Rezension: Thomas A. Seidel, Sebastian Kleinschmidt (Hrsg.), Angst, Glaube, Zivilcourage,
Folgerungen aus der Corona-Krise, Brockhaus-Verlag 2025
Von Jochen Goertz
Nach “Angst, Politik, Zivilcourage, Rückschau auf die Corona-Krise" nun also dieses Buch, im Impressum als grundlegend überarbeitete und erweiterte Auflage des vorgenannten vorgestellt.
Neue Autoren sind dazu gekommen, manche Beiträge weggelassen (z.B. Vera Lengsfeld und Heimo Schwilk, dessen antisemitisch konnotierter Beitrag zur Depublikation des Buches in der Evangelischen Verlagsanstalt geführt hatte). Aus dem Kapitel “Profile der Furchtlosigkeit” wird “Für eine konsequente Aufarbeitung” mit vollständig neuen Beiträgen, und in den beiden ersten Abschnitten werden die Kapitelüberschriften und der Beitrag von Sebastian Kleinschmidt neu platziert.
Neu sind auch die Geleitworte von Christine Lieberknecht, die mit der Bemerkung aufhorchen lässt, wie ihr der christliche Glaube in der DDR das Rüstzeug gegeben habe, “mit dem ich es wagte, dem staatlichen Zugriff die Stirn zu bieten” und das vom Nius-Redakteur Alexander Kissler.
Zu den Beiträgen von Sebastian Kleinschmidt, Rochus Leonhardt, Andre Kruschke, Erich Freisleben und Kathrin Schmidt verweise ich auf meine unter h-und-g.info/forum/schwerpunkt-3/23-umwelt/j-goertz veröffentlichte Rezension zum 2023 erschienenen ersten Buch, die ich dieser Rezension hinzufüge.
Handelt es sich bei diesen zwar z.T. um überarbeitete Beiträge, so liefern sie aber doch substanziell nichts Neues. Immerhin wird den Lesern nicht mehr die unsäglichen Betrachtungen der Vitamin D, Selen und Zink propagierenden Kathrin Schmidt über die vermeintlichen Ursachen des Überfalls Russlands auf die Ukraine zugemutet.
Hervorzuheben erscheinen mir die Abhandlungen der ehemaligen Familienministerin Kristina Schröder und, für mich als Theologen besonders nahegehend, die des Herausgebers Thomas A. Seidel, von Dorothea Wendenbourg und Wichard von Heyden.
Schröder beklagt den nonchalanten Umfang mit der Corona-Krise, die von ihr beobachteten Exzesse in der Pandemie seitens der Politik, die anstelle vernunftgesteuerter Abwägung dominiert haben sollen. Z.B. wären die Gefahren von Magersucht und Übergewicht von Jugendlichen vernachlässigt worden. Aber auch die rigiden Zugangsbeschränkungen in Krankenhäusern und Pflegeheimen für Angehörige hinterfragt sie. Der Rezensent, der in dieser Zeit für die seelsorgliche Begleitung in 7 Pflegeheime als Gemeindepfarrer in Mitverantwortung stand, kann hier nicht nachvollziehen, dass das Prinzip “der Zweck heiligt die Mittel” anstatt Risikoabwägung gegolten hätte. Besonders perfide wird es aber, wenn sie das Verantwortungsbewusstsein von Pfarrern abwägt, die im Konfirmandenunterricht unterschiedliche Strategien entwickelt haben, mit den gesetzlichen Vorgaben umzugehen. Sie wirft in diesem Zusammenhang den Kirchen vor, naturalistisch einem Wissenschaftsbegriff gehuldigt zu haben, die der Wissenschaft nicht das Recht auf normative Werturteile den Vorrang gegeben habe. Ihr demokratietheoretisches Verständnis, das “Richtige” sei das, was eine Mehrheit für das Richtige hält, ist widersprüchlich und diskutabel.
Thomas A. Seidel ruft in seinem Beitrag zur Jesus-Nachfolge auf. Martin Luther, Albert Camus und Benediktinerpater Notker Wolf werden ihm Kronzeugen der Lebenslust gegen die Todesfurcht. Die Unterscheidung zwischen Gott sein und Mensch sein mündet bei ihm aber in eine gnostische Theologia gloriae von “fantastischer, geheimnisvoller” Geborgenheit, in der wir den Tod nicht mehr fürchten müssen, sondern “auferweckt sind zum neuen Leben”.
Dorothea Wendenbourg verweist auf die “Schlupflöcher der Gnade”, die Christenmenschen wahrgenommen hätten trotz der Bereitwilligkeit der Kirchen, sich das Verbot ihrer Gottesdienste gefallen zu lassen, und ihrer Klaglosigkeit, daß “Zehntausende allein litten und starben”. Mir ist in diesem Zusammenhang das Bild vor Augen, wie in Bergamo am Anfang der Pandemie ein Priester den Virus aus einem Altenheim in ein Krankenhaus (oder umgedreht) bringen konnte und ja nicht nur sich selbst gefährdete. Gnade? Vertrauen in die eigene Arznei kann die auch nicht ersetzen.
Noch radikaler argumentiert der Gemeindepfarrer Wichard von Heyden (man erfährt in den ansonsten sehr ausufernden Kurzbiographien leider nicht den Ort seines Wirkens):
“Eine ganze Bevölkerung wurde traumatisiert”. Den Protest der Kirchen “gegen einsames Sterben, Dahinvegetieren der Dementen auf den Demenzstationen, Wegsperren der Kinder, Verjagen von Alten und Jungen von Parkbänken, Behindern von freier Meinungsäußerung” hat er vermisst. Auch die, die “disziplinarrechtlich behandelt” worden sind, müssten rehabilitiert werden. Er berichtet von “Demonstrationen, bei denen ganze Demonstrationszüge das Vaterunser gebetet und Kirchenlieder gesungen haben sollen”. Kirche hätte hier Brückenbauer sein und “wahre Solidarität” zeigen können. Immerhin hütet er sich das “Corona-Regime” mit der DDR oder dem Dritten Reich gleichzusetzen, aber die Uniformierung durch die Masken stelle dann doch einen Zusammenhang her. Von Heyden fordert nicht nur ein Schuldbekenntnis der Kirche, Rehabilitierung der glaubwürdigen Kritiker, sondern auch deren zentrale Einbeziehung in die Aufklärungsarbeit der “zugelassenen gesellschaftlichen Dystopie”. Er möchte den erfahrenen Ausnahmezustand überwinden, indem die Kirchen entsprechend “dem messianischen Ausnahmezustand” handeln.
Weniger vollmundig fordert Frauke Rostalski Aufarbeitung, um das unumgängliche Aufeinanderzugehen in einer freiheitlichen Demokratie wieder zu ermöglichen.
Zu den Beiträgen der Mediziner enthalte ich mich einer konkreteren Wertung, kann mich allerdings nicht des Eindrucks erwehren, dass besonders bei Krüger/Stöhr nicht immer stringend, dafür aber ex eventu argumentiert wird.
Die Beleuchtung der Impfschäden durch die Journalistin Christiane Cichy und die Erwägungen des ehemaligen Verfassungsrichters Hans-Jürgen Papier beleuchten Aspekte der Aufarbeitung, die uns weiter zu beschäftigen haben.
Die Veranstaltung, die das Buch am 12. Juni in Berlin vorstellte, konnte ich leider nicht wahrnehmen.
Anhang: Rezension zu “Angst, Politik, Zivilcourage”, Leipzig 2023