Fortschreibung des Berichtes zur sozialen Lage der SED-Opfer in Thüringen
Von Dr. Peter Wurschi[1]
2008 veröffentlichte das Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit den „Forschungsbericht zur sozialen Lage der Opfer des SED-Regimes“.[2] Es war die bundesweit erste umfassende repräsentative soziologische und sozialhistorische Analyse der damaligen Lebenssituation von Betroffenen und Opfern der SED-Diktatur. Dieser nunmehr 15 Jahre alte Bericht diente lange Jahre und zuweilen bis heute noch, als Grundlage für Diskussionen zu diesem Thema. Eine Überprüfung der damaligen Ergebnisse und damit eine Fortschreibung der 2008 unternommenen Untersuchung war überfällig. Mittlerweile liegen für die Länder Brandenburg und Berlin ähnlich gelagerte Untersuchungen vor, die die materiellen, sozialen und gesundheitlichen Lebenslagen von Betroffenen und Angehörigen[3] bzw. den vollständigen Rehabilitierungsprozess[4] in den Fokus der Analyse stellen. Der Thüringer Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (ThLA) schrieb für 2020 die „Fortschreibung des Berichtes zur sozialen Lage der Opfer der SED-Diktatur“ aus, bei der die Bietergemeinschaft „Zeitspuren: SED-Verfolgte in Thüringen heute“[5] als Auftragnehmer hervorging. Es ist höchst erfreulich, dass nun der erste Teil dieser Folgestudie erscheint. Die darin gesammelten Daten und Analysen ermöglichen es, die aktuelle soziale Lage der Betroffenen in Thüringen detailliert abzubilden und weiter die tatsächliche Auswirkung von staatlichem Handeln infolge erlassener Gesetze zu analysieren.
Die erste Studie kam 2008 zum Schluss, dass die Opfer der SED-Diktatur im übergroßen Maße mit einem unterdurchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommen wirtschaften müssen. Durch frühe verfolgungsbedingte Einschnitte in ihrer Biografie wurden sie oftmals an einer normalen Ausbildungs- und Erwerbslaufbahn gehindert, sodass staatliche Eingriffe der DDR-Organe sich auch weit über das Ende des Staatssozialismus in ihrem Leben perpetuieren. Zur bescheidenen finanziellen Situation addierte sich häufig ein signifikant schlechterer Gesundheitszustand im Vergleich zum Durchschnitt der Thüringer Bevölkerung. Des Weiteren wurde dargelegt, dass die überwiegende Mehrheit der Opfer der SED-Diktatur sich mit der Rehabilitierungspraxis in Thüringen zufrieden zeigte, allgemein aber eine „Gerechtigkeitslücke“ beim Vergleich der eigenen sozialen Lage mit jener ehemaliger SED-Funktionsträger empfunden wurde.
Der nun vorliegende Bericht nimmt die damaligen Forschungsergebnisse wieder auf, fragt sie zum Teil erneut ab und setzt die Ergebnisse miteinander in Bezug. Damit entsteht erstmals ein regionaler Längsschnitt, auf dessen Basis ersichtlich wird, inwieweit sich die Wahrnehmung auf die Betroffenen der SED-Diktatur bei der Bevölkerung verändert hat, wie sich die Betroffenen selbst wahrnehmen und inwieweit staatliches Handeln bei ihnen ankommt. Dafür wurde ein Studiendesign entwickelt, dass sowohl quantitativ und qualitativ repräsentative Aussagen berücksichtigt.
Die in diesem ersten Teil des Sozialberichtes erscheinende quantitative Studie von Thomas Ritter untersucht auf Grundlage einer repräsentativen Telefonumfrage (1042 befragte Personen) unter der thüringischen Bevölkerung im Jahre 2020 die „Akzeptanz des Wiedergutmachungsprozesses“.[6] Damit wird noch einmal grundlegend der Außenblick der Mehrheitsgesellschaft auf die Aufarbeitung der SED-Diktatur und die sozialen Unterstützungsleistungen für die Opfer der Diktatur analysiert.
Den Blick der Betroffenen auf diese Leistungen und die Meinung der Mehrheitsgesellschaft unter- sucht Ronald Gebauer in seiner ebenfalls quantitativ angelegten Studie „Soziale Lage der Betroffenen des SED-Unrechts – eine quantitative Studie“.[7] Dafür wurden 5000 Fragebögen in kollegialer Zusammenarbeit mit dem Thüringer Landesverwaltungsamt (TLVwA) an in Thüringen lebende und politisch rehabilitierte Verfolgte der SED-Diktatur versandt. Aus den zurückkommenden Antworten konnte von 453 Personen ein repräsentativer Datensatz erhoben und ausgewertet werden. Dies bedeutet noch einmal eine erhebliche Verbreiterung des Datensatzes im Vergleich zu 2008.[8] Beide Sichtweisen – hier der Blick der Mehrheit auf sich und die Minderheit der in der DDR politisch Verfolgten und dort, der Blick dieser Minderheit auf sich und die Mehrheit der DDR-Bevölkerung, werden in den Studien miteinander in Beziehung gesetzt und legen dadurch umso gründlicher die Entwicklung der letzten 15 Jahre dar.
In einem folgenden zweiten Teil des Forschungsberichtes wird der Blick der Betroffenen auf ihre soziale Lage und die Verortung in der Gesellschaft auf Grundlage von 40 Interviews noch einmal in einer qualitativen Studie exemplarisch verdichtet. Diese drei unterschiedlichen Perspektiven auf die Betroffenen und ihr Erleben ermöglichen einen differenzierten Blick ihrer sozialen Lage.
Den Mitgliedern der Bietergemeinschaft „Zeitspuren: SED-Verfolgte in Thüringen heute“ ist ein großer Dank für die Erhebung der Daten, deren Analyse und Einordnung zu sagen. Auch in harten Lockdownzeiten und unter den Einschränkungen der Pandemie blieben sie 2020/21 am Thema, überzeugten Menschen zum Interview und analysierten Daten, Gespräche und Akten. Ihre Erhebungen und Ausarbeitungen sind Grundlage für diesen Bericht. Der hier vorliegende erste Teil des Forschungsberichtes hat im Sinne der besseren Lesbarkeit die Teilberichte B (Thomas Ritter) und C (Ronald Gebauer) der „Fortschreibung des Berichtes zur sozialen Lage der SED-Opferin Thüringen “zusammengefasst, redaktionell leicht gekürzt und orthographisch überarbeitet sowie die Daten grafisch aufbereitet.
Mit Blick auf die nun vorliegenden Ergebnisse der beiden Studien in diesem ersten Teil lassen sich sieben grundlegende Aussagen festhalten:
1. Die historischen Einschätzungen der DDR bleiben bei der thüringischen Bevölkerung widersprüchlich und ambivalent. Gespräche über die DDR nehmen ebenso ab wie die Benennung von Ungerechtigkeiten in der sozialistischen Diktatur. Gleichwohl bleiben diese aber der überwiegenden Mehrheit der thüringischen Bevölkerung präsent. Die aktuelle Lebenswirklichkeit rückt dabei immer mehr in den Vordergrund und führt zu höchst widersprüchlichen Ergebnissen: Die DDR wird 2020 rückblickend nur geringfügig negativer bewertet als die Bundesrepublik von heute. Allerdings wollen auch nur fünf Prozent zur sozialistischen Ordnung wieder zurückkehren. Konkret nachgefragt trübt sich das Bild der DDR bei den Befragten und einzelne Lebensbereiche werden deutlich negativer bewertet. Der positiven Gesamtbewertung der DDR steht dem allerdings nicht entgegen.
2. Ähnlich verhält es sich mit dem Interesse und der Wahrnehmung der Aufarbeitung des SED- Unrechts. Diese ist zweigeteilt: Eine Hälfte ist damit zufrieden, die andere nicht. Wobei sich die Kritik bei den Unzufriedenen zwischen den Polen „es wird sich viel zu viel“ mit der Aufarbeitung der DDR befasst und „es ist immer noch viel zu wenig“ einordnet.
3. Dass die Betroffenen der SED-Diktatur zu Recht rehabilitiert werden, erfährt in der thüringischen Bevölkerung eine breite Zustimmung, die auch im Vergleich zu 2008 noch einmal angestiegen ist. Diese hohe Akzeptanz ist Voraussetzung, um einer Stigmatisierung der Verfolgten entgegen zu wirken und das an ihnen begangenen Unrechts anzuerkennen. Hier kann davon ausgegangen werden, dass die umfangreiche historische Aufarbeitung und die vielfältige gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Repression und Unrecht in der SED-Diktatur zu diesem Zuwachs beigetragen haben.
4. Wird der Blick jedoch konkret, dann zeigt sich, dass im Auge der befragten Thüringerinnen und Thüringer beispielsweise Betroffene, die nach §249 StGB der DDR („Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten“ - der sogenannte „Assi“-Paragraph) verurteilt wurden oder als Kinder und Jugendliche in einem Jugendwerkhof eingewiesen wurden, weniger Anspruch auf soziale Ausgleichsleistungen haben sollten, die mit dem Rehabilitierungsprozess einhergehen. Die Einschätzung zur Rehabilitierung von Betroffenen und ihres daraus folgenden Anspruchs auf Leistungen sowie die Bewertung der sozialistischen Alltagsrealität, speist sich bei vielen Befragten aus ihrem eigenen (oder dem Ihnen vermittelten) damaligen Erlebten. Die in der Studie durch- geführte Gruppierung der Befragten nach der Typisierung von Akzeptanzorientierungen zeigt die verschiedenen Möglichkeiten der Bewertung und Wertorientierungen auf.
5. Für die Betroffenen ist dieser widersprüchliche Blick der Mehrheitsgesellschaft oft nur schwer auszuhalten. 60 Prozent der in der Studie Be- fragten geben an, dass sie stark bis sehr stark vom Unrecht in der DDR betroffen waren. Zugleich haben sie dazu das Gefühl, sich auch weiterhin für ihr beschädigtes Leben in der DDR rechtfertigen zu müssen und von einigen Ostdeutschen in der Mehrheitsgesellschaft mit einem lapidaren „wird schon was gewesen sein“ als Täter stigmatisiert zu werden. Diese Unsicherheit über die Verortung in der (ost- deutschen) thüringischen Gesellschaft wird gestützt durch eine Reihe von merkenswerten Ergebnissen:
- Die Betroffenen des SED-Unrechts sind in hohem Maße stark/sehr stark politisch interessiert und bewertenden Alltag in der DDR vorwiegend negativ.
- Die befragten Betroffenen fühlen sich auch weiterhin von der Mehrheitsgesellschaft stigmatisiert. Jeder Vierte hat das Gefühl, nicht offen über das eigene Erlebte reden zu können, bzw. dass Andere denken, dass sie selbst daran Schuld tragen.
- Die Betroffenen sind vielfältig gesellschaftlich aktiv, in Garten- oder Sportvereinen und in den Kirchgemeinden. Sie nehmen größtenteils am gesellschaftlichen Leben teil und können somit als gesellschaftlich integriert angesehen werden.
6. In der Längsschnittstudie zeigt sich, dass die Betroffenen 2022 im Vergleich zu 2008 über ein höheres Haushaltseinkommen verfügen und dass sie mit ihren Wohnverhältnissen überwiegend zufrieden oder sehr zufrieden sind. Da- neben ziehen sich die Folgen der restriktiven Eingriffe des SED-Staates weiter durch viele Biografien. Ein im Vergleich zur thüringischen Bevölkerung höherer Teil der Betroffenen befindet sich 2022 in vorgezogener Altersrente bzw. in einer Rente wegen Krankheit oder Behinderung. Die aufgrund der beruflichen Verfolgung in der DDR erlittenen Nachteile hinsichtlich von Berufs- oder Studienabschlüssen und der damit verwehrten Berufswege konnten nach 1990 nur teilweise kompensiert oder aufgeholt werden. Der Anteil von Nicht- bzw. Gering-Qualifizierten unter ihnen ist mit zwölf Prozent weiterhin deutlich höher als unter den vergleichbaren Geburtsjahrgängen der gesamten Bevölkerung Thüringens. Der gesundheitliche Zustand der Betroffenen ist im Vergleich zur Gesamtbevölkerung weiterhin als signifikant schlechter einzuschätzen.
7. Die Zufriedenheit mit dem Prozess der eigenen Rehabilitierung stieg bei den Betroffenen seit 2008 um neun Prozent (sehr zufrieden/zufrieden) auf 54 Prozent der Befragten. Auch eine höhere Zufriedenheit mit den erhaltenen Ausgleichsleistungen ist festzustellen, was mit der Einführung der sogenannten „Opferrente“ im Jahr 2007 im Zusammenhang steht. Fast zwei Drittel der Thüringer Betroffenen (bzw. 65 %) ziehen eine positive Gesamtbilanz bei der Einschätzung ihrer Lebenszufriedenheit insgesamt. Gleichwohl sind aber auch 2022 24 Prozent der Befragten mit dem Prozess der Rehabilitierung unzufrieden. Hier besteht weiterhin Handlungsbedarf in Verwaltung und Justiz hinsichtlich der Verkürzung der Dauer von Antragsverfahren und die Thematisierung der wahrgenommenen Ungerechtigkeiten in der Ausgestaltung der Ausgleichsleistungen gegenüber dem Gesetzgeber.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass staatliches Handeln seine Wirkung entfaltet. Die Intention der SED-Unrechtsbereinigungsgesetze, nämlich den am schwerwiegendsten Betroffenen Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für ihr individuell erlittenes Unrecht zukommen zu lassen, wird von den ehemals Verfolgten in Thüringen in Anspruch genommen und kommt bei ihnen an. Die bis 2021 erfolgten sechs Novellierungen der SED-Unrechtsbereinigungsgesetze zeigen, dass das mittlerweile bekannt gewordene Ausmaß und die Vielfältigkeit der Verfolgung in der ehemaligen DDR ein kontinuierliches Handeln des Gesetzgebers erfordern. Mit der Entfristung dieser Gesetze im Jahr 2019 wurde aus Sicht der Thüringer Betroffenen ein wesentlicher und lange geforderter Schritt endlich umgesetzt, an den sich aus ihrer Sicht weitere Erwartungen und Wünsche knüpfen:
- Den Betroffenen ist es weiterhin wichtig, dass die wissenschaftliche Forschung hinsichtlich der Langzeitfolgen verfolgungsbedingter Gesundheitsschäden weiter fortgesetzt und intensiviert wird und die Ergebnisse adäquat in die Gesetzgebung einfließen, sodass die Aussicht auf eine Anerkennung ihres Leidens auch nach mehr als 30 Jahren möglich ist.
- Angesichts des fortschreitenden Alters der Betroffenen ist der Ausbau der Hilfen im Alter (erleichterte Zugänge zum Gesundheitswesen, altersgerechte Unterstützung in Fragender Mobilität, Hilfen beim Eintritt der Pflegesituation bzw. beim Übergang in ein Heim) in den Blick zu nehmen.
- Die Erweiterung der Anspruchsberechtigung der sogenannten „Opferrente“ auf weitere Opfergruppen ist Anliegen vieler Betroffener. Gleichzeitig sollten die Renten der Nutznießer des SED-Regimes stärker begrenzt werden.
Ein wichtiges Instrument, um auf die aktuelle soziale Lage der Betroffenen angemessen zu reagieren, nahm zum 1. Juni 2022 in Thüringen die Arbeit auf. Der „Härtefallfonds für die Gewährung von Unterstützungsleistungen an die in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR aus politischen Gründen Verfolgte sowie an Opfer des DDR-Zwangsdopings“[9] – von vielen Betroffenen immer wieder gefordert –, fungiert als zusätzlicher Baustein bei der Linderung von heute noch vorliegenden verfolgungsbedingten wirtschaftlichen Notlagen. Antragsberechtigt sind rehabilitierte Betroffene bzw. anerkannte Dopingopfer mit Wohnsitz im Freistaat Thüringen, die in ihrer wirtschaftlichen Lage in besonderem Maße beeinträchtigt sind.
Unabhängig davon ist der Wunsch und die Forderung zu betrachten, den ehemaligen DDR-Heimkindern, die nach Auslaufen des Fonds Heimerziehung im Jahr 2018 nicht mehr berücksichtigt werden konnten, in Thüringen eine einmalige Hilfe zugänglich zu machen. Dies sollte zeitnah in die politische Umsetzung gebracht werden.
Die Betroffenen machen in der Studie deutlich, dass ihnen eine fachkompetente und menschlich empathische Beratung sowie die Unterstützung bei den oft unübersichtlichen rehabilitierungsrechtlichen Voraussetzungen und verwaltungstechnischen Vorgaben außerordentlich hilft. Auch die Unterstützung bei der Schicksalsaufklärung und Archivrecherche, beispielsweise bei Fragen zu Haft- und Verurteilungsunterlagen, zu Akten der Jugendhilfe, bei ungeklärten Todesfällen oder bei erfolgten Adoptionen und der Schicksalsaufklärung bei frühverstorbenen Säuglingen wird gerne angenommen. Neben diesen administrativen Hilfestellungen ist es aber gerade das zuhörende Ohr eines längerfristig zur Verfügung stehenden Gesprächspartners, das von den Betroffenen geschätzt wird. Die ca. 1000 jährlichen Anfragen beim ThLA spiegeln dieses Bedürfnis wider. Die Entfristung der Gesetze 2019 führt zu weiteren Anträgen und dem Wunsch nach umfassenderer Beratung und weiterer Aufklärung. Mittlerweile sind beim Landesbeauftragten vier Beraterinnen und Berater tätig. Zu den ursprünglichen Aufgaben (Beratung zur Rehabilitierung), kamen durch die Integration der Anlaufstelle des Fonds Heimerziehung und dem Angebot von landesweiten dezentralen Gruppenangeboten für Menschen mit Diktaturerfahrungen neue Formen der Beratungsarbeit hinzu. Um den Bedürfnissen der Betroffenen nach niedrigschwelliger unkomplizierter Erreichbarkeit entgegen zu kommen und kurze Wege zwischen der Beratung zur Rehabilitierung und der Antragstellung zum Härtefallfonds zu ermöglichen, eröffnet der ThLA zum 02.01.2023 eine Beratungsstelle in unmittelbarer Nähe seines Dienstsitzes beim Thüringer Landtag.
Zwei Drittel der Betroffenen geben an, dass die Möglichkeit sich mitzuteilen und über die eigene Biografie zu sprechen, ihnen guttut. Das andere Drittel empfindet solche Gesprächssituationen als belastend, weil sie das Gefühl haben, sich für ihr Leben rechtfertigen zu müssen bzw. stigmatisiert zu werden. Daher wird es für Politik und Gesellschaft entscheidend sein, auf die Betroffenen zu- zugehen und ihnen zuzuhören. Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist nicht als Aufgabe anzusehen, die sich eine Gesellschaft nur dann leistet, wenn es ihr finanziell gut geht. Die Auseinandersetzung mit der SED/DDR-Vergangenheit und dem Leben in einer Diktatur gehört zur Aufgabe aller. Es ist der Weg, um den Wert der Demokratie zu erkennen und ein Leben in Freiheit – mit all seinen Aufgaben – wertzuschätzen. Dafür sind die gesellschaftliche Wahrnehmung und Würdigung des Schicksals der Betroffenen der SED-Diktatur von unschätzbarem Wert. Das Sichtbarmachen von unangepasstem, (zivil)couragiertem, oppositionellem oder widerständigem Verhalten in der DDR stärkt die Resilienz einer demokratischen Gesellschaft gegenüber Illiberalismus und der Verführung zu autokratischem Denken.
Allen Befragten der beiden Studien und insbesondere den Betroffenen, die sich der Aufgabe gestellt haben, ausführlich über ihr Leben zu berichten und sich der Mühe unterzogen, den umfangreichen und detaillierten Fragebogen auszufüllen, gebührt mein großer und herzlicher Dank. Ihre Biografien ermöglichen den unverstellten Blick in eine Diktatur, in der die SED jeden, den sie nicht als der sozialistischen Norm und Moral entsprechend ansah, rücksichtslos verfolgte. Dies machte selbst vor Kindern und Jugendlichen nicht halt, die schon früh in ihrem Leben mit den repressiven Mechanismen der Diktatur konfrontiert wurden. Auch den am Telefon interviewten Thüringerinnen und Thüringern ist Dank zu sagen, dass sie sich die Zeitnahmen, in ihrem Alltag innezuhalten und sich den Fragen zu stellen. Die Ergebnisse der beiden Studien zeigen auf, dass es die Sprachlosigkeit
zwischen den verschiedenen Erlebniswelten in der ehemaligen DDR zu überwinden gilt und diese auch überwunden werden kann. Respektvoll die Biografie des Anderen anzuerkennen und miteinander über die erlebten Erfahrungen in und mit der Diktatur ins Gespräch zu kommen, ist dabei genauso wichtig, wie den Betroffenen Raum und Öffentlichkeit für ihre Lebensberichte und -erinnerungen und die damit verbundene Würdigung ihrer Erfahrungen zu geben. Nur eine solche auf Respekt gründende und sich um das Zuhören bemühende Auseinandersetzung über das Leben in der Diktatur lässt ein umfassendes Bild der DDR-Wirklichkeit entstehen, mit dem nachfolgen- den Generationen der Wert von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vermittelt werden kann.
[1] Thüringer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur Erfurt 2022
[2] Heinrich Best/Michael Hofmann(et.al.): Zur sozialen Lage der Opfer des SED-Regimes in Thüringen, hrsg. vom Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit, Erfurt, 2008.
[3] Eva Schulze/Dominikus Vogl/Gerlinde Kaul/Janika Gabriel: Studie zu aktuellen Lebenslagen von Menschen aus dem Land Brandenburg, die in der SBZ/DDR politisch verfolgt wurden oder Unrecht erlitten und deren mitbetroffenen Familien, hrsg. von der Beauftragten des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Gewaltherrschaft, Potsdam, 2020.
[4] Eva Schulze/Janika Gabriel/Felix Bader/Hanne Balzer/Dominikus Vogl: Empirische Studie zur Bestandsaufnahme und Bewertung von Maßnahmen für politisch Verfolgte der SED-Diktatur in Berlin im Zeitraum von 1990 bis 2020. Sachstandsbericht zur Aufarbeitung der SED-Diktatur im Land Berlin – Teil 1, hrsg. vom Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin,2022.
[5] Dr. Agnes Arp, Dr. Ronald Gebauer, Prof. Oliver W. Lembcke, Manfred May unter Mitarbeit von Till Goßmann und Thomas Ritter.
[6] Thomas Ritter: Akzeptanz des Wiedergutmachungsprozesses, hrsg. vom Thüringer Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (ThLA), Erfurt, 2022.
[7] Ronald Gebauer: Soziale Lage der Betroffenen des SED-Unrechts – eine quantitative Studie, hrsg. vom Thüringer Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (ThLA), Erfurt, 2022.
[8] Im Bericht 2008 wurden 1.200 Fragebögen versandt. Davon kamen 368 zurück, von denen wiederum 336 auswertbar waren.
[9] Thüringer Staatsanzeiger, Nr. 18/2022, S. 558–561.