Ist die Aufarbeitung gescheitert?

Nein, aber Aufarbeitung muss sich ständig weiterentwickeln…

Von Anna Kaminsky

Angesichts der politischen Entwicklung und der prognostizierten Wahlergebnisse in einigen ostdeutschen Bundesländern für die AfD wird immer wieder die Frage aufgeworfen, welchen Anteil die Auseinandersetzung mit der Diktatur in SBZ und DDR und damit die Aufarbeitung der SED-Diktatur daran hat, dass in den ostdeutschen Bundesländern rechtspopulistische Einstellungen stärker verbreitet sind als im Westen. In diesem Zusammenhang wird auch gefragt, ob die auf das Unrecht und den Diktaturcharakter konzentrierte Aufarbeitung, in der viele Menschen im Osten ihr Leben nicht wiederfinden würden, die Abkehr vom als westdeutsch oktroyierten empfundenen Modell der Demokratie und der Aufarbeitung begünstigt habe. In der letzten Zeit haben auch Publikationen und Meinungsäußerungen Konjunktur, in denen ein „Paradigmenwechsel“[1]gefordert wird. Demzufolge soll nicht mehr die Diktatur das Bild der DDR bestimmen, sondern ein weitgehend diktaturfreier Alltag, in dem „die“ Menschen sich und ihr Leben wiederfinden könnten. Teilweise heißt es sogar, die Aufarbeitung der SED-Diktatur sei gescheitert. Begleitet wird diese Betrachtung der Aufarbeitung von dem Versuch, die Aufarbeitung der kommunistischen Herrschaft als „rechts“ zu diskreditieren.[2]

Um es gleich zu Beginn zu sagen: Ich bin weder der Meinung, dass „die Aufarbeitung“ gescheitert ist, noch dass sie für politische Entwicklungen in Ostdeutschland, Wahlverhalten oder die Neigung zu populistischen Erscheinungen verantwortlich ist. Ebenso wenig kann ich die jegliche wissenschaftliche Standards missachtenden Versuche ernst nehmen, die Auseinandersetzung mit der zweiten Diktatur als „rechts“ zu diskreditieren.

Gleichwohl stellt sich die Frage, welche Entwicklungen dazu beigetragen haben, dass sich Menschen von der aktuellen Politik nicht repräsentiert fühlen und sich bei links- oder rechtspopulistischen Erklärungsversuchen aufgehoben fühlen. Diese Erscheinungen sind somit vor allem Symptome eines anders offenbar nicht zu adressierenden Unbehagens gegenüber politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen und Entwicklungen. Jenseits dessen steht für uns alle aber auch die Frage im Raum, inwiefern bei der Auseinandersetzung und Beschäftigung mit der Diktatur in SBZ und DDR manche Aspekte des Lebens in der Diktatur zu spät oder zu wenig beleuchtet wurden.

Allerdings führt die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Aufarbeitung und Wahlverhalten aus mehreren Gründen auch in die Irre:

  • Die Reduzierung dieser Frage auf den Osten der Bundesrepublik wird der Problematik nicht gerecht. Wir haben es mit einem gesamtdeutschen Phänomen zu tun. Die in Umfragen immer wieder dokumentierte zunehmende Skepsis gegenüber demokratischen Verfahren und Institutionen ist keine ostdeutsche Besonderheit. Sie ist vielmehr – bei allen Spezifika im Osten der Bundesrepublik – nicht nur ein gesamtdeutsches, sondern ein europäisches und globales Phänomen. Der Zulauf zu populistischen Strömungen und Parteien, die Suche nach einfachen Lösungen und Erklärungen für komplexe Probleme hat nicht nur im Osten Deutschlands in den vergangenen Jahren stark zugenommen.[3]
  • Der Fokus liegt auf den geäußerten Einstellungen oder Wahlpräferenzen einer – wenn auch in den vergangenen Jahren größer werdenden – Minderheit. Das heißt, dass die Mehrheit, die demokratische Parteien wählt, und mit ihren Einstellungen keineswegs zu den Rändern tendiert, aus dem Blick gerät. Dies ist wieder eine Betrachtung „des Ostens“, die seit den 1990er in vielen Zusammenhängen zu beobachten ist. Dieses Phänomen, Entwicklungen oder Erscheinungen von Minderheitspositionen auf Ostdeutschland als ganzem zu projizieren, und diese hervorzuheben, zeichnet ein Zerrbild der dortigen Entwicklungen. Durch die Wiederholung solcher Minderheitsbefunde geraten die Mehrheit und die Mitte aus dem Blick. Auch darüber werden Vorurteile gegen „den Osten“ verfestigt.[4] Diese beziehen sich beispielsweise auf die angebliche Demokratieunfähigkeit, die durch die jahrzehntelange Diktaturprägung vorgegeben sei.
  • Darüber hinaus muss auch gefragt werden, welche Aufgaben und Funktion überhaupt Aufarbeitung als Teil der politisch-historischen Bildung hat. Welchen Einfluss hat Aufarbeitung auf die Herausbildung politischer Überzeugungen?

Was ist Aufarbeitung und welche Aufgaben hat sie?

Unter Aufarbeitung versteht man gemeinhin die Auseinandersetzung mit Ursachen, Geschichte und Folgen der Diktatur – in unserem Fall der kommunistischen Herrschaft in SBZ und DDR. Dazu gehört die Erinnerung an das geschehene Unrecht und die Opfer wachzuhalten, den antitotalitären Konsens zu stärken -und im Fall der Bundesrepublik- zur deutschen Einheit beizutragen. In diesem Sinne hat der Deutsche Bundestag 1998 den Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur formuliert.

Aufgabe und Ziel von historischer Aufarbeitung in Bezug auf die Diktatur in der DDR ist es, die Mechanismen der Unterdrückung und die Verletzung von Menschenrechten offenzulegen, die Erinnerung an die Opfer wachzuhalten und über die Folgen der Diktatur aufzuklären. Aufarbeitung ist in einem umfassenden Sinne die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die Analyse und Offenlegung von Machtstrukturen und Repressionsmechanismen sowie deren Folgen für die Gesellschaft und die Einzelnen. Aufarbeitung findet jedoch nicht im luftleeren Raum statt, sondern innerhalb der jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.

Diese Rahmenbedingungen beeinflussen die Wahrnehmung und Interpretation der Vergangenheit und historischer Ereignisse. Wenn aktuelle Erfahrungen als belastend empfunden werden und die Gegenwart schwieriger erscheint als Vergangenes, begünstigt dies die Weichzeichnung der Vergangenheit. In den vergangenen Jahren konnte dies im Hinblick auf den Umgang mit den Einstellungen zum Leben in der DDR eindrucksvoll besichtigt werden. Wer in der Gegenwart negative Erfahrungen macht, die - weil aktuell – als bedrohlicher empfunden werden als vergangene Erlebnisse, wird die Vergangenheit im Licht des aktuellen Erlebens anders bewerten als jemand, dessen Leben sich verbessert hat. Während die einen die DDR vor allem als Unterdrückungsstaat erinnern und wahrnehmen, verbinden andere mit der DDR positive Erinnerungen: an Heimat, soziale Sicherheit und Geborgenheit. Traumatische Erfahrungen der Transformationszeit und enttäuschte Erwartungen und Hoffnungen in die Einheit trugen dazu bei, das Bild der DDR im Rückblick zunehmend positiv zu erinnern und negative Erfahrungen und den Diktaturcharakter grundsätzlich in Frage zu stellen. Nachvollziehbar wurde dies beispielsweise an den die Nostalgiedebatten der 1990er und 2000er Jahre kennzeichnenden Fragen von „Es war nicht alles schlecht“ über „Es war nicht alles gut“ bis hin zu „Was war denn schlecht?“ Zugleich haben Umfragen gezeigt, dass selbst jene, die den letzten Aussagen zustimmen und die DDR im Vergleich zu ihrem heutigen Leben positiv erinnern, die DDR nicht zurückhaben wollen. Die Erfahrungen in einer Diktatur sind sehr unterschiedlich. Naturgemäß ist jeweils nur ein kleiner Teil der Bevölkerung direkten Repressionen wie Haft oder Folter ausgesetzt. Jedoch arbeitet jede Diktatur mit einem umfassenden Repertoire auch an „weicheren“ Formen der Repression. Würde Aufarbeitung dem Bedürfnis nach Erinnerungen in einer „heilen Welt der Diktatur“[5] entsprechen und darauf verzichten, kritische Fragen nach dem Leben in der Diktatur zu stellen, würde sie ihren Zweck verfehlen.

Was bedeuten diese Befunde nun für jene, die die Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur betreiben? Zugespitzt: Wie viel Diktatur ist den Zeitgenossen zuzumuten? Wie sensibel muss Aufarbeitung auf jene eingehen, die negative Erfahrungen in der DDR hinter negative Erfahrungen in der Demokratie zurückstellen und letztere schwerer gewichten? Wie kann vermieden werden, dass die kritische Auseinandersetzung und Darstellung des Lebens in der Diktatur mit einer Missachtung individueller Lebensleistungen gleichgesetzt wird? Was bedeutet das vor allem bei der Vermittlung von Geschichte an die jungen Generationen, die über diese Zeit nur noch aus zweiter oder dritter Hand erfahren?

Die Vermischung verschiedener Erfahrungsebenen, die Interpretation und Bewertung der Vergangenheit vor dem Hintergrund heutiger Erfahrungen, die in den ostdeutschen Bundesländern eben auch von Entfremdungsgefühlen und Unzufriedenheit geprägt sind, stellt die Aufarbeitung vor Herausforderungen. Theoretisch besteht Konsens, dass es nicht Aufgabe von Aufarbeitung ist, mit Rücksicht auf nostalgische Empfindungen Repressionsmechanismen weich zu zeichnen. Dies würde bedeuten, weniger über die Funktionsweise und Repressionen in der Diktatur zu sprechen als vielmehr die Sehnsucht nach einer „heilen Welt“ zu bedienen. Wir haben das in den vergangenen Jahren immer wieder bei den Diskussionen über die Frage erlebt, ob die Bezeichnung „Diktatur“ für die DDR überhaupt angemessen ist.

Unabhängig davon bleibt es jedoch für die Legitimation von Aufarbeitung und deren Wirkungsmöglichkeiten notwendig, sich kritischen Diskussionen und auch Angriffen zu stellen und Methoden und Begrifflichkeiten kritisch zu hinterfragen. Zu einer umfassenden und ausgewogenen Aufarbeitung gehört, die positiven Erinnerungen anzuerkennen. Es geht nicht darum, die Diktatur zu relativieren, sondern ein vollständiges Bild der Geschichte zu zeichnen. Dies kann dazu beitragen, Identitätskonflikte, die in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung bestehen, zu mildern, ohne dass einer Relativierung der Diktatur das Wort geredet wird.

Rückblickend kann gesagt werden, dass Links- wie Rechtspopulisten es verstanden haben, Unzufriedenheiten und Ängste aufzugreifen und politisch zu kanalisieren. Dazu gehört auch die Instrumentalisierung von DDR-Nostalgie oder die Kritik an einer vermeintlich auf Diskreditierung und Delegitimierung von DDR-Erfahrungen angelegten „Vergangenheitsbewältigung“. Gleichzeitig bedienen Zuschreibungen wie die von der „Kolonisierung des Ostens“ durch den Westen, Stereotypen über den „abgehängten Osten“, über das Überstülpen des westlichen Modells auf die einstige DDR, die die DDR-Bürger angeblich nicht wollten und nie gewählt haben, Narrative, die die Ostdeutschen zu einem Opferkollektiv stilisieren. Damit wird zugleich zu einer weiteren Spaltung zwischen Ost und West beigetragen.

Zumutungen und Traumatisierungen der Transformationszeit

Niemand wird heute ernsthaft bestreiten, dass es während der Transformation der DDR in eine Demokratie und insbesondere bei der Überführung der DDR-Wirtschaft in marktwirtschaftliche Strukturen in den 1990er Jahren zu großen Verwerfungen und traumatischen Erfahrungen für einen Großteil der so hoffnungsfroh in die Einheit gestarteten Ostdeutschen kam. Kaum jemand war auf den wirtschaftlichen Niedergang in den östlichen Bundesländern vorbereitet. Weder die Ostdeutschen selbst noch die den Vereinigungsprozess aus dem Westen vorbereitenden und begleitenden Westdeutschen. Kaum jemand hatte vorhergesehen, dass diese Umgestaltung, die Erneuerung der Infrastruktur und damit auch die wirtschaftliche Erholung weit länger dauern würde, als 1990 erhofft. Dass die wirtschaftlichen Probleme und die grassierende Arbeitslosigkeit eine Folge von 40 Jahren sozialistische Herrschaft und Misswirtschaft in der DDR waren, wurde über den immer neuen Hiobsbotschaften über geschlossene Betriebe und die explodierende Arbeitslosigkeit bald vergessen. Wer jung, gut ausgebildet und mobil war, suchte sein Glück im Westen. Ganze Landstriche im Osten verwaisten. Hoffnungslosigkeit machte sich breit. Diejenigen, die in den 1990er Jahren besonders davon profitierten, waren jene, die bis 1989 das Land heruntergewirtschaftet hatten: Die in PDS umbenannte frühere Staatspartei SED (später in Die Linke weiter umbenannt) nutzte die Stimmungslage im Osten, um sich selbst als einzige Interessenvertreterin ostdeutscher Interessen zu präsentieren und ein ostdeutsches Opfernarrativ zu etablieren. Mit diesem wurde „der Westen“ für den Niedergang des Ostens verantwortlich gemacht. Dieser habe den Niedergang mutwillig herbeigeführt, um sich einen unliebsamen Konkurrenten vom Hals zu schaffen. Mit der Treuhand habe „der“ Westen zudem ein Instrument etabliert, um die gute DDR-Wirtschaft zu zerstören. Bei diesen Darstellungen wurde der Eindruck vermittelt, nach 1990 seien die „blühenden Landschaften“ im Osten zerstört worden. Dieses Narrativ bestimmt seither – gepaart mit einer antiwestlichen und in Teilen antidemokratischen Ausrichtung - die Stimmungslage im Osten Deutschlands. Nicht zuletzt schlug das Buch „Der Osten eine westdeutsche Erfindung“[6] genau in diese Kerbe – und bediente das von der SED/PDS (Linkspartei) in den 1990er Jahren etablierte Opfernarrativ: An allem, was im Osten nicht gut lief, wurde „dem“ Westen und „den“ Westdeutschen die Schuld gegeben: „In einer Anekdote, also einer mit sozialer Energie aufgeladenen true story aus dem Jahr 1992 sagt ein Westdeutscher zu einem Ostdeutschen, dem er die Frau ausgespannt hat: ‚Erst haben wir euch euer Land weggenommen, dann eure Arbeit, jetzt eure Frauen.‘ So wiederum stellt sich das in der privaten Version dar. Kürzer und schöner lässt sich Makrohistorie nicht in Mikrohistorie übersetzen.“, so die diese Narrative bedienende Erklärung von Dirk Oschmann.[7] In Bezug auf die deutsche Einheit und  alles, was im Osten schlecht läuft, ist die Schuldzuweisung gegenüber „den“ Westdeutschen, offenbar nicht eine anrüchige These, sondern sie wird als legitime und zutreffende Analyse der Entwicklung in den ostdeutschen Bundesländern gewertet. Versuche wie etwa von Prof. Richard Schröder, diesem Narrativ eine empirische Basis und nachprüfbare Fakten entgegenzusetzen, haben nicht die Resonanz wie jene einfachen Schuldzuschreibungen. Bücher wie die von Oschmann bedienen im Osten die Bereitschaft „den“ Westen für alle Übel und vermeintlich oder tatsächlich erlittenes Unrecht und Ungerechtigkeiten verantwortlich zu machen. Zugleich sind diese Debatten seit Jahren von einer Verrohung des Diskurses und einem verbreiteten West-Bashing begleitet. Auch dies sollte bei der Betrachtung der konstatierten Verrohung des Umgangs miteinander und der immer wieder beklagten Diskursunfähigkeit und der Spaltung der Gesellschaft betrachtet werden.

Transformation und Aufarbeitung

In dem politisch und wirtschaftlich schwierigen Umfeld der 1990er Jahre entwickelte sich die Aufarbeitung, verstanden als Auseinandersetzung mit der Geschichte von SBZ und DDR und der zweiten Diktatur. Dabei dominierten Repression und Unrecht, die bis dahin tabuisiert und verschwiegen worden waren. Allein etwa 250.000 – 300.000 politische Gefangene, Hunderttausende administrativ Repressierte belegen das Ausmaß an Unterdrückung während der sozialistischen Herrschaft in der DDR. Nach dem Ende der Diktatur wollten Millionen Menschen wissen, wie die SED-Herrschaft ihr persönliches Leben beeinflusst hatte. Sie erhofften sich Aufklärung darüber, wie die SED-Macht und die Stasi in ihre Lebensentwicklungen eingegriffen hatte. Allein die Anträge auf Akteneinsicht zu Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes zeigen deutlich, wie viele Menschen glaubten, Repressalien ausgesetzt gewesen zu sein. In den ersten beiden Jahrzehnten konzentrierte sich die Aufarbeitung auf die Wiederherstellung der Geschichte, vieles war unbekannt, tabuisiert, von SED-Propaganda überlagert, musste anhand von Akten und Überlieferungen erst ans Licht geholt werden. Unbestritten ist, dass die frühzeitige einseitige Konzentration auf die Stasi den Blick auf die Diktatur in ihrer Gesamtheit und die Verantwortlichkeiten verstellt hat. Die Staatspartei SED geriet aus dem Blick. Auch der Alltag verstanden als Alltag in einer Diktatur wurde lange zu wenig beleuchtet.

Alltag vs. Diktaturerfahrung

Fragen der Alltagserinnerung spielten in den 1990er Jahren bei der Aufarbeitung kaum eine Rolle. Wer damals an die im persönlichen erlebten schönen Seiten des Lebens in der DDR erinnerte, wurde schnell der Verharmlosung der Diktatur bezichtigt. Für viele Menschen war die Erinnerung an die DDR im Rückblick weniger von Repression als vielmehr von Familienfeiern, Urlauben und einem im Vergleich zu den Verwerfungen der 1990er Jahren ruhigen und überschaubaren Alltag geprägt. Dies fiel mit den Erfahrungen der 1990er Jahre zusammen, die viele Menschen im Osten vor unerwartete Existenzfragen stellte. Sie sahen ihre Erwartungen an Demokratie, Rechtsstaat und Freiheit enttäuscht. Diese gegensätzlichen Erinnerungen und Erfahrungen aufzugreifen, hat die Aufarbeitung in der Tat erst mit Verspätung in Angriff genommen. Erst Mitte der 2000er Jahren traten Fragen des Alltags, der für viele Menschen weit prägender war als Entscheidungen, die in mehr oder minder geschlossenen politischen Zirkeln getroffen wurden, stärker in das Interesse von Aufarbeitung. Die damit verbundene Frage war immer, ob es ein „richtiges Leben im falschen“ geben könne. Die strittige Frage war zudem, ob es in einer Diktatur einen Alltag geben kann, in dem man nicht gemerkt habe, dass man in einer Diktatur lebe, also ob es in einer Diktatur einen Diktaturfreien Alltag gäbe. Bis heute stehen diese Erzählungen und Thesen oft unverbunden nebeneinander.

Bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit und der Darstellung dieser Vergangenheit in der Gegenwart muss immer auch berücksichtigt werden, welche dramatischen Auswirkungen die Transformationszeit und aktuelle Erfahrungen für die Menschen hatten und haben. Gleichzeitig muss bei diesen Betrachtungen in Ostdeutschland beachtet werden, dass die grundstürzenden Veränderungen und Verunsicherungen die Menschen in Ostdeutschland weit stärker betrafen als die im Westen. Während sich für die Menschen im Osten quasi über Nacht alles änderte, blieb das Leben für die Menschen im Westen davon kaum betroffen. Zu berücksichtigen ist auch, dass die ohnehin existentiellen Umbruchserfahrungen nach dem Ende der DDR mit immer schneller auftretenden Krisen zusammenfielen. Für dieses Gefühl der Überforderung angesichts immer schneller aufeinander folgender Umwälzungen und Verunsicherungen hat sich der Begriff der „Transformationsmüdigkeit“ etabliert. Er bezeichnet allgemein ein Gefühl der Überforderung angesichts immer neuer Herausforderungen und Krisen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, vor welchen Herausforderungen und Schwierigkeiten politische Bildung und Aufarbeitung stehen.

Wenn Kritiker die Aufarbeitung der SED-Diktatur mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus in Verbindung bringen, impliziert dies eine Erwartungshaltung gegenüber der historischen Bildung, die deren Möglichkeiten deutlich überschätzt. Denkt man diese Argumentationslinie weiter, so müssten alsbald ähnliche Fragen an die NS-Aufarbeitung in Deutschland gestellt werden. Wie konnte es zum Aufstieg der Rechtspopulisten und dem anhaltenden Antisemitismus in Teilen der Gesellschaft kommen, obwohl die NS-Aufarbeitung seit Jahrzehnten Staatsraison in Deutschland ist? So essentiell die historische Bildung auch ist, sie ist (leider) nicht das Allheilmittel gegen politischen Extremismen oder ein direktes Steuerungsinstrument gesellschaftlicher Entwicklungen.

Historische Bildung ist weder mit einer Impfung vergleichbar, die immun gegen totalitäres Denken macht, noch agiert sie als Feuerwehr, die gesellschaftliche Brände löscht. Stattdessen spielt sie eine subtilere, aber nicht minder wichtige Rolle: Sie stärkt diejenigen in ihrer demokratischen Resilienz, die bereits eine Grundlage dafür mitbringen. Durch die Vermittlung von Wissen über die Vergangenheit, das Aufzeigen von Ursachen, Mechanismen und Folgen totalitärer Regime, fördert historische Bildung kritisches Denken, Sensibilität für die Werte der Demokratie und ein Verständnis für die Bedeutung der Menschenrechte. Diese Prozesse tragen dazu bei, die Starken stärker und die Resilienten resilienter zu machen, indem sie individuelle und kollektive Fähigkeiten zur Reflexion und zum Widerstand gegen antidemokratische Tendenzen schärfen.

Jedoch stößt historische Bildung an ihre Grenzen, wenn es darum geht, gesellschaftliche Großtrends eigenständig umzukehren oder zu verhindern. Diese Trends sind das Ergebnis komplexer, vielschichtiger Prozesse, die durch ökonomische, soziale und politische Faktoren sowie durch individuelle und kollektive psychologische Dispositionen beeinflusst werden. Die Erwartung, dass Aufarbeitung und Bildung allein diese Dynamiken aufhalten oder umkehren könnten, überschätzt deren direkte Wirkmacht und unterschätzt die Komplexität gesellschaftlicher Entwicklungen.

Die Aufarbeitung der SED-Diktatur, ebenso wie die der NS-Zeit, muss daher in einem breiteren Kontext betrachtet werden. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil einer umfassenden Strategie zur Förderung einer lebendigen, resilienten Demokratie, die auch die Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Herausforderungen, die Stärkung demokratischer Institutionen und Prozesse sowie die aktive Förderung sozialer Kohäsion und Inklusion umfasst. Die historische Bildung kann somit als ein wichtiges Element in einem Ökosystem demokratischer Praxis verstanden werden, das darauf abzielt, ein fundiertes Verständnis für die Vergangenheit zu entwickeln, aus ihr zu lernen und damit zur Stärkung der Demokratie beizutragen.

In diesem Sinne ist die Aufarbeitung historischer Diktaturen nicht gescheitert, sondern stellt eine fortlaufende Aufgabe dar, die sowohl Herausforderungen als auch Chancen birgt. Sie trägt dazu bei, das Bewusstsein für die Bedeutung demokratischer Werte zu schärfen und eine Kultur der Wachsamkeit gegenüber den Gefahren totalitärer Ideologien zu fördern. Gleichzeitig muss sie sich ständig weiterentwickeln, um auf die sich wandelnden Bedingungen und Bedürfnisse einer diversen Gesellschaft zu reagieren und um auch zukünftige Generationen für die Bedeutung dieser Thematik zu sensibilisieren.

Anmerkungen


[1] Siehe bspw. die Diskussionen von 2019, in denen ein „Paradigmenwechsel“ in Bezug auf die Betrachtung der DDR gefordert wurde. Vgl. auch Rudnik, Carola: Die andere Hälfte der Erinnerung. Die DDR in der Geschichtspolitik nach 1989. Transcript Verlag 2011.

[2] Siehe „Der rechte Rand der Aufarbeitung“ hersg. Von Bästlein, Klaus, Heitzer, Enrico, Kahane, Anetta, Metropol Verlag Berlin 2022.

[3]https://de.statista.com/infografik/30657/befragte-die-folgende-partei-waehlen-wuerden-wenn-am-kommenden-sonntag-bundestagswahl-waere/ Letzter Aufruf am 1.2.2024, 14:05.

[4] Damit verbunden lässt sich fragen, inwieweit die einseitige Darstellung auch dazu beitragen, dass Menschen sich nicht gesehen und gehört fühlen mit ihren Problemen.

[5] Siehe das gleichnamige Buch von Stefan Wolle 1997.

[6] Oschmann, Dirk: Der Osten eine westdeutsche Erfindung. Ullstein verlag 2023.

[7] Oschmann, 2023, S. 16.