Pro: Sie war besser als ihr Ruf.
Ende Legende- Die Treuhand ist der Blitzableiter für alle Übel in Ostdeutschland. Aber objektive Daten zeigen: Sie war besser als ihr Ruf.
Von Norbert F. Pötzl[1]
Dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel wird der Satz zugeschrieben: „Wenn die Tatsachen nicht mit der Theorie übereinstimmen – umso schlimmer für die Tatsachen.“ Man könnte auch sagen: Wenn die Fakten den Vorurteilen im Weg stehen, werden die Fakten eben beiseite geräumt. Seit mehr als dreißig Jahren geht es so mit den Erzählungen über die Treuhandanstalt. Von Anfang an begleiteten Skandalgeschichten das Wirken dieser Institution, die im Juni 1990 gegründet wurde, um die „volkseigenen“ Unternehmen der DDR möglichst rasch zu privatisieren. Die Geschichte der Treuhand wurde von vielen als eine Aneinanderreihung von Gaunerstücken, Schiebereien und schlecht ausgehandelten Verträgen erzählt, gern auch mit der bösartigen Unterstellung, westdeutsche Manager seien mit der Absicht angetreten, ostdeutsche Unternehmen plattzumachen und als potenzielle Konkurrenten auszuschalten.
Die frühen, in den 1990er-Jahren entstandenen kritischen Publikationen über die Treuhandanstalt beruhten noch, aus Mangel an nachprüfbaren Quellen, im Wesentlichen auf den subjektiven, verständlicherweise sehr emotionalen Erzählungen von betroffenen Arbeitnehmern. Dass Menschen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, mit ihrem Schicksal hadern, dass sie Frust, Wut und Enttäuschung verspüren und Schuldige dafür suchen, lässt sich nachvollziehen. Der Verlust wog umso schwerer, als die sozialistische Arbeitswelt neben dem Arbeitsplatz Kindergärten, Polikliniken, Ferienheime und vieles mehr geboten hatte. Mit den Betrieben verschwand das gewohnte kulturelle und soziale Umfeld. Was lag da näher, als die Treuhandanstalt, die Unternehmen liquidierte, für alle Widrigkeiten verantwortlich zu machen, die mit dem Untergang der DDR über Ostdeutschland hereinbrachen?
Aber die arbeitslos gewordenen Werktätigen sahen nur das Ende ihres Betriebs, die Abwicklung, die sie als Einschläge aus heiterem Himmel wahrnahmen. Sie wussten nichts von den oft jahrelangen Versuchen der Treuhand, Betriebe trotz aller ökonomischen Schwierigkeiten am Laufen zu halten, bis sie dann doch vor den immer größer werdenden Verlusten kapitulieren musste.
Und die DDR-Bürger wussten nicht, wie sie von ihrer Regierung über die wirtschaftliche Lage ihres Landes belogen worden waren. Die SED-Propaganda hatte den Menschen seit den 1950er-Jahren weisgemacht, die DDR gehöre zu den zehn führenden Industrienationen der Welt. Viele Ostdeutsche fielen daher aus allen Wolken, als ihnen die Privatisierung der Betriebe durch die Treuhand vor Augen führte, dass der untergegangene Staat nicht das viel beschworene Weltniveau besaß, sondern sich im Zustand eines Entwicklungslandes befand.
Viele wollen es bis heute nicht wahrhaben, obwohl Detlef Scheunert, einziger Ostdeutscher unter den Treuhand-Direktoren, bekundete: „Jeder hat gewusst, dass [an den Betrieben] fast alles Schrott ist.“ Als persönlicher Referent des DDR-Ministers für Schwermaschinenbau, berichtete Scheunert, habe er um die Jahreswende 1989/90 viele Betriebe besucht und festgestellt: „Alles war zusammengefallen, Umweltverschmutzung, es war Dritte Welt, was sich dort abspielte.“[2]
Die Erinnerung an die Treuhand und den Transformationsprozess entwickelte sich zum „negativen Gründungsmythos einer ostdeutschen Opferidentität“, wie der in Schwerin geborene Geschichtswissenschaftler Ralph Jessen sagt.[3] Nach der Euphorie über die friedliche Revolution hatten die DDR-Bürger hohe Erwartungen, dass sie über Nacht dank D-Mark und Einheit denselben Lebensstandard wie die Westdeutschen haben würden. Als sich der nicht einstellte, wurde die Treuhandanstalt zum Blitzableiter für die enttäuschten Illusionen.
Die verbreitete Gefühlslage wurde alsbald gegen die alte Bundesrepublik instrumentalisiert. Vor allem die ehemalige DDR-Staatspartei SED und ihre Nachfolgerinnen PDS und Linke, die in den ostdeutschen Bundesländern über großen Einfluss verfügten, machten die Treuhand für Betriebsschließungen, regionale Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit verantwortlich, obwohl deren Ursachen im maroden Zustand der DDR-Wirtschaft lagen. Auch die rechtsextremistische „Alternative für Deutschland“ (AfD) nutzt inzwischen die Unzufriedenheit und erzielt damit in Ostdeutschland überproportionale Wahlerfolge.
Die Umkehr von Ursache und Wirkung lässt die Treuhandanstalt in den Augen vieler Ostdeutscher als Totengräberin der DDR-Wirtschaft erscheinen. Karl-Heinz Paqué, ehemaliger FDP-Finanzminister in Sachsen-Anhalt, und Richard Schröder, SPD-Fraktionsvorsitzender in der letzten, der einzig frei gewählten DDR-Volkskammer, sprechen von einem „Opfermythos Ost“ und einer „neuen Dolchstoßlegende“. Die ideologisch motivierten Treuhand-Kritiker behaupten, die DDR-Wirtschaft sei trotz einiger Schwächen funktions- und leistungsfähig gewesen. Mit gutem Willen und ruhiger Hand hätte man sie Schritt für Schritt in die neue Welt der globalen Marktwirtschaft überführen können, aber das sei nicht im Interesse der westdeutschen Industrie gewesen. Diese habe vielmehr ihren politischen Einfluss genutzt, um die Substanz der DDR-Wirtschaft zu zerstören oder zumindest fatal zu schwächen. Ihr Handlanger sei die Treuhand gewesen.[4]
Wie es tatsächlich um die DDR-Ökonomie stand, war den Regierenden in Ostberlin durchaus bekannt. Eine Untersuchung der DDR-Ministerien für Wirtschaft und Finanzen im Mai 1990 unter der Regierung von Lothar de Maizière ergab, dass lediglich 31 Prozent der Betriebe als rentabel galten; 42 Prozent arbeiteten mit Verlust, wurden aber immerhin als sanierungsfähig angesehen, während 27 Prozent als konkursreif eingestuft wurden.[5] Die Zahlen kamen der Bilanz der Treuhand recht nahe, als sie Ende 1994 ihre Arbeit einstellte: Aus den 8500 Betrieben, die die Privatisierungsbehörde im Sommer 1990 übernommen hatte, waren durch die Zerschlagung großer ineffizienter Konglomerate mehr als 12 000 entstanden, von denen etwa 3700 stillgelegt wurden, ziemlich genau 30 Prozent.
Bei der Anpassung an die Marktwirtschaft schlug auch die deutlich geringere Arbeitsproduktivität ostdeutscher Firmen zu Buche, die nur etwa ein Drittel der westdeutschen betrug.[6] Dies war einerseits den verschlissenen Fabrikanlagen und musealen Maschinenparks geschuldet, die einen höheren Personaleinsatz erforderten; andererseits lag es an dem in der DDR-Verfassung verbrieften „Recht auf Arbeit“, das zwar formale Vollbeschäftigung garantierte, aber auch jedem Ungelernten oder Minderqualifizierten eine Festanstellung sicherte.
Die von der DDR-Bevölkerung erzwungene Umtauschkurs von 1:1 bei der Währungsunion am 1. Juli 1990 bewirkte, dass die meisten ostdeutschen Betriebe nicht mehr wettbewerbsfähig sein konnten. „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr“, hatten die Menschen im Frühjahr 1990 skandiert – die damit angedrohte massenhafte Übersiedlung in den Westen hätte man nach dem Fall der Mauer nicht verhindern können. Die Währungsunion bedeutete aber auch, dass die DDR-Betriebe plötzlich DM-Löhne in gleicher Höhe wie vorher in DDR-Mark bezahlen mussten. Für Betriebe, die bis dahin zum amtlich festgesetzten Umrechnungskurs 1:4,4 in die Bundesrepublik exportierten, bedeutete dies, dass sich die Herstellungskosten über Nacht um 440 Prozent erhöhten.
Eine weitere Hypothek für die Treuhand stellten die sogenannten Altschulden dar. DDR-Unternehmen hatten praktisch ihre ganzen Gewinne an den Fiskus abzuliefern. Wenn sie investieren wollten, mussten sie Kredite bei den staatlichen Banken aufnehmen. Die zu privatisierenden Betriebe waren dadurch mit Schulden von insgesamt über 200 Milliarden DM belastet. Diese wurden zur Hälfte von der Treuhand abgelöst, zur anderen Hälfte musste sie Preisnachlässe bei der Privatisierung gewähren, was Mindereinnahmen zur Folge hatte.[7] Zudem bezahlte die Treuhand 150 Milliarden DM für Sanierungs- und Investitionsmaßnahmen sowie 43 Milliarden für die Beseitigung ökologischer Altlasten. Bei einem Bruttoverkaufserlös von gerade einmal 60 Milliarden DM blieb sie am Ende auf einem Defizit von 260 Milliarden DM sitzen.
Es war nicht der Treuhand zuzurechnen, dass viele Ostprodukte keine Käufer mehr fanden. Ostdeutsche verschmähten plötzlich die einheimischen Erzeugnisse und kauften stattdessen fast ausschließlich West-Waren. Auch in den ehemaligen sozialistischen Bruderstaaten fanden die Betriebe keine Abnehmer mehr: Der Handel innerhalb des Ostblocks war mit „Transferrubeln“, einer künstlichen Verrechnungseinheit, abgewickelt worden; mit harter Währung konnten die einstigen Partner nicht bezahlen.
All dies waren Faktoren, auf die die Treuhand keinerlei Einfluss hatte. Viele Treuhand-Kritiker übersehen oder leugnen diese Rahmenbedingungen, unter denen der Strukturwandel vorgenommen werden musste. Sie suchen die Schuld für Betriebsschließungen und Arbeitsplatzverluste allein in der Praxis der Privatisierungsbehörde. Vor allem ostdeutsche Autorinnen und Autoren (aber auch westdeutsche, die sich als Ossi-Versteher gerieren) beleben solche Legenden immer wieder, um „den Prozess der Wiedervereinigung und der Transformation als letztlich gescheitert“ zu bewerten, wie der aus Thüringen stammende Historiker René Schlott kritisiert. In den einschlägigen Büchern etwa von Daniela Dahn, Ilko-Sascha Kowalczuk oder Yana Milev manifestiere sich zudem ein grundsätzlicher „Widerwillen gegen die Einheit“.[8]
Die Verschwörungserzählungen fielen auf fruchtbaren Boden, weil sich die Horrorgeschichten von der angeblichen westlichen Kolonisierung lange Zeit nicht objektiv überprüfen ließen. Die Treuhandakten waren gemäß Bundesarchivgesetz 30 Jahre lang gesperrt. Das Bundesfinanzministerium als Aufsichtsbehörde der Treuhand hob die Sperre jedoch 2016 vorzeitig auf, so dass deren Schriftgut archivisch erschlossen werden konnte und nun für jeden und jede zugänglich ist. Ich habe im Herbst 2019 das erste Buch veröffentlicht, das sich im Wesentlichen auf diese Akten stützt und viele Legenden um die Treuhand widerlegt. „Wer sich in Zukunft zur Treuhand äußern will, muss dieses Buch lesen, weil es die erste Darstellung ist, die auf Akteneinsicht beruht“, empfahl Richard Schröder.[9]
Anhand der Vorstands- und Verwaltungsratsprotokolle kann man beispielsweise präzise nachzeichnen, wie die Treuhand versuchte über lange Zeiträume mit immensen Geldspritzen, das Überleben der Betriebe zu ermöglichen. Allein im Juli 1990, dem ersten Monat ihres Bestehens, reichte sie an 7.655 Unternehmen, das war seinerzeit fast der gesamte Bestand, 10,3 Milliarden DM an Liquidationskrediten aus, damit die Betriebe überhaupt die Löhne ihrer Beschäftigten bezahlen konnten.[10] „Plattmachen“ sieht anders aus.
Bei der Privatisierung, wird immer wieder behauptet, seien Ostdeutsche zu kurz gekommen und Westdeutsche bevorzugt worden. Angeblich seien 80 Prozent der Betriebe an westdeutsche Investoren verkauft worden, 15 Prozent an ausländische und nur fünf Prozent an Ostdeutsche. Dabei wird suggeriert, dass es sich um die Anzahl der Betriebe gehandelt habe – eine offenbar bewusste Irreführung der Öffentlichkeit. Denn die Prozentangaben beziehen sich auf die Verkaufserlöse. Logischerweise waren nur kapitalstarke westliche Konzerne in der Lage, große DDR-Betriebe zu übernehmen.
Tatsache ist: Von den 12.363 Betrieben, die schließlich durch Teilung entstanden waren, wurden 6.546 privatisiert, davon rund 2700, als „Management-Buy-out“; dabei hat meist ein ostdeutscher Geschäftsführer oder Betriebsleiter „sein“ Unternehmen übernommen (prominentestes Beispiel: die Sektkellerei Rotkäppchen), 1.588 Betriebe wurden ihren früheren, vom SED-Regime enteigneten Eigentümern zurückgegeben, also Menschen ostdeutscher Herkunft. 310 Betriebe gingen an kommunale, mithin ostdeutsche Träger. In diesen Zahlen nicht berücksichtigt sind die 22.340 „kleinen Privatisierungen“ von Geschäften, Kinos, Apotheken, Restaurants und Hotels, die fast durchweg von Ostdeutschen übernommen wurden.[11]
Der Treuhandanstalt wird im öffentlichen Diskurs auch die Alleinschuld an der Massenarbeitslosigkeit der 1990er-Jahre zugeschrieben, als rund drei Millionen Erwerbstätige ihre Arbeitsplätze verloren. Tatsächlich waren von den knapp neun Millionen erwerbstätigen DDR-Bürgern um den Jahreswechsel 1989/90 rund vier Millionen in den „volkseigenen“ Betrieben tätig, die im Sommer 1990 der Treuhand unterstellt wurden. Als diese ihre Tätigkeit aufnahm, waren in ihren Betrieben noch rund 3,5 Millionen Menschen beschäftigt. Daraus folgt, dass allein im ersten Halbjahr 1990, als es die Treuhand noch gar nicht gab, bereits eine halbe Million Beschäftigte aus diesen Betrieben ausgeschieden waren. Teils waren sie, als Pendler oder auf Dauer, in die alte Bundesrepublik gegangen; teils waren sie – trotz des noch geltenden Arbeitsschutzgesetzes der DDR – von ihren ostdeutschen Betriebsleitern entlassen worden, weil diese schon wussten, dass ihre Unternehmen mit dem bisherigen Personalüberhang im internationalen Wettbewerb keinesfalls würden überleben können.[12]
Von den rund 3,5 Millionen Menschen, die Mitte 1990 in den Treuhand-Betrieben beschäftigt waren, hatten 1995, nach dem Ende der Treuhand-Tätigkeit, rund 1,5 Millionen (42 Prozent) Arbeitsverträge mit den privatisierten Nachfolge-Unternehmen. Die Differenz von rund zwei Millionen schlüsselte sich folgendermaßen auf: Rund eine halbe Million (14 Prozent) war in Arbeitsförderungs- und Qualifizierungsmaßnahmen gewechselt, fast ebenso viele waren in Rente oder in den Vorruhestand gegangen (5 Prozent) oder hatten selbst gekündigt (8 Prozent), tatsächlich arbeitslos wurden knapp 600 000 (17 Prozent); bei etwa 400 000 war der Verbleib unbekannt.[13] Dagegen wurde jeweils etwa die Hälfte der 2,3 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst und der 260 000 Reichsbahner freigesetzt sowie fast 90 Prozent der 800 000 Mitarbeiter in den Landwirtschaftlichen Genossenschaften, die nicht der Treuhand unterstellt waren.
Inzwischen gibt es eine breit angelegte wissenschaftliche Untersuchung der Treuhand-Tätigkeit.[14] Aber es scheint, als trage die Arbeit der Experten wenig zur Rationalisierung der öffentlichen Debatte und zur Entmystifizierung der Treuhand-Erinnerungen bei.
Das Historikerteam untersuchte unter anderem die Entscheidungsprozesse, die zu den Privatisierungen oder Abwicklungen der Unternehmen führten. Die Treuhand habe dabei „nicht immer die zentrale Rolle“ gespielt, betont der Projektleiter Dierk Hoffmann, „vielmehr gab es eine Vielzahl von Akteuren, die maßgeblich mitgewirkt haben“, etwa Kanzleramt sowie Finanz- und Wirtschaftsministerium, aber auch ostdeutsche Landesregierungen sowie Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften. „Die Privatisierung war ein Aushandlungsprozess über die Zukunft der ostdeutschen Betriebe.“[15]
Dabei wurden, was nicht überraschen kann, auch Fehler gemacht. Auf dem Weg von der Plan- zur Marktwirtschaft, den die britische Premierministerin Margaret Thatcher einmal mit der „Rückverwandlung eines Omeletts in rohe Eier“ verglich, konnten die Akteure weder auf praxiserprobte Transformationstheorien zurückgreifen noch lieferte die Wissenschaft einheitliche Empfehlungen über den einzuschlagenden Weg.
Hätte es einen anderen, mit weniger harschen Nebenwirkungen einhergehenden Weg der Privatisierung gegeben? „Natürlich“, sagt der Wirtschaftshistoriker André Steiner vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, „gab es, wie immer in der Geschichte, Alternativen“. Die Frage sei nur, ob sie „im Interesse einer funktionierenden Wirtschaft in Ostdeutschland und eines selbsttragenden wirtschaftlichen Aufschwungs sinnvoll und bezahlbar gewesen“ wäre. Steiner kommt zu dem Schluss, dass „die gewählte grundsätzliche Form der Privatisierung vermutlich die günstigste“ war. „Alle anderen Varianten hätten wahrscheinlich neuer Dauer-Subvention bedurft und wären mithin irgendwann nicht finanzierbar gewesen.“[16]
„Das Bild von einer kriminalitätsdurchseuchten Institution wirkt bis heute nach“, konstatiert der IfZ-Historiker Rainer Karlsch, betont aber auch: „Die verfügbaren Zahlen rechtfertigen eine solch negative Bewertung nicht.“ Nur wenige Treuhand-Mitarbeiter seien wegen Vorteilsnahme oder Bestechlichkeit verurteilt worden, die nachweisbaren Schäden durch Wirtschaftskriminalität „waren geringer als vielfach vermutet“. Allerdings habe es „eine riesige Grauzone und eine große Zahl von Fällen individueller Kriminalität“ gegeben, denn die „besonderen Umstände nach Herstellung der deutschen Einheit“ hätten „erhebliche kriminogene Anreize für überwiegend westdeutsche ‚Betrügerpersönlichkeiten‘“ geboten.[17]
„Was der Behörde auch als Verdienst angerechnet werden“ könne, unterstrich IfZ-Projektleiter Dierk Hoffmann. Die DDR-Bürgerrechtler, die den Anstoß zur Gründung der Treuhandanstalt gegeben hatten, wollten verhindern, dass sich alte Seilschaften aus SED, Staatssicherheit und früheren Kombinatsleitungen „volkseigene“ Betriebe aneignen konnten. Das ist gelungen, weshalb in Ostdeutschland, anders als in Russland und anderen ehemaligen Ostblockstaaten, keine oligarchischen Strukturen entstanden.[18]
[1] Publizist, jahrelang Redakteur beim Spiegel, auch Redaktionsleiter Berlin in den 1990er Jahren
[2] Wolf-Sören Treusch: „Die DDR-Treuhandanstalt konstituiert sich“, Deutschlandfunk, 16.7.2015
[3]Ralph Jessen: „Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt. Einführung“, in: Sehepunkte Nr. 10/2023, 15.10.2023, https://www.sehepunkte.de/2023/10/forum/studien-zur-geschichte-der-treuhandanstalt-279/
[4] Karl-Heinz Paqué/Richard Schröder: „Gespaltene Nation? Einspruch!“, Basel 2020, S. 13
[5] „Präzisierte Fassung zur Feststellung der Rentabilitätslage der Betriebe/Unternehmungen“, 16.5.1990, in Treuhandanstalt (Hg.): „Dokumentation 1990-1994“, Bd. 2, Berlin 1994, S. 68
[6] Vgl. Bart van Ark: „The ManufactoringSector in East Germany. A ReassessmentofComparativeProduktivity Performance. 1950-1988“, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 36/1995, S. 75-100
[7]Deutscher Bundestag, Drucksache 13/5064, S. 22
[8]Vgl. René Schlott: „Widerwillen gegen die Einheit“, in: Der Tagesspiegel, 1.10.2019
[9] Norbert F. Pötzl: „Der Treuhand-Komplex. Legenden, Fakten, Emotionen“, Hamburg 2019
[10] Bundesarchiv B 412/8834, Bl. 79; B 412/8837, Bl. 80-82
[11] Paqué/Schröder, S. 174; Richard Schröder: „Der Schock“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.1.2021, www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/warum-sich-ostdeutsche-immer-noch-benachteiligt-fuehlen-17120333.html
[12]Bundesarchiv B 412/8834, Bl. 78; B 412/2564, Bl. 72; Jürgen Kühl/Jürgen Wahse: „Die Rolle der Treuhandanstalt für die Beschäftigungsentwicklung in Ostdeutschland“, in: H. Nickel/J. Kühl/S. Schenk (Hg.): „Erwerbsarbeit und Beschäftigung im Umbruch“, Berlin 1994, S. 131
[13] Treuhandanstalt: „Daten und Fakten zur Aufgabenerfüllung der Treuhandanstalt“, Dezember 1994, Bundesarchiv B 412/2993, Bl. 185; siehe auch Karl-Heinz Paqué: „Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der Deutschen Einheit“, München 2009, S. 46
[14] Ein Team von zehn Historikern des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) in München und Berlin hat vier Jahre lang 12 000 Regalmeter umfassende Akten der Treuhandanstalt systematisch ausgewertet. Die Ergebnisse dieser intensiven Forschungen wurden seit April 2022 sukzessive in elf Bänden veröffentlicht.[14] Vgl. Dierk Hoffmann (Hg.): „Die umkämpfte Einheit. Die Treuhandanstalt und die deutsche Gesellschaft“. Berlin 2022. Siehe auch die Beiträge der IfZ-Projekt_mitarbeiter D.Hoffman, A. Malycha und R. Karlsch.
[15]Nina Jeglinski: „Die Politik ließ die Treuhand an der langen Leine laufen“, Interview mit Dierk Hoffmann, in Das Parlament, 22.8.2022, www.das-parlament.de/wirtschaft/wirtschaft/die-politik-liess-die-treuhand-an-der-langen-leine-laufen
[16]Annette Schuhmann; „Beutezug Ost? Die Privatisierung der DDR-Wirtschaft in der Kritik“, Interview mit André Steiner, in Zeitgeschichte-online, Oktober 2010, zeitgeschichte-online.de/interview/beutezug-ost-die-privatisierung-der-ddr-wirtschaft-der-kritik
[17]Rainer Karlsch: „Grauzonen und Wirtschaftskriminalität. Die Treuhandanstalt: ein Spielball für ‚Betrügerpersönlichkeiten‘?“, in: Dierk Hoffmann (Hg.): „Die umkämpfte Einheit. Die Treuhandanstalt und die deutsche Gesellschaft“, Berlin 2022, S. 418
[18]Siehe Fn. 14