steuerklassen, Wagenklassen, Kran­kenkassen, Bildung und wo alle Unterteilungskriterien versagen, werden schnell neue geschaffen: Es gibt ja noch die Kleidung, die Haartracht, die Tätowierung, den Fußballklub, das Horoskop, den gesprochenen Jargon und, ganz modern, Gender, das selbst gewählte soziale Geschlecht.

Sich von den anderen mit Macht unterscheiden, aus der anonymen Masse herausheben zu wollen, ist aller Laster Anfang. Es gibt davon recht harmlose, individuelle Ausprägungen in Gestalt kauziger Eitelkeiten und die weniger harmlosen politischen, religiösen, nationalen. Eine ideale, harmonische Welt würde diese Laster nicht kennen. Doch der Weg dahin führt stets über die selbsternannte Auserwähltheit einer kleinen Gruppe, über eine radikale Teilung der Menschen in gute und schlechte, in rechtgläubige und abtrünnige, in progressive und reaktionäre. Das in greifbarer Nähe geglaubte Ziel der harmonischen Welt rückt so noch weiter in die Ferne. Doch selbst wenn jenes edle Ziel totaler Gleichheit erreichbar wäre, ist es mehr als fragwürdig, ob in einer Welt ohne die Möglichkeit, kleine Eitelkeiten zu befriedigen, das Leben noch lebenswert wäre.

Somit scheint es, als könnte ich der lästigen Forderung nicht ausweichen, mich in eines der mir vorgeschriebenen Schubfächer einzuordnen. Was aber soll ich zum Kriterium meiner nationalen Zugehörigkeit erheben? Meine jüdische Ahnenfolge, das Land meiner Geburt, das Land meiner Kindheit, das Land in welchem ich aufgewachsen bin, das Land dessen Staatsbürgerschaft ich derzeit habe oder eher meine sprachliche und kulturelle Einbindung?

Genau an dieser Stelle fangen meine Probleme an. Meine Ahnen waren polnische Juden, vielleicht aber russische Juden, denn der Teil Polens, dem sie entstammten, gehörte einst zu Russland. Für einen nationalsozialistischen deutschen Bürokraten wäre hier das Problem eindeutig gelöst: Mit vier jüdischen Großeltern hätte ich mein nichtarisches Soll voll erfüllt. Das aber ist eine, wenn auch nicht so lange, so doch zum Glück vergangene Geschichte. Heute würde ein aufgeklärter Deutscher einwenden, als ein Atheist sei ich doch gar nicht jüdischer Konfession, weshalb es absurd sei, mich als einen Juden zu betrachten. Das Judentum sei nämlich weder eine Rasse, noch eine Nationalität, sondern nur ein religiöses Bekenntnis. Damit hätte mich also der deutsche aufklärerische Geist des eitlen Gefühls beraubt, dem biblischen auserwählten Volk anzugehören.

Vieles spricht dafür, dass ich ein Deutscher bin. Darauf könnte man nicht nur aus meinem Berliner Wohnsitz und dem Deutsch als meiner bevorzugten Schriftsprache, sondern auch aus meinem typisch deutschen Namen "Berger" schließen. Er füllt in jeder deutschen Großstadt mehrere Seiten im Telefonbuch. Das trifft aber gleichermaßen auch auf französische Städte zu. Dort heißt "berger" übersetzt "der Schäfer", und dieser Name ist in Frankreich nicht weniger häufig vertreten als in Deutschland. Von meinen Verwandten hörte ich, eine Linie meiner Vorfahren sei aus dem deutsch-französischen Elsass nach Russisch-Polen ausgewandert. Dann trifft es sich doch ganz gut, dass ich in Frankreich geboren wurde. Das ist aber eher ein Zufall, denn meine polnisch-russisch-jüdischen Eltern sind vor Hitler, übrigens aus Deutschland, nach Frankreich geflohen. Doch aufgewachsen bin ich nach einer dreijährigen Zwischenstation in Belgien teils in Polen, teils in der ostdeutschen DDR und seit über vierzig Jahren bin ich Staatsbürger der west- und später gesamtdeutschen Bundesrepublik.

Nach diesem kurzen Exkurs in meine Genealogie kann ich nun den Versuch wagen, mich national zu definieren: Von Geburt bin ich ein Franzose, von Herkunft ein polnisch-russischer Jude, von meiner ersten Erziehung ein Pole, von weiterer Erziehung ein DDR-Deutscher, von Staatsangehörigkeit ein Bundesdeutscher.

"Ach was", wird der Kritiker ungeduldig einwenden, "was du hier anführst sind doch nur rein formale Gesichtspunkte. Es gibt aber auch emotionale Kriterien, und diese sollten hier den Ausschlag geben. Du musst dich zu etwas gehörig fühlen, dich zu etwas bekennen." Das scheint des Pudels Kern zu sein: "sich zu etwas bekennen." Das Bekenntnis sollte für mich das eigentliche Identifikationskriterium sein, nicht ein Territorium oder eine Landschaft, das wäre die Lösung. Ein Bekenntnis, nämlich zum Judentum, hat meine Vorfahren trotz schlimmster Verfolgungen zwei Jahrtausende in der Diaspora ausharren lassen. Ein anderes Bekenntnis, nämlich zum Marxismus oder zum Zionismus, hat meine nächsten Verwandten den Holocaust überleben lassen. Das spricht zugunsten eines Bekenntnisses. Doch wozu sollte ich mich heute bekennen, wenn mir das Judentum kaum weniger fremd ist, als eine beliebige andere Religion, wenn die augenscheinlichste Frucht marxistischer Utopie die schlimmste Despotie und die des Zionismus das endlose Gezänk Israels mit seinen Nachbarvölkern ist?

Es ist wesentlich leichter sich gegen etwas, als zu etwas zu bekennen. Wie der Marxismus ursprünglich ein Bekenntnis gegen die Ungleichheit der Menschen, ist der Zionismus ursprünglich ein Bekenntnis gegen die Unterdrückung der Juden durch andere Völker gewesen. So habe ich es auch in meinem Leben gehandhabt. Wenn ich mich in Polen dazu bekannte, ein Jude zu sein, war es ein Bekenntnis gegen die Intoleranz des Katholizismus. Wenn ich mich in der DDR dazu bekannte ein Pole zu sein, war es ein Bekenntnis gegen die preußische Variante des Stalinismus. Und wenn ich mich in der DDR dazu bekannte ein Jude zu sein, war es ein Bekenntnis gegen die aggressive, israelfeindliche Propaganda der Staatsführung und der Medien. Das war zugleich ein Verstoß gegen die Weisung meines Vaters, der nach der Ankunft unserer Familie aus Polen in die DDR den Kindern eingeschärft hatte: „Eure jüdische Herkunft behaltet für euch. Am besten ihr vergesst sie ganz.“ Denn obwohl er als Kommunist geglaubt hatte, im Sozialismus verschwinde die Basis für Diskriminierung jeder Art, misstraute er nach der Nazizeit der Mehrheit der Deutschen. Wir sollten lieber nicht auffallen, ein Teil der Mehrheit werden. Denn jedes Bekenntnis gegen die Mehrheit ist unbequem, manchmal auch gefährlich. Doch bequeme Stühle machen träge und immobil. Mobilität war aber die Lebensweise meiner Vorfahren, die ihnen das Überleben in einer feindlichen Umwelt ermöglichte, besonders in der Zeit der Verfolgung durch die Nazis.

Die Heimat meiner Vorfahren war der sprichwörtliche Rucksack mit der Thora als Inhalt. Sie trugen ihn nach Polen und von dort in zahlreiche Länder, auf einige Kontinente. Auch meinem Vater fiel als Erbe jener Rucksack zu. Er tauschte jedoch seinen Inhalt in Werke von Marx und Lenin. Ich sollte das von ihm begonnene Werk kommunistischer Weltveränderung vollenden helfen. So übernahm ich also von ihm den schweren Rucksack der Verantwortung für das irdische Glück der Menschheit, mit ihm aber auch den Widerspruchsgeist, der ihn selbst einst zum Ablegen des Glaubens seines Vaters getrieben hatte. Blatt für Blatt riss ich den Inhalt der dicken Bände aus, sie wurden dünner und dünner. Nun wandere ich durch die Welt mit einem leeren Rucksack.

Doch pardon, so ganz leer ist mein Rucksack nicht. Denn ein Requisit nehme ich immer mit, auf meine Abenteuerreise mit unbekanntem Ziel. Es ist ein Stuhl zum Verschnaufen, kein bequemer Stuhl, der würde nicht in den Rucksack passen. Nur ein schmaler Klappstuhl ist es, für den zwischen zwei bequemen Stühlen meist noch ein Plätzchen übrigbleibt.

 

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Gabriel Berger wurde 1944 in Valence in Südfrankreich geboren, wo seine aus Polen stammenden jüdischen Eltern mit falschen Papieren von Franzosen die Nazizeit überlebten. Seine Kindheit verbrachte er mit den Eltern in Belgien und in Polen. Seit 1957 lebte die Familie in der DDR. Gabriel Berger studierte an der TU Dresden Physik und war bis 1976 am Zentralinstitut für Kernforschung Rossendorf bei Dresden tätig. Nach einem Jahr Haft wegen „Staatsverleumdung“ übersiedelte er 1977 in die Bundesrepublik. Inzwischen ist er Rentner und Autor mehrerer Bücher.