Wirkungslose Politpropaganda

Kritische Würdigung der Wortmeldung der beiden Ministerpräsidenten Kretschmer und Woidke sowie dem CDU-Landesvorsitzenden von Thüringen Voigt vom 5. Oktober 2024 „Keine Freiheit ohne Sicherheit“
von Stephan Hilsberg, 7. Oktober 24

1.
Schon der Titel irritiert. Freiheit erlangt man nicht im Schlafwagen. Sicherheit ist nicht ihre Vorbedingung. Um Freiheit muss man kämpfen. Sie ist die Vorbedingung von Selbstbestimmung und Emanzipation, sowohl der gesellschaftlichen, politischen wie auch der ganz persönlichen. Diejenigen Menschen, die heute vor 35 Jahren in ihren Massendemonstrationen die SED-
Diktatur zu Fall brachten, haben nicht auf Sicherheit gewartet. Nein, sie sind auf die Straße gegangen, obwohl ihnen die Gefahr staatlicher Gewalt bewusst war, und obwohl sie nicht wussten, ob die SED nicht doch auf sie schießen lassen würde. Das hat sie nicht abgeschreckt. Sie sind trotzdem auf die Straße gegangen. Sie haben sich die Freiheit genommen, sie haben sich die Straße erkämpft. Freiheit ist neben vielem eben auch eine Sache der inneren Haltung, der inneren Würde, der Persönlichkeit. Wer sich die Freiheit, in dem Moment wo er sie braucht, nicht zu nehmen versteht, der wird ewig unfrei bleiben, ein Spielball fremder Mächte.
Und deshalb wundert es mich, dass gerade ostdeutsche Spitzenpolitiker die Sicherheit zur Vorbedingung der Freiheit erheben. Aber vielleicht kommt hier Kernproblem jener ostdeutschen Befindlichkeit zum Vorschein, die immer noch nach Anerkennung vom Westen giert, und darunter leidet, dass diese ihm versagt bleibt, anstatt sich die Freiheit einfach zu nehmen, und ihr Leben, so wie es wollen, so wie sie es sich vorstellen, einfach zu leben.
2.
Und in diesem Stil einfacher Sätze, die scheinbar so selbstverständlich klingen, aber doch eher stutzig machen, geht es in diesem schwergewichtig daherkommenden Text der beiden Ministerpräsidenten, und ihrem Thüringer Kollegen in spe weiter.
Da wird behauptet, Ost und West sei in Freiheit zusammengewachsen. Ja, mein Gott, das stimmt ja nicht nur außenpolitisch nicht, das stimmt ja noch nicht einmal für Ost- und Westdeutschland. Es ist ein Postulat, das die Realität zur Norm erklärt. Doch mit der Realität, dass über ein Drittel der ostdeutschen Wähler für eine rechtsextreme Partei stimmen, will ich mich nicht abfinden, das kann man normal nennen, und das nicht nur als Ostdeutscher. Es ist ein Skandal, der aufzeigt, auf wie tönernen Füßen die Demokratie in Ostdeutschland steht.
In Freiheit stimmt, aber in Frieden? So viele Friktionen, so viel Hass und Neid auf beiden Seiten einander - gegenüber sprechen nicht von einer rein friedlichen Beziehung zwischen Ost - und Westdeutschland. Aber das heißt nicht, es zu beklagen. Es heißt allerdings erst recht nicht, es zu beschönigen.
Doch schlimmer als unsere innerdeutschen Friktionen schlagen die ungelösten außenpolitischen Sicherheitsprobleme zu Buche. Denn unabhängig vom Ukrainekrieg war Rußland auch in den Jahrzehnten vorher kein gleichberechtigter und anerkannter Partner in Europa. Spannungen, Ängste und Aggressionen im Verhältnis zwischen Rußland und Europa sind seit Jahrzehnten die Folge. An der Vision Gorbatschows von einem gemeinsamen europäischen Haus wurde seit den 90er Jahren nicht weitergearbeitet. Der Traum von einem friedlichen und partnerschaftlichen Europa bleibt aber unerfüllt, solange Rußland nicht Teil unserer europäischen Sicherheitsarchitektur und institutionellen Zusammenarbeit ist. Die "russische Frage" ist ungelöst. Daher kann man nicht davon sprechen, dass Ost- und West zusammengewachsen sind. Es stimmt zwar, Europa ist weiter zusammengewachsen, aber dieser Prozess ist unvollendet. Und wenn es nicht gelingt, Rußland in eine gemeinsame
Sicherheitsarchitektur gleichberechtigt einzubinden und damit einzufrieden, ist die Kriegsgefahr in Europa nicht gebannt.
4.
Und dass die Freiheitsliebe der Ostdeutschen erst mit dem Aufstand vom 17. Juni 53 aufgeflammt sei, vermag ich angesichts der horrenden Zahlen der politisch Inhaftierten, und der gewaltigen Flüchtlingswelle damals nun überhaupt nicht nachzuvollziehen. Diese Aussage ist zu simpel, als dass man sie akzeptieren könnte. Und was ist denn mit dem ganzen großen Komplex an besatzungsrechtlichen und völkerrechtlichen Fragen, die zur Teilung und zum Kalten Krieg geführt haben, ganz zu schweigen von der historischen Schuld, die das Dritte Reich mit dem seinem 2. Weltkrieg und seinem Massenmord auf die Schultern Deutschland geladen hat, an denen wir noch heute und darüber hinaus arbeiten müssen?
5.
Und dann ist da schon wieder von dem Wunder der Deutschen Einheit die Rede. Warum dieser Rückgriff auf einen religiösen oder märchenhaften Begriff, wo es doch darum geht, Gorbatschow zu erklären und die Entschlossenheit der Ostdeutschen, diese Gelegenheit mutig beim Schopfe zu greifen? Gorbatschow war unser Schicksal, wir verdanken ihm die Gelegenheit, die SED-
Diktatur zu besiegen, und wir verdanken seiner Initiative die heute kaum vorstellbare Interessensübereinstimmung der ehemaligen Siegermächte, allen voran der Sowjetunion und den USA, die begriffen, dass die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands eine Frage der deutschen Selbstbestimmung in einem Europa selbstbestimmter Staaten war, und damit eines dauerhaften Friedens in Europa. Doch das kann man alles erklären. Und das muss man auch, wenn man aus dieser Ereignissen Kraft schöpfen will für die Lösung unserer Probleme heute.
Doch in diesem Absatz, wo zu Recht von dem Freiheitskampf der Polen die Rede ist, von dem Einsatz der USA für die Deutsche Einheit, fehlt der Name Gorbatschows komplett. Er taucht überhaupt im ganzen Text nicht auf. Doch wer die Rolle Gorbatschows für die Überwindung der europäischen und deutschen Teilung nicht zu würdigen versteht, dem fehlt eine entscheidende Prämisse um den Epochenwechsel von 1989/90 erklären zu können, und damit das Ende des Kommunismus in Deutschland, der entscheidend zur Teilung Europas beigetraten hat, deren Überwindung wir heute feiern können.
6.
Und dann ist in diesem Text von Friedensdividende gesprochen worden. Dieser Begriff, einst ein Traum der Friedensbewegung der 80er Jahre im Westen, taugt zur Beschreibung der Kosten der Transformation und des Wiederaufbaus der ehemals kommunistischen Länder am
allerwenigsten. Sicher ist der Frieden, der seit dem Ende des Kalten Krieges in Mitteleuropa besteht, eines der schönsten Geschenke, die wir je bekommen haben.
Davon abgesehen aber, war das eine Zeit des Wiederaufbaus, des Neuaufbaus ganzer Volkswirtschaften. Und deren Finanzierung ging zu Lasten des Verbrauchs. Diese

zurückliegenden Jahrzehnte waren wirtschaftlich, politisch und sozial schwierige Jahre. Und trotzdem waren sie unvermeidlich. Aber mit Friedensdividende hat das nichts zu tun.
Was reitet eigenlich ostdeutsche Politiker diesen illusionären Begriff zur politischen Beschreibung des Zustands Osteuropas zu verwenden, die doch am besten wissen, welche Opfer die Transformation der ehemaligen kommunistischen Staatswirtschaften gefordert haben?

7.
Und dann über springen diese Herren MP’s und in spe eben mal die letzten Jahrzehnte seit der Deutschen Einheit, und beginnen quasi ihre neue Zeitrechnung mit dem Überfall Rußlands auf die Ukraine.
Wer aber von 1991 ins Jahr 2022 springt, der ignoriert die Probleme Rußlands bei der Einführung von Marktwirtschaft und Demokratie, die von allen ehemaligen kommunistischen Staaten Osteuropas am gewaltigsten waren und für die russische Gesellschaft mit größeren Opfern verbunden, als in den letzten Jahrzehnten der Sowjetunion.
Es verschweigt auch, dass Rußland darüber hinaus eben nicht als vollwertiges Mitglied der europäischen Völkergemeinschaft anerkannt wurde, dass vor allem die USA ihm mißtrauten und wohl auch an der alten Containment-Politik des Kalten Krieges festhielten, dass Rußland bereits in den 90er Jahren unter Jelzin mit der Doktrin der Gewaltlosigkeit von Gorbatschow brach, dass es seit der Jahrtausendwende auch seine Nachbarstaaten wieder mehr zu destabilisieren trachtete, bis hin zu militärischen Besetzungen, kaschiert als Friedenstruppen, dass die Angst vor Rußland wuchs, dass Rußland wieder aufrüstete, dass es die alte Expansionspolitik wieder aufleben ließ, kurz dass der russische Bär wieder Einzug im Kreml gehalten hatte.
Darauf hat der Westen im Grunde nicht reagiert. Am schlimmsten war Deutschland mit seinem Festhalten wie den überlebten Formaten wie dem Petersburger Dialog. Ich will die Namen gar nicht nennen, die damit verbunden sind. Die Blindheit Gerhard Schröders, der in Bezug von
Rußland als einer „lupenreiner“ Demokratie wird nur übertroffen durch die Ignoranz seiner Nachfolgerin, die Putin besser einzuschätzen wusste, deren Festhalten am status quo mindesten einem frühzeitigen Ausbruch an Altersstarrsinn gleichkommt.
Im Grunde besteht die Tragik dieser Zeit darin, dass trotz allen Bemühens um Frieden, der Prozess zu mehr Gewalt, zur Rückkehr der alten Expansionspolitik Rußlands nicht aufgehalten werden konnte.
Dieses Scheitern ist bis heute nicht aufgearbeitet worden, trotz viele Bemühungen und Versprechen.
All das mündete nach 20 Jahren in den Überfall auf die Ukraine.

8.
Dass Bekenntnis der Autoren zu einem Ende des Waffengangs, einem Ende des in der Tat beklagenswerten Blutvergießens ist schlicht anerkennenswert, aber begründungs- und
folgenlos. Höchstwahrscheinlich geht es den dreien ja auch mehr um eine Schwächung von AfD und BSW. Es ist eine Erklärung in eigener Sache: „Liebe Ostdeutsche, wir sind doch auch für ein Ende des Kriegs!“ Doch eine Friedensperspektive, gar eine eigene ostdeutsche Initiative dafür enthält diese Erklärung nicht. Die wäre aber, gerade vor dem Hintergrund der friedlichen
Revolution möglich gewesen.

9.
Dass der Westen mit dem Tag von Putins Einmarsch in der Ukraine seine alte Containment- Politik wieder aufgenommen, die unverzichtbar war, um den Machtphantasien der stalinistische Sowjetunion Einhalt zu gebieten, war und bleibt richtig. Doch diese Politik alleine hat die SU damals nicht in die Knie gezwungen. Und sie wird auch das heutige Rußland nicht in die Knie zwingen.
Ohne Gorbatschow hätte ihr System schon noch sicher ein, zwei Jahrzehnte vor sich hinsiechen können. Aber Gorbatschow ist nicht vom Himmel gefallen.
Ihm ist die Entspannungspolitik vorausgegangen, und ihm ist der Helsinki-Prozess vorausgegangen. Beides war von dem Bewusstsein getragen, dass Konflikte und sogar tiefste Gegensätze überwindbar sind, dass Frieden, Partnerschaft und Kooperation möglich sind, und alte Feindschaften beendet werden können.
Ein Land wie Rußland, mit seiner stolzen Geschichte, mit seinen noch immer 144 Millionen Menschen, besiegt man nicht. Und das hängt nicht mit Putin zusammen, mit dem schon gar nicht.
Das Angebot der Entspannungspolitik, auch des Helsinki-Prozesses muss erneuert werden. Und genau diese Komponente fehlt der wieder aufgewärmten Kalten-Kriegs-Politik der USA und der NATO. Man hat den Eindruck, die USA haben überhaupt kein Interesse an Entspannung, sie setzen alleine auf militärische Abschreckung. Ob das stimmt, weiß ich nicht. In Zeiten des Kalten Krieges gab es zumindest ein rotes Telefon. Nicht mal das gibt es heute. Dabei hat die atomare Kriegsgefahr zugenommen. Die Politik der Aufrüstung senkt sie nicht, auch das ist eine Erfahrung des Kalten Krieges.
10.
Und dann soll man ja die Ostdeutschen nicht unterschätzen. Sie, ganz besonders sie müssen die gegenwärtige Lage als Dilemma empfinden. Sie befanden sich schon in den 70er und 80er Jahren nicht unter dem atomaren Schutzschirm der NATO. Und überhaupt, ein echter, wirksamer Schutz war das ja nicht. Alleine die Logik eines atomaren Konflikts, welcher in der Vernichtung beider Seiten endet, hat damals die Kriegsgefahr in Schach gehalten. So weit sind wir zwar noch nicht, aber wir stehen kurz davor. Für die AfD und das BSW reicht das aber hin erfolgreich die totale Unterwerfung unter die Vormachtsgelüste von Putins Russlands zu predigen, sich also dem russischen Bären zu ergeben, und damit die Ostdeutschen bei ihren apokalyptischen Kriegsängsten abzuholen. Unterwerfung ist immer noch besser als Krieg und Vernichtung, im Falle Ostdeutschlands kommen auch noch Besatzungserfahrungen hinzu.
Und da denken diese ostdeutschen Spitzenpolitiker, dass sie alleine mit Friedensbekenntnissen und der Unterstützung der neuen Containment-Politik der NATO ihre ostdeutschen Wähler beruhigen könnten?
11.
Auch für Russland gilt, was seinerzeit analog für Deutschland galt: Sicherheit vor Rußland gibt es nur durch Sicherheit mit Rußland.
Sage niemand, dass eine solche Perspektive Wunschdenken sei, gefährliche Träumerei. Wer so denkt, dem empfehle ich in seinen Geschichtsbüchern nachzulesen, welche Rolle der 14 Punkte Plan von Woodrow Wilson für die Kapitulation Deutschlands und damit der Beendigung des 1. Weltkrieges spielte. Sicher, Kaiser Wilhelm musste abdanken, und die Monarchie abgeschafft werden. Aber die deutsche Nation, der deutsche Staat, das Land sollte in Zukunft ohne Einschränkungen ein gleichberechtigter Partner der europäischen Zusammenarbeit im Rahmen des Völkerbunds sein. Diese Vision haben die USA damals Deutschland angeboten, obwohl ihre Boys auf den Schlachtfeldern von Verdun verbluteten. Was also hindert uns, eine ähnliche Perspektive auch für und mit Rußland zu entwickeln. Aber eines muss klar sein, nicht mit Putin.
12.
Nein, nicht eine regelbasierte internationale Ordnung garantiert alleine Sicherheit, wie sie die Autoren zum Schluss noch einmal geradezu beschwören, sondern nur ein System friedlicher und kooperativer Zusammenarbeit gleichberechtigter Staaten auf gleicher Augenhöhe selbstverständlich unter Einbeziehung Russlands.
Das zu erreichen ist ein weiter Weg. Und er hat Vorbedingungen. Die bestehen nicht nur im russischen Rückzug aus der Ukraine, und der Entmachtung Putins, sondern bestehen auch in der Bereitschaft zur Partnerschaft vor allem jener osteuropäischer Nationen, die besonders unter dem russischen Bären gelitten haben: Polen, das Baltikum, Finnland, oder die Länder der ehemaligen Tschechoslowakei. Sie müssen ihre Angst vor Rußland über ihre Schulter zu werfen versuchen. Im Falle Frankreichs, den Benelux-Staaten, Dänemarks, auch Großbritannien ist das gelungen, erfolgreich gelungen. Der gleiche Prozess steht uns jetzt auch bevor. Er wird länger dauern.

FAZIT:

Die beiden MPs und der eine in spe haben einen naiv anmutenden, folgenlosen, vor allem
hilflosen Text geschrieben, der sich in erster Linie an ihre ostdeutschen Wähler richtet, denen sie aber die Sorgen vor einem Krieg nicht nehmen können. Dieser Text enthält weder eine Analyse noch entwickelt er eine Lösungsperspektive, geschweige denn eine eigene. Obwohl er sich an die ostdeutsche Bevölkerung richtet, hat er die Erfahrungen der Ostdeutschen in ihrer
friedlichen Revolution nicht verarbeitet, noch nicht einmal angenommen. Sie reduzieren die glücklichen Momente der friedlichen Revolution und der Wiederherstellung der Deutschen Einheit auf ein Wunder, was es nicht war, und lassen so die Quellen für ein friedlicheres Europa, ein Europa ohne Krieg und Vertreibung, in Freiheit, Demokratie und Partnerschaft unangezapft versiegen.