Grußwort des Bundesvorsitzenden der Union der Opferverbände Kommunistische Gewaltherrschaft (UOKG)

von Dieter Dombrowski, Vositzender

Gehalten am 23.8 2023 zum Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus in Potsdam im Saal des Gärtnerhauses der Villa Lepsius

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

am 23. August 1939 stellten sich Adolf Hitler und Stalin gegenseitig eine Blanko-Vollmacht für den 2. Weltkrieg aus. Die Bezeichnung dieses Paktes als Nichtangriffsvertrag war eine Irreführung der Weltöffentlichkeit. In Wirklichkeit enthielt er die Zusage der Sowjetunion, Polen bei einem deutschen Überfall nicht zur Seite zu stehen.Darüber hinaus versprach die Sowjetunion, sich an keinem gegen Deutschland gerichteten Bündnis zu beteiligen. Deutschland war aus dem Völkerbund ausgetreten. Die Sowjetunion gedachte, ihren Verpflichtungen zur Friedenssicherung nicht nachzukommen.Damit hatte Hitler in Osteuropa freie Hand für seine Angriffspläne.

Wolfgang Leonhardt, damals 17-jähriger Kommunist in Moskau, hat erzählt, welche Bedeutung der Pakt für Stalin hatte. Er sollte eine Freundschaft unter Diktatoren begründen, die über Jahrzehnte hielt: Bereits in den nächsten Tagen wurden die Jugendheime der deutschen Exil-Kommunisten in der Sowjetunion aufgelöst. Aus den öffentlichen Bibliotheken wurden in Blitzaktionen deutsche antifaschistische Bücher entfernt. Statt der antifaschistischen deutschen Zeitungen konnte man nun nationalsozialistische Publikationen lesen. Bis 1941 lieferte die Sowjetunion mehr als 400 deutsche Flüchtlinge an die Gestapo aus. Viele von ihnen fanden den Tod in den faschistischen Lagern. Die Sowjetunion lieferte bis Mitte 1941 an Deutschland Getreide, Eisenerz, Mineralöl sowie seltene Metalle und unterlief damit die Seeblockade der Alliierten seit Herbst 1939. Das letzte deutsch-sowjetische Wirtschaftsabkommen stammt vom Januar 1941. Als die Wehrmacht am 22. Juni 1941 die neuen Westgrenzen derSowjetunion überschritt, rollten ihnen noch die Züge mit Exportgütern für Deutschland entgegen.

Die Entscheidung Stalins, mit Hitler zusammenzugehen, war nicht spontan aus einer gefährlichen aktuellen Situation geboren. Sie war Ergebnis gemeinsamer Politik seit 1922, die auf eine gewaltsame Revision der politischen Ordnung von Versailles zielte. Dazu musste Polen wieder von der Landkarte verschwinden. Die baltischen Staaten – das wird in der deutschen Geschichtsbetrachtung oft vergessen – sollten „heim ins russische Reich“ geholt werden, das sich nun Sowjetunion nannte. Finnland wurde der sowjetischen „Interessensphäre“ zugeschlagen.

Im Geheimen Zusatzprotokoll zum sogenannten Nichtangriffspakt kann man genau dies nachlesen. Zwei Diktatoren maßten sich an, Grenzen und Geschichte, Staatsbürgerschaft und nationale Zugehörigkeit von Millionen Menschen neu zu bestimmen. Sie entschieden mit einem Federstrich über Leben und Sterben von hunderttausendenMenschen. Das sowjetische Ziel bestanddarin, die Gebiete des russischen Reiches seit seiner größten Ausdehnung wieder zu beherrschen.Hitler wollte ganz Europa.

Im Herbst 1939 befand sich Stalin in keiner Zwangslage. Er konnte frei wählen. Noch im Juli unterbreiteten die Briten und Franzosen der Sowjetunion das Angebot eines antideutschen Beistandspaktes. Der Westen konnte nichts versprechen, außer womöglich Hitlers weitere Expansion zu verhindern. Hitler dagegen versprach reale Geländegewinne am westlichen Rand der Sowjetunion. Stalin sah das bessere Angebot bei Hitler und griff zu.

Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen wartete die Sowjetunion, bis die polnischen Truppen weitgehend vernichtet waren und besetzte dann – wie abgesprochen – die östlichen Teile Polens. Am 22. September 1939 feierten die deutschen und sowjetischen Truppen in Brest-Litowsk ihren Sieg über Polen mit einer gemeinsamen Militärparade. Die Deutsche Wochenschau dokumentierte die Veranstaltung mit den neuen Waffenbrüdern.

Nur zwei Tage später erpresste die Sowjetunion die souveränen, demokratischen Staaten Estland, Lettland, Litauen und Finnland mit der Forderung, entweder Stützpunkte in ihren Ländern zuzulassen oder einen Einmarsch sowjetischer Truppen zu erdulden. Finnland, das sich der Erpressung nicht beugen wollte, wurde Ende November 1939 mit Krieg überzogen. Die drei baltischen Staaten stimmten notgedrungen der Errichtung von sowjetischen Militärstützpunkten zu. Doch die Sowjetunion gab sich damit nicht zufrieden. Mitte Juni 1940 erfolgte der Einmarsch in alle drei Staaten. Die Okkupation begann – daran sollte hier einmal ausdrücklich erinnert werden – mit dem Abschuss eines zivilen Passagierflugzeuges.

Die besetzten Gebiete dienten als Blaupause und Übungsterrain für die Besetzungen, die nach dem Sieg über Hitler folgen sollten: Dazu gehörten unnachsichtige Repressionen gegen vermutete und wirkliche Gegner, Mord und Zwangsumsiedelung ganzer Bevölkerungsteile, die Installation pseudodemokratischer Institutionen und Regierungen.

Den Preis für die Einigung der beiden Diktatoren bezahlten die Menschen in den besetzten Gebieten. Hier errichteten zuerst die sowjetischen Truppen ihre Herrschaft, dann kamen die Deutschen. Sie wurdenoft irrtümlich als Befreier begrüßt. Doch ihre Schreckensherrschaft ließ die Realitäten schnell erkennen. Schließlich kamen wieder die sowjetischen Herrscher – und sie blieben anscheinend für die Ewigkeit.

Wenn wir also den 23. August als Gedenktag begehen, geht es uns um eine Dimension des 2. Weltkrieges, die in Deutschland zu wenig bedacht wird. Die deutsche historische Erinnerungist zu Recht geprägt von der Urheberschaft am 2. Weltkrieg und damit auch von der Befreiung durch die Alliierten vom Terrorsystem des Nationalsozialismus. Der 23. August weitet demgegenüber den Blick auf die Opfer der imperialen Interessen der Sowjetunion, die sie ohne einen Pakt mit Deutschland nicht hätte umsetzen können.

Aus unseren jahrzehntelangen Erfahrungen mit Tausenden von Opfern der kommunistischen Gewaltherrschaft heraus schließen wir uns den Abgeordneten des Europaparlamentes an. Sie bekundeten am 4. April 2009 ihren „Respekt für sämtliche Opfer totalitärer und undemokratischer Regime in Europa und bezeugen ihre Hochachtung denjenigen, die gegen Tyrannei und Unterdrückung gekämpft haben".

Wir, dieUnion der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft unterstützen ausdrücklich die Zielrichtung des Beschlusses des Europaparlaments, der besagt: „dass Europa erst dann vereint sein wird, wenn es imstande ist, zu einer gemeinsamen Sicht seiner Geschichte zu gelangen, Nazismus, Stalinismus und faschistische sowie kommunistische Regime als gemeinsames Erbe anerkennt und eine ehrliche und tiefgreifende Debatte über deren Verbrechen im vergangenen Jahrhundert führt.“[1]

Lassen Sie mich aus der Perspektive eines Verbandes etwas hinzufügen, der seit einer Generation die Opfer einer Diktatur vertritt:

Die nationalsozialistische Gewaltherrschaft ging vor fast 80 Jahren zu ende. Vor 34 Jahren zerbrach die kommunistische Diktatur. Die Folgen des Holocaust, der Konzentrationslager, Speziallager, Zwangsarbeiterlager, der Repressionen durch die Geheimpolizeien, der Vertreibungen, Umsiedelungen, des Sterbens in den Schützengräben und Bombennächten sind bis heute spürbar. Noch heute bilden sich die Folgen in den Seelen der Opfer ab. Sie haben – so wissen wir aus der Forschung – inzwischen auch die nächste Generation erreicht. Diese Menschen existieren real. Unsere sozialen und psychologischen Beratungsstellen haben jeden Tag mit ihnen zu tun.

Mit dieser Perspektive sollten wir auch in die Zukunft schauen. Wenn heute noch der Krieg in der Ukraine beendet wird, der Wiederaufbau geschafft ist, dann wird es zwei Generationen brauchen, um die Folgen dieses Krieges zu überwinden.

Dieses Recht, meine Damen und Herren, über Zeit und Raum der Zivilisation zu bestimmen, dürfen Diktatoren und Autokraten nicht erlangen. Lassen Sie uns dafür eintreten, diese Kette zu durchbrechen. Auch dazu ist der 23. August ein Tag des Gedenkens.

 

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

 


[1] Entschließung des Europäischen Parlaments vom 2. April 2009 zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus (2010/C 137 E/05)