Eine Äußerung zum Offenen Brief von Siegmar Faust an Wolf Biermann

von Christian Booß, Berlin Dezember 2020

Ein offener Brief an einen größeren Verteiler von DDR-Bürgerrechtlern und Freunden kurz vor Jahresende- das lässt aufhorchen. (Zum offenen Brief von S. Faust) Doch der Brief selbst, länglich, wenig strukturiert, Kreuz und Quer, vom Hölzchen aufs Stöckchen. Sollte man das überhaupt lesen und darauf eingehen? Der Brief ist immerhin geschrieben an Wolf Biermann, Verfasser ist Siegmar Faust, ein Autor, der Mitte der 70er Jahre in DDR-Gefängnissen einsaß, wegen seiner Unbeugsamkeit damals eine Legende für viele ehemalige politische Häftlinge. Von Biermann und anderen herausgeholt und vom SED-Regime abgeschoben in den Westen. So ein Brief bleibt nicht ohne Resonanz. Das mag angesichts der Lektüre mancher bedauern, aber deswegen sollte man ihn nicht einfach abtun, sondern auf die Substanz abklopfen.

Der Anlass des Briefes ist trotz aller formaler Schwächen immerhin erkennbar: Sein Autor ist verärgert darüber, dass der Liedermacher Wolf Biermann ihm wegen „AfD-Nähe“ die Freundschaft aufgekündigt hat. Nun, das Recht dazu hat Biermann natürlich und dass er das über Medien getan hat, kann man durchaus als taktlos ansehen. Möglicherweise kann ja Biermann, der Privatestes des Öfteren - nicht nur in seiner Kunst - öffentlich machte, auch schon mal daneben liegen. Aber auch Faust macht seine Kränkung durch Biermann zum öffentlichen Ereignis; er, Faust sei auf diese Weise diskriminiert und in die rechte Ecke gestellt worden. Folglich zahlt er mit gleicher Münze zurück. Beide Kontrahenten sind sich zumindest in diesem Punkte ähnlicher, als sie selbst es zugeben würden. Das ist ja auch logisch, schließlich sind sie ein Stück ihres Weges zusammen gegangen. Jedoch ist Faust inzwischen tatsächlich auf eine Seite gerückt, die als „rechter Rand der DDR-Aufarbeitungsszene“ bezeichnet wird. Siegmar Faust sieht sich inindes als harmloses Opfer von Angriffen diverser Kreise.

Die Botschaft seines Offenen Briefes ist angesichts des etwas erratischen Textes nicht einfach zu entschlüsseln. Mal geht es um Corona, mal um alte und schwer nachvollziehbare Geschichten zwischen ihm und Biermann, mal um den angeblich beklagenswerten Zustand von Politik, politischer Kultur und Deutschland insgesamt.

Einen mehr oder minder expliziten Subtext, der das Sammelsurium dieses Briefes zusammenhält gibt es aber doch, Zitat: „Weil ich in manchen Fragen andere Auffassungen habe als andere, werde ich in die rechte Ecke gestellt und verunglimpft wie manche meiner Weggefährten (genannt sind Lengsfeld und Barbe) auch. Mir wie anderen soll die Meinungsfreiheit beschnitten werden.“ Und weil das eine Tatsache sei, sei in diesem Staat die Demokratie generell in Gefahr. Wenn dem so wäre, wenn Faust wirklich vollkommen zu Unrecht denunziert, seine Meinungsfreiheit beschnitten würde, dann hätte er wahrscheinlich Recht, dann wäre die Demokratie tatsächlich bedroht. Doch kann Faust dies plausibel machen?

Neben dem langatmigen Lamento über die zerrüttete Beziehung zu Biermann nimmt das Thema Corona im Offenen Brief den größten Raum ein. Faust besteht darauf, dass er auf keinen Fall ein „Corona-Leugner“ sei. Er hält das Problem freilich auch in diesen Tagen, wo in Sachsen (woher er übrigens stammt) erstmals über die Triage, also das Aussortieren von todkranken Notpatienten, diskutiert wird, für überdramatisiert. Faust bezweifelt u.a., dass die angewendeten Corona-Tests valide Ergebnisse zeigen würden, er meint, es würden zu viele positive Fälle diagnostiziert. Er hält die Corona-Übersterblichkeit für weitgehend normal, die Tests für falsch und die Testinterpretationen für vollkommen überzogen. Mit den Fakten nimmt er es dabei selbst nicht so genau, passt sie vielmehr seinen Behauptungen an.1 Daher sind die Gegenmaßnahmen für ihn unverhältnismäßig und geradezu gefährlich für die Gesellschaft und die Demokratie. Dies ist die von mir herausgelesene Kurzform vieler langer Absätze. Eigentlich geht es ihm aber gar nicht um Corona. Faust geht es um Faust. Auch bei diesem Thema würden er und andere von verschiedenen Kritikern in der Öffentlichkeit diskriminiert. „Andersdenkende sind in deren Augen nur dumme Populisten, Corona-Leugner, Verschwörungstheoretiker, Rassisten, Rechtsradikale, Rechtsextremisten oder auf einen ihrer Lieblingsbegriffe gebracht: Nazis!“

Stimmt das? Wird Faust im Zusammenhang mit Corona zum Nazi gemacht? Hat er Belege dafür? Werden kritische Corona-Skeptiker wie er mit Wasserwerfern besprüht und als „völlig friedliche Demonstranten ...ziemlich brutal“ von der Polizei bearbeitet? Faust schreibt - wie so oft in diesem Offenen Brief - knapp an den Fakten vorbei, aber eben vorbei. Passiert dies dem eigentlich gewandten Schreiber aus Versehen? Man mag es kaum glauben.

Corona-Skeptiker geraten nicht wegen ihrer Meinung in den Bereich repressiver Maßnahmen. Regierungskritisch sind in diesem Zusammenhang außerdem auch viele andere, das ist kein Privileg von Faust und seinen Mitstreitern. Immer wieder sind es auch von Schließungen Betroffene, Restaurantbesitzer, Hoteliers, Unternehmensverbände, Politiker, gelegentlich auch Ärzte und sogar einige Virologen die Widerworte gegen politische Entscheidungen geben. Sie alle aber müssen - so ist das nun mal in einer Demokratie - mit Gegenargumenten rechnen. Manche gewannen auch vor den Gerichten und korrigierten den Staat, keiner aber diskriminiert sie oder verbietet ihnen den Mund. Ganz im Gegenteil, in der Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen oder privaten Sendeanstalten, in sämtlichen Medien bis hin zur Bild-Zeitung oder in Talkshows kommen sie alle vor. Problematisch wird es erst dann wenn Kritiker der Anti-Corona-Maßnahmen staatliche Infektionsschutzauflagen missachten, wenn sie ihre Meinungen zusammen mit anderen kundtun. Und misstrauisch beobachtet und polizeilich zurückgedrängt wird auch, wer sich dabei explizit gegen die parlamentarische Demokratie wendet und z.B. zu Attacken auf den Reichstag aufruft. Deshalb erhielten die Teilnehmer einer Demonstration in Reichstagsnähe eine Wasserwerferdusche. Sicher eine diskussionswürdige Aktion. Aber auch darüber gibt es in unserer meinungsfreudigen Gesellschaft schon Debatten, vor allem bei der Polizei, bei Polizeijuristen und den Gewerkschaften selbst.

Es geht also nicht um abweichende Meinungen, wie Faust suggeriert, sondern es geht um die Art, wie manche versuchen, sie durchzudrücken. Aber auch da hat Faust so seine Sicht der Dinge. Die Anti-Corona-Maßnahmen seien quasi illegal, weil von nicht befugter Exekutive an den Parlamenten vorbei beschlossen seien. Dagegen gebe es eine Art Widerstandsrecht für ihn und andere, die seine Auffassungen teilen. Allerdings lässt Faust auch hier gleich zweimal wichtige Fakten weg. Zum einen hat das Parlament durch ein Infektionsschutzgesetz die Landesregierungen schon vor Jahren genau zu Antiseuchen-Maßnahmen im Krisenfall befugt, ja geradezu verpflichtet. Sie sollen in einer solchen Krise Gegenmaßnahmen treffen. Umstritten, auch unter angesehenen Verfassungsrechtlern, ist lediglich, wie weit dieses Mandat geht. Genau deswegen - von Faust erneut ignoriert - hat der Bundestag kürzlich das Infektionsschutzgesetz novelliert und der Exekutive begrenzende Leitplanken vorgegeben. Die Regierung hat das zu respektieren und sie tut es auch, so weit wir sehen. Eine Legitimierung von Widerstand gegen Corona-Auflagen, wie sie Faust aus dem angeblich außerparlamentarischen Handeln der Regierenden konstruiert, gibt es nicht. Wer dennoch an einer Verweigerungshaltung, wie Faust sie vertritt, festhält, muss sich in der Tat fragen lassen, ob er ein gestörtes Verhältnis zum Rechtsstaat hat. Fällt das Faust nicht selber auf?

Ohnehin kommt alles, was irgendwie Regierungsnähe zeigt, bei Siegmar Faust schlecht weg. Er ist nicht zimperlich mit seinen Etiketten, sieht sich z.B. im „Irrenhaus“. Denn die Regierung höre nicht auf die („wahren“) Wissenschaftler, auf die angeblich „wichtigsten“ Fachleute und hunderte Ärzte. Wer diese angeblich geschmähten Koryphäen genau sind und was sie auszeichnet, außer dass sie ähnlich fragwürdige Meinungen vertreten wie Faust selbst, verrät er nicht. Er suggeriert in einem fragwürdigen Zitat, dass Virologen wie Hendrik Streeck dazu gehören, den er dann in einem Atemzug mit Wolfgang Wodarg, einem, freundlich ausgedrückt, fachlichen Außenseiter unter den Ärzten nennt. Wer so argumentiert, bedient sich der Tricks der Demagogie, offenbar mit dem Ziel, die politische Elite pauschal als beratungsresistent und damit als abgeschottet und inkompetent darzustellen.

Am meisten hat es Faust, wenig originell in solchen Kreisen, auf Angela Merkel abgesehen, er bespöttelt sie als „Mutti“, die eine „katastrophale“ Regierungspolitik betreibe. Faust bezeichnet sie als „Biermanns Freundin“, offenbar mit der Absicht, damit beide Personen zugleich zu diskreditieren. Worin Merkels katastrophale Politik nun genau besteht, muss offenbar gar nicht wirklich mit Fakten belegt werden. Das ist halt so, weil Faust (und andere) es so sehen und sagen. Seine Belege dafür sind auch hier dürftig bis falsch. Merkel habe die Staatsverschuldung dramatisch erhöht, „damit (Unterstreichung von mir) die Verarmung vieler und die Bereicherung weniger vorankam“. Fakt ist, die Regierungen unter Bundeskanzlerin Angela Merkel haben jahrelang versucht, die Staatsschulden zu senken („Schwarze Null“). Dies ist vor allem auch für nachfolgende Generationen essenziell. Und auch die aktuelle Neuverschuldung dient primär nicht der Umverteilung von unten nach oben, sondern der Bekämpfung der wirtschaftlichen und sozialen Corona-Folgen. Dass diese Krise zu sozialen Verzerrungen führen kann, ist etwas anderes, was man durchaus im Auge behalten muss und vermeiden sollte. Mit gleicher verquerer Logik macht Faust dann weiter: „Sie (Merkel) hat des Weiteren den Islam legitimiert, der mit unserem Grundgesetz wohl kaum vereinbar ist.“ Dass der Islam grundsätzlich nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist, ist nun eindeutig falsch, es garantiert im Gegenteil die Religionsfreiheit. Und Faust macht weiter, nicht um Sachargumente bemüht, nur triefend pejorativ und polemisch: „Der von Mutti Merkel kreierte Klimakult ist wissenschaftlich kaum zu begründen. Soll die Wirkung der Kohlendioxid-Emissionen auf das Klima wirklich schädlich sein? Oder ist das nicht eher eine Verschwörungstheorie?“ Angela Merkel hat nun wahrlich die Klimakrise nicht erfunden, die Probleme stetig steigender CO2-Emissionen waren in der Wissenschaft schon weit vor ihrer Kanzlerschaft bekannt und diskutiert. Auch die Behauptung, Merkel unterdrücke faktisch die Meinung von kritischen Wissenschaftlern „und lässt diese nicht im Staatsfernsehen zu Wort kommen“, ist an Unsinn schwer zu überbieten. Wann Merkel dies gemacht und wie sie das zuwege gebracht haben soll, dazu sagt Faust nichts. Vielleicht weiß er ja sogar, dass sie solches gar nicht vermag. Warum, wenn Merkel wirklich so agieren würde, wie Faust behauptet, sehr viele Regierungskritiker dann doch regelmäßig in den Medien auftauchen, bleibt eine offene Fragen.Behauptungen, Vorurteile und Polemiken ersetzen bei Faust Fakten und Argumente.

Und dann schließlich kommt Siegmar Faust mit seiner Pointe, auf die man schon fast gewartet hat: „Es häuft sich so sehr, dass Dinge passieren, die nicht demokratisch sind. Dann kommen manchmal Gefühle hoch, die man schon hatte in der Diktatur.“ Faust ist zu klug, dieses Land noch nicht als Diktatur zu bezeichnen, aber knapp davor sei sie schon, er hat da so ein „Gefühl“. „Noch stelle ich die Bundesrepublik nicht total infrage und hoffe, es nie zu müssen. Aber, wer weiß? Die Entwicklung geht in eine mir unangenehme Richtung.“

Fausts setzt weitere Sticheleien wiederholt dort ein, wo er den empfindlichsten Punkt seiner „gefühlten“ Widersacher unter den Journalisten, Politikern und Alt-68ern zu treffen glaubt. So war es schon bei seinem berüchtigten Interview mit einem bekanntermaßen eher linksorientierten Reporter, den er in der DDR-Gefängnisgedenkstätte Hohenschönhausen laut „Berliner Zeitung“ mit dem Satz provozierte: „Ich verstehe ja, dass die Verbrechen der Nazizeit noch weiter wirken. Aber irgendwann muss das mal ein bissel aufhören. Man darf es nicht übertreiben.“ Wer inzwischen über 30 Jahre in der Bundesrepublik lebt und nicht alle Tassen aus dem Schrank verloren hat, muss wissen, was er in einem Land, der zurecht den Holocaust als seinen Sündenfall ansieht, mit solchen Sätzen auslöst. So naiv kann Faust nicht sein, dass er das nicht weiß. Statt den Satz einfach zu bedauern, zurückzuziehen, zu korrigieren, hat Faust schon damals den untauglichen Versuch unternommen, ihn als Fälschung darzustellen, er forderte in Verkennung seiner Wichtigkeit eine Untersuchung des Tonbandes durch das Bundeskriminalamt, als wenn es um ein Kapitalverbrechen ginge. Die Redaktion hat nach Prüfung des Tonbandes wiederholt darauf hingewiesen, das Zitat sei echt. Der einzige gangbare Weg, dies zu widerlegen, wenn es denn nicht stimmte, wäre eine Gegendarstellungs- oder Unterlassungsklage gewesen. Die „Berliner Zeitung“ hätte dann den Beweis oder den Rückzug antreten müssen. Stattdessen ging Faust einen rührend-naiv anmutenden Weg und stellte Strafanzeige. Jeder gute Anwalt hätte ihm sofort klar gemacht, dass Staatsanwälte angesichts dessen, was sie an wirklich wichtigen Fällen auf dem Tisch haben, in derartigen Bagatellen nur ermitteln, wenn man Beweise mehr oder minder fertig auf den Tisch legen kann. Faust hat solch fachlichen Rat nicht gesucht, weil er angeblich schlechte Erfahrungen mit der Westjustiz gemacht hat. Stattdessen greint er über die bösen Staatsanwälte und den Rechtsstaat. Wer aber den Rechtsstaat kritisieren will, sollte erst einmal lernen, auf dessen Klaviatur zu spielen, anstatt daneben zu greifen und dann das Rechtssystem zu denunzieren.

Faust aber ist schnell wieder bei seinen Schablonen, vor allem zu den 68ern: „Alles begann schon in den 60er Jahren mit den kulturmarxistischen Angriffen gegen die traditionelle Familie und der bereits krankhaft herbeigesehnten Gleichmacherei von Menschen unterschiedlichen Geschlechts, unterschiedlicher Talente und Ansichten, denn nur in einer einigermaßen harmonischen Familie können humane Werte sinnvoll ausgelebt und weitergegeben werden.“ Die einigermaßen harmonische Familie seiner Anhänger gegen die, die unterschiedliche Meinungen wie die von Faust unterdrücken, genau das sind für ihn die 68er. Dabei war 1968, im Nachhinein gesehen, vor allem eine politisch-kulturelle Wende, die nach dem Anpassungsdruck der 50er Jahre unterschiedlichsten Individualitäten und Lebensentwürfe erstmals zu ihrem Recht verhalf. Unter Adenauer hätte es eine Alice Weidel kaum in den Bundestag geschafft. Und aus den 68ern sind auch sehr viele Personen hervorgegangen, die sich in ihrem weiteren Leben für den Ausbau des Rechtsstaats, für Menschenrechte und Gesellschaftsreformen engagierten.

Siegmar Faust reklamiert für sich zwar, differenziert argumentieren zu dürfen, selbst bedient er jedoch immer wieder Klischees. So will er will das Recht haben, den“ (Hervorhebung durch mich) Islam zu kritisieren. Kritisieren darf man natürlich, bitte! Aber den Islam? Als wenn es nicht unterschiedliche Richtungen gäbe, liberale, fundamentalistische, sunnitische, shiitische, von Salman Rushdi bis Chamenei usw. Im Iran durfte jeder Imam seine eigene Lehre predigen, bevor Chomeni kam. Für Faust aber gibt es nur den einen Islam. Wie es für ihn auch den Migranten gibt, der in unser Land kommt, um Sozialleistungen zu erschleichen, die dann, klischeehafter kann es nicht sein, den Rentnern fehlen. Klar gibt es auch Asylbetrüger oder anderen Missbrauch öffentlicher Sozialsysteme. Und man kann und darf auch über die Frage von Grenzschließungen diskutieren (2015 war keine Grenzöffnung, wie fälschlicherweise oft behauptet, denn die Grenzen waren ja offen). Diskutiert werden darf auch über Einwanderungsquoten, adäquate Hilfsansprüche oder Abschiebungen. Man muss es in einer Demokratie sogar tun. Und natürlich muss sich unsere Demokratie auch mit einem fundamentalistischen gewaltbereiten Verständnis von Islam auseinandersetzen, wenn der in Moscheen in Deutschland oder vor allem in diversen Internetforen gepredigt wird. Denn unter dessen Folgen leiden wir alle, einschließlich der großen Mehrheit der Muslime. Aber dass einem ehemaligen Vorkämpfer für die Menschenrechte in der DDR offenbar gar nicht in den Sinn kommt, dass auch sehr viele Menschen berechtigte Fluchtgründe haben könnten, ist schon erstaunlich. War z.B. Alexander Solschenizyn im Westen dann auch ein Sozialhilfeschmarotzer? Oder die vielen DDR-Bürger, freigekauft wie Siegmar Faust aus den Gefängnissen oder ausgereist und in der Bundesrepublik von den Sozialsystemen aufgefangen? Wundert es Siegmar Faust wirklich, dass er wegen seiner platten Argumentation in die rechte Ecke gestellt wird? So viel Naivität ist diesem eigentlich belesenen und gebildeten Mann nicht zuzutrauen.

Fazit:

Auch wenn Faust - durchaus schlitzohrig - direkte Diktatur-Vergleiche meidet, so wähnt er sich, man ahnt es inzwischen, Verhältnissen wie in der DDR nahe: „Ich hätte nie gedacht, dass Reiseverbote – bei notabene sperrangelweit offenen Grenzen – je wieder in Deutschland möglich wären. Ich hätte jeden ausgelacht, der mir gesagt hätte, dass das deutsche Parlament zu einer auf das politische Geschehen einflusslosen gefügigen Volkskammer verkommt. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass es wieder eine Gesellschaft der Denunziation, der Manipulation, der Ausgrenzung Andersdenkender, der Übergriffigkeit der Staatsbürokratie bis ins Kinderzimmer, ja der offenen Verachtung des Staates gegenüber seinen Bürgern geben wird.“

Es sind offenkundig grobe Verzerrungen und Verzeichnungen, die Siegmar Faust diese Kakophonie angeblicher Indizien für eine „DDRisierung“ der Bundesrepublik ermöglichen. Ohne den Nimbus des Ex-Bürgerrechtlers wäre Faust heute kaum einen Artikel oder einen Fernsehbeitrag wert. Er bekommt sie aber. Heutige „Quer-Denker“ sind, so seine Logik, allein und ausschließlich die wahren Erben der DDR-Opposition. Das Frappante daran ist , dass ein Mensch, den wir als durchaus fleißigen und lesenswerten Autor kennen, inzwischen Texte produziert, die vollkommen ideenlos sind. Er bedient sich inzwischen lediglich Argumenten, Klischees und Phrasen, die auch andere vor ihm schon verbreitet haben, und zwar vorzugsweise in rechtsgestrickten Medien, Reden und Netzwerken. Sicher, Faust vermeidet bestimmte Reizworte, wie Umvolkung, Volksverräter oder linksversifft, damit das nicht so auffällt. Aber seine Narrative laufen in die gleiche Richtung. Als Lügenpresse bezeichnet er die Medien nicht. Aber die Erzähllinie seiner Beispiele läuft genau darauf hinaus, wobei er es - auch ein Merkmal dieser Technik- mit den Fakten nicht so genau nimmt. Fausts verbale Muster folgen den geradezu klassischen rhetorischen Mustern des aktuellen Rechtspopulismus. Migranten erscheinen als Sozialschmarotzer, die Journalisten berichten die Unwahrheit, der Islam zerstört unsere Kultur; die 68er, die Grünen und Linken sind an allem Schuld, die Regierung verbreitet Panik und Angst, um die Bevölkerung ihrer Rechte berauben zu können. Ohnehin erschienen ihm die politischen Akteure als volksfeindliche unfähige Eliten, die das Land in eine Diktatur ähnlich der DDR, in die Apokalypse und das „Chaos“ führen. Doch die Retter sind nahe. Es sind die, die die wahre Wahrheit erkannt haben, unbeugsam sind und angeblich die größten Demonstrationen veranstalten, die die Bundesrepublik je gesehen hat (von den Anti-Atom-, Anti-Kernkraft- oder Anti-TTIP-Demos mit jeweils bis zu 500000 Teilnehmern hat er offensichtlich nichts mitgekriegt). Es wird suggeriert, dass heutige die Corona-Maßnahmen und die Regierung kritisierende Kundgebungen die eigentliche Mehrheit repräsentieren. Man hört hier förmlich den Ruf: „Wir sind das Volk!“. Zum Glück ist es nur ein Ruf, mehr nicht. Wundert sich Siegmar Faust wirklich, dass er mit derart dürftigen Argumenten und abgedroschenen Klischees, die sämtlich aus dem Repertoire der neuen Rechten stammen, selbst rechts verortet wird? Manchmal, so könnte man vermuten, legt er es geradezu darauf an, um bei den erwartbaren Reaktionen wieder neues Futter zu finden für seine Behauptungen, er würde wie einst in der DDR seiner Meinungsfreiheit beraubt und stigmatisiert.

 

An einer Stelle seines Offenen Briefes musste ich schmunzeln: „Nun begann eine Stigmatisierung nicht nur gegen mich, sondern auch gegen andere Bürgerrechtler und Dissidenten, als hätten wir die nordkoreanische Diktatur bei uns einführen wollen – nein, viel schlimmer: eine nationalsozialistische gar.“ Da hat der Faust einmal recht. Man sollte seine und seiner vorgeblichen Freunde Meinungen nicht überdramatisieren. Man sollte sie nicht wichtiger nehmen, als sie sind. Der Offene Brief ist, sehen wir von dem Aufschrei eines angeblich von Biermann beleidigten Freundes ab, vor allem auch ein schlechter Text. Aber nicht nur das, er ist auch ein böser Text. Weil sein Verfasser eben nicht irgendjemand ist, sondern Siegmar Faust, eine früher gewichtige Stimme des Widerstands gegen die SED-Diktatur, der von diesem Ruf immer noch zehrt. Und er befördert damit faktisch -ausgestattet mit der Autorität dessen, der schon ein Diktatur mit bezwungen hat - mit diesem Text nolens volens das Geschäft derer, die dieses Land zum Negativen verändern wollen, denen Demokratie, Menschenrechte und eine positive Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Wahrheit nichts wert sind. Wundert es ihn wirklich, wenn er zu den „Populisten, Corona-Leugnern, Verschwörungstheoretikern oder Rechtsaußen“ gerechnet wird. Nein, Siegmar Faust, so naiv kannst Du nicht sein.