Ein x-beliebiger Schultag

von Sabine Auerbach

Ausschnitt aus dem Buch „Unverhoffte Morgengabe“, Literareon 2015

Wir saßen auf den hörsaalartig angeordneten Klappstühlen im Physikraum. Lehrer Tröger stand hinter dem Versuchstisch und schob mehrere rechteckige Platten, gehalten von Metallständern, hin und her. An der Tafel hinter ihm war ein großes, rundes Gebilde zu sehen und die Überschrift Schnitt durch das menschliche Auge. Tröger beugte sich wieder und wieder zu seiner Versuchsanordnung hinunter, schmunzelte und begann schließlich den Unterricht, indem er in die Hände klatschend vor den Tisch trat. Heute sei, so gab er kund, ein neues, sehr interessantes Thema dran, nämlich die Lehre vom Licht. Und er sprach begeistert vom Licht, ohne dass wir unsere Welt gar nicht wahrnehmen könnten. Er redete von den Sonnenstrahlen, ohne die es kein Leben gäbe, schwärmte von der Helligkeit und Energie der Sonne und wies dabei auf die hohen Fenster des Raumes, die den Blick auf die Bäume des Schulhofes, auf die Straße dahinter freigaben, ja das Sonnenlicht, das da draußen auf alles fiele und von dort gestreut in das Innere der Räume gelange. Um dieses von außen einfallende Licht nun zu untersuchen, werde er jetzt gleich den Raum verdunkeln und wir würden den durch die Öffnung im Vorhang dringenden Lichtstrahl mit einem Schirm auffangen. Er wollte gerade zum Fenster gehen, um die schwarzen Rollos herunter zu lassen, als die der Fensterseite gegenüberliegende Tür aufging und der Rektor der Schule im weißen Kittel den Schauplatz betrat. Ohne eine Begrüßung eilte er zu Tröger und stellte sich neben ihn, Schulter an Schulter. Sie neigten die Köpfe seitwärts zueinander und der Rektor flüsterte etwas, was Tröger nickend zur Kenntnis nahm, ohne uns aus den Augen zu lassen. Wir starrten auf die beiden, geschah es doch selten, dass der Rektor im Unterricht eines Kollegen auftauchte.  Zu meinem Erstaunen deutete der Rektor plötzlich mit der rechten Hand auf mich, sah mich streng an und machte eine Kopfbewegung in Richtung Tür. Ich erhob mich reflexartig, wobei meine auf dem Sitz liegende Strickjacke zu Boden fiel. Ich hatte keine Zeit, sie aufzuheben, denn der Rektor hatte den Raum bereits verlassen. Auf dem Flur sah ich ihm erwartungsvoll ins Gesicht. Er wandte sich abrupt ab und lief wortlos in seinem wehenden weißen Kittel den Flur hinauf, sodass ich nur mit Mühe folgen konnte. Ich folgte ihm, natürlich. Während ich die Stufen hinaufstieg, wurde mir auf einmal übel und ich ergriff das Geländer. Im ersten Stock schlug der Rektor im selben Tempo den Weg zum Sekretariat ein, hinter dem sein Zimmer lag. Es musste etwas Schlimmes passiert sein, was er mir nicht auf dem Flur oder im Stehen sagen wollte oder konnte. Oder ich hatte irgendetwas gesagt oder getan, was ihm zu Ohren gekommen war und für das ich mich jetzt rechtfertigen müsste. Im Sekretariat angekommen wies er, mir weiterhin den Rücken zukehrend, auf die Tür zu seinem Arbeitszimmer: „dorthinein“, sagte er und es waren die ersten Worte an mich, solle ich gehen, „dort wartet jemand auf dich!“  Ich zögerte einen Moment, dann drückte ich die Klinke nieder, öffnete die Tür.

 

Hinter dem riesigen Schreibtisch des Rektors saß ein mir unbekannter Mann: Brille mit leicht

rosa getönten Gläsern, kurze dunkle Haare, Mitte dreißig, schlank. Verdutzt sah ich ihn an. Freundlich bat er mich, Platz zu nehmen. Und als er begann zu reden, lösten sich meine Ängste schnell auf. Weder Charlotte noch ein Vergehen von mir war der Grund meines Hierseins. Ich lächelte. Er nannte seinen Namen und der war mir bekannt.

Ich hatte ihn mehrmals von meinem Bruder gehört. Es war der Name des Geschichtslehrers, der jedoch seit einiger Zeit nicht mehr an der Schule unterrichtete. Mein Bruder hatte diesen Lehrer, der wegen einer wichtigen Aufgabe von der Schule schied, sehr vermisst. „Man sagt, er soll zur Firma gegangen sein“ hatte mein Bruder das damals kommentiert und das leise und mit einem gewissen Ton in der Stimme. Ja, zur Firma, da klang etwas Geheimnisvolles mit. Darüber sprach man nur andeutungsweise oder gar nicht. Das Wort „Firma“ gehörte zu jenen Begriffen, deren bloßes Aussprechen bei Charlotte einen stechenden Blick auslöste, stechender Blick, dann hob sie den Zeigefinger und legte ihn auf die ohnehin schon geschlossenen Lippen. Was bedeutete: genug, nicht weiter, schon ein Wort zu viel. Wer eine Beschäftigung bei der Firma annahm, unterschied sich künftig auf seltsam undurchsichtige Weise von normalen Menschen und verschwand nicht selten gänzlich. Dorthin verschwunden war der freundliche Nachbarsjunge Wolfgang, mit dem Franz jahrelang auf dem Hof gespielt hatte. Nach dem Schulabschluss lief er auf einmal wie verwandelt ordentlich gekleidet und mit einer Aktentasche durch die Straßen. Er nickte nur noch kurz, wenn er uns sah und wechselte schnell die Straßenseite. Eines Tages war er aus dem Städtchen verschwunden. „Sein Cousin soll bei der Firma sein“, hatte Franz gesagt, „und nun hat er Wolfgang wohl nachgeholt.“

Ich sei ihm, so sagte der Mann mit den leicht rosa getönten Brillengläsern, als äußerst zuverlässig benannt worden: verantwortungsbewusst, verschwiegen und mit einem festen Standpunkt zu unserem Staat, nun ja, er käme mit einer ganz bestimmten Absicht an diesen Ort, den er übrigens sehr gut kenne. Er wolle mir nun anvertrauen, wozu er und andere mich ausgesucht hätten. Er sprach ruhig, freundlich, leise, aber deutlich. Er sprach, als kenne er mich schon lange, was mich beruhigte, nachdem mich die Art des Rektors verängstigt hatte. „Du kennst doch sicher die Hollies?“ Ich antwortete prompt: „Na,klar kenne ich die!“ Und in diesem Na-klar schwang eine große Freude, Offenheit und Neugierde mit, denn die Hollies waren die Besten. Besser als die Beatles, die Bee Gees, die Stones oder Kings. I can’t tell the bottom from the top summte es in Kopf und Kehle, ein abgedunkelter Raum, wir tanzen eng miteinander, auf der Stelle, ich spüre Dieters Körper, seine Lippen auf meinem Hals, he ain’t heavy, he’s my brother… „Siehst du, und die Hollies wollen in ein paar Wochen in unsere Republik kommen!“ Ich öffnete den Mund, ohne etwas zu sagen. Das war nicht möglich. Jeder wusste, dass es unerwünscht war, Musik von drüben zu hören. Ich beugte mich zu ihm hinüber und fragte leise: „ist das wahr?“

 

Ein bitteres Lächeln glitt über sein Gesicht und verflüchtigte sich sofort wieder. „Unsere Regierung hat es für besser befunden, das Konzert wieder abzusagen. Der Klassenfeind ist bereits dabei, Krawalle zu organisieren. Und Rowdys gibt es leider auch bei uns, nicht viele, aber…“, er winkte ab.  „ich will das jetzt nicht näher erklären, du bist klug genug, dir so etwas vorzustellen. Unsere Genossen wissen, was der Jugend schadet. Nun wirst du dich fragen, was hat das alles mit mir, mit uns beiden hier zu tun?“ Ich nickte. Er faltete die Hände, beugte den Oberkörper weit nach vorn und schaute mir direkt in die Augen.  „Sieh mal, wir haben gehört, dass einige Jugendliche aus unserer Stadt die Absicht haben, zu diesem Konzert zu fahren. Wenn die jetzt erfahren, dass wir das Konzert abgesagt haben, kann es erst recht zu Unruhen und Zusammenrottungen kommen. Und genau darauf warten die da drüben, darauf sind die fixiert, und trainiert, von Randalen in unserem Land zu berichten, gegen unser Land und unsere Partei zu hetzen und das wegen eines abgesagten Konzerts und deshalb müssen wir wissen, wer in unserer Stadt, an dieser Schule vorhat, in die Hauptstadt zu fahren. Wir müssen Krawalle in den Zügen, aber auch Unruhen an dieser Schule verhindern und deshalb brauchen wir dich. Wir brauchen jemanden, der gut aufpasst, mithört, zuhört, was sich zusammenbraut, der Andeutungen versteht und sie uns diskret mitteilt, verstehst du das?“ Ich senkte den Kopf. Seine Worte, das, was sie bedeuteten, das, was dieser Mann von mir erwartete, traf mich und traf mich auch wieder nicht. Nichts Vergleichbares war mir bis dahin passiert. Ich wusste, dass Erwachsene logen und betrogen. Ich selbst hatte schon oft gelogen, in Nöten gelogen, und ich hatte schon mehrmals in einem Geschäft gestohlen. Noch nie aber hatte ich gehört, dass an jemanden solch ein Ansinnen gestellt worden wäre. Was dieser Mann von mir erwartete, konnte ich nicht mit Worten benennen. Das Gesagte irrte in meinem Kopf herum, meine Lider flackerten, meine Augen suchten auf der Schreibtischplatte etwas, woran sie sich hätten festhalten können, aber außer seinen gefalteten Händen war da nichts. Ich spürte, wie seine Augen mein Gesicht abtasteten. „Hast du mich verstanden?“, drang es aus der Ferne an mein Ohr. „Ja“, sagte ich schroff, „ich habe verstanden.“ Ohne zu verstehen, was das Ja bedeutete. Hitze stieg in mir hoch und mit ihr eine Ahnung, wo hinein ich mich mit diesem Ja begab. Der Mann stand auf: „Ich komme in drei Wochen wieder.“, sagte er ernst, aber nicht bedrohlich. Ich stand ebenfalls auf und sagte leise: „is gut“ Dann drehte ich mich um und verließ das Zimmer. Die Sekretärin saß an der Schreibmaschine und tippte, was ihr der Rektor vom Fenster aus diktierte. Ich sah die beiden wie zwei Schemen und stand auf einmal allein im Flur auf dem blankgebohnerten Fußboden des Städtischen Gymnasiums. Ich spürte nicht, wie ich mich in Richtung Treppe bewegte und die Stufen abwärts nahm. Aber ich gelangte wieder ins Erdgeschoss vor die Tür des Physikraumes.

 

Als ich sie öffnete, sah ich nur drei meiner Mitschüler vor der ersten Stuhlreihe stehen. Ansonsten war der Raum leer. Es war Hofpause. Die drei richteten ihre Blicke auf mich, ohne etwas zu fragen. Ich blieb wortlos vor ihnen stehen und hielt für ein paar Sekunden den Atem an. Mir war übel, es begann in meinem Bauch zu brodeln, mein Herz donnerte, mir war, als müsste ich platzen. Ich blies in die Wangen, dann stürzten die Worte aus mir heraus: „Stellt euch mal vor, da oben beim Rektor, da war einer, und stellt euch mal vor, was der erzählt hat und was der von mir wollte“, und die drei schauten mich aufmerksam an, und ich erzählte, was der von mir gewollt hatte, ich sagte alles, was ich behalten und verstanden hatte, ich redete schnell und spürte, wie unmöglich das Ganze war. Das Wort „bespitzeln“ stand mir damals noch nicht zur Verfügung, aber ich spürte, dass ich mit etwas Unheimlichen Bekanntschaft gemacht hatte und dass ich, indem ich es aussprach, davonkommen könnte, mich in dieses Unheimliche zu verstricken. Dennoch, ich hatte „ja“ und „is gut“ gesagt und er würde wiederkommen. Deshalb beschäftigte ich mich in den nächsten Tagen und Wochen damit, dass ich nichts in Erfahrung gebracht hatte. Ich übte, oft stundenlang vor dem Spiegel, glaubwürdig darüber zu reden, dass niemand in meiner Umgebung das vorhatte, wovon er geredet hatte. Dabei achtete ich darauf, dass ich allein im Raum war, dass vor allem Charlotte mich nicht sah und hörte. All das hätte ich mir freilich sparen können, denn als die dritte Woche verstrichen war, ohne dass er erschien, dann die vierte und fünfte, wurde mir klar, dass er nicht wiederkommen würde. Statt erleichtert zu sein, wurde ich nun noch unruhiger. Ich schlief schlecht, träumte nachts von diesem Mann und dass ich ihm Geschichten lieferte und schämte mich, wenn ich erwachte. Erst in dieser Situation der Ungewissheit und Verzweiflung hatte ich für kurze Zeit das Bedürfnis, Charlotte in dieses Gespräch einzuweihen. Es plagten mich unentwegt Gedanken, warum dieser geheimnisvolle Mann nicht wiederkam, nichts von sich hören ließ, warum ich mich nun offensichtlich nicht als vertrauenswürdig erwiesen hatte. Ich war fünfzehn und warf mir vor, die erste Prüfung meines Lebens nicht bestanden zu haben. Und gerade deshalb, wegen dieses Versagens erzählte ich der ewig mürrischen und von Kummer und Kopfschmerzen geplagten Charlotte dann doch nichts davon.