Persönlicher Text

von und mit Einwilligung von  Wladimir Kaminer 

März 2022

Es ist zum Weinen. Meine Tante aus Cherson hat mir ein Video geschickt, aus dem Autofenster gefilmt: abgebrannte russische Panzer vor der Einfahrt in die Stadt, eine Kolonne der russischen Angriffstruppen hat es erwischt. Überall lagen Körperteile auf der Landstraße, berichtete sie, es roch nach verbranntem Fleisch. Merkwürdigerweise sammeln die russischen Angriffstruppen ihre Leichen nicht, laut offizieller russischer Propaganda gibt es diesen Krieg nicht und dementsprechend auch keine gefallenen Soldaten. Mein Freund Yuriy berichtete, vor seinem Haus in Charkiw steht ein russischer Panzer auf der Siegesallee, zu Ehren des Sieges über Nazideutschland 1945 genannt. Das letzte Mal sind hier vor 80 Jahren die Panzer der Faschisten gefahren, sie wurden von der russischen Armee zerschlagen und verjagt. Nun sind es russische Panzer, die Tod und Zerstörung in die Ukraine bringen und niemand ist da, der sie zu vertreiben hilft, nur die Ukrainer selbst kämpfen für ihre Heimat.

Meine Mutter schaut in Berlin russisches Fernsehen, wahrscheinlich ist Russland das einzige Land, wo über den Krieg nicht berichtet wird, keine brennenden Panzer, keine abgeschossenen Flugzeuge, keine kaputte Häuser, keine Leichen. Keine Massendemonstrationen gegen den Krieg. Am ersten Tag des Einmarsches wurde auf allen Fernsehkanälen in Russland die kurze Ansprache des Präsidenten jede Stunde aufs Neue gesendet. In einer Endlosschleife erklärte er mit einer kleinen „Operation“ die längst überflüssige „Entnazifizierung und Entwaffnung der Ukraine“ durchzuführen. Sein Ziel sei es, dem „Imperium der Lügen“, dem Westen also, eine gescheite Antwort auf seine Intervention gegen Russland zu geben. Natürlich weiß auch in Russland jede Alzheimer Oma, der Präsident lügt, es ging zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr für Russland, weder von der Ukraine noch von irgendeinem anderen Land dieser Erde aus. Aber wen interessiert in Russland, was die Omas denken?

Die Politiker des Westens, die vor Beginn des Krieges mit Putin Verhandlungen führten, wussten bestimmt auch, dass der Angriff längst beschlossen sei und sie nur noch belogen, werden, um eine gute Kulisse für den russischen Führer zu machen und trotzdem haben sie gelächelt. Sie dachten wahrscheinlich, diese Spinnerei sei der Ausdruck der geheimnisvollen russischen Seele, die oft selbst nicht weiß, was sie tut. Diese russische Seele hat es heute im Ausland nicht leicht.

Eine Berliner Mutter hat letzte Woche an die Grundschulleitung geschrieben, ihre Tochter wird wegen ihrer russischen Herkunft gemobbt, sie wird als Putins Schlampe beschimpft, das gehe überhaupt nicht. Die Schulleitung möge bitte die Schüler aufklären.

Meine Bekannten wurden neulich aus dem Taxi rausgeschmissen und beschimpft nur weil sie sich auf Russisch unterhielten und der Fahrer ein Ukrainer war. Ich bekomme gut gemeinte Mails von den Einheimischen:

„Sehr geehrter Russe,“ schreibt mir Ewald D.

„hoffentlich haben Sie Ihre Koffer schon gepackt; Sie sind bei uns eine unerwünschte Person. Hauen Sie ab, solange es noch gesittet zugeht. Nur ein toter Russe ist ein guter Russe.“

Aus Prag höre ich von Freunden, tschechische Kindergärten und Schulen wurden von Bildungsministerium intern aufgeklärt, wie sie mit den Kindern über den Angriff Russlands auf Ukraine reden sollen. In dem Papier steht: man soll besonders vorsichtig und aufmerksam in den Klassen sein, wo belarussische, ukrainische und russische Kinder zusammen lernen. Die Kinder dürfen aufgrund ihrer Nationalität und ihrer Herkunft nicht benachteiligt werden, die Kinder tragen keine Schuld für das Handeln der Regierungen.

Das stimmt, die Kinder können nichts für den Blödsinn der Erwachsenen. Und die Eltern? Werden wir uns von dieser Schuld jemals befreien können?

Ganz egal wie es mit dem russischen Präsidenten weiter geht, ob er friedlich in seinem Schloss einschläft, von seinen Generälen oder von den Freunden, deren Milliarden in Schutt und Asche verwandelt wurden, beseitigt. Ob die für den Bruderkrieg Verantwortlichen jemals vor einem internationalen Tribunal für Kriegsverbrechen enden oder auf der Bratpfanne in der Hölle, das Kainsmal des Brudermords wird an der russischen Seele kleben bleiben und namhafte Autoren werden die große russische Literatur noch größer machen, Romane voller Selbstreflektion schreiben, nach dem Vorbild von Thomas Mann „Mein Bruder Putin“ o.ä.

Ich werde es nicht tun. Ich habe vor 32 Jahren die Sowjetunion verlassen, sofort als es möglich wurde. Ich hatte keine Ausreisepapiere beantragt und keine Koffer gepackt.

Meine Freunde und ich, wir fühlten uns äußerst unwohl hinter dem Eisernen Vorhang, für uns gab es keine Verbindung nach draußen, nur die Stasileute dürften ins Ausland reisen, und selbst sie dürften ihre Familien nicht mitnehmen, die Familien blieben Zuhause als Geisel. 1990 fing Gorbatschow an mit der Freiheit herumzuspielen, der Eiserne Vorhang ging einen Spalt auf, ein Freund erzählte mir, man könnte gerade mit einem Ausweis und einer Einladung durch die belarussisch- polnische Grenze in die DDR, Erik Honecker nahm die Juden aus der Sowjetunion auf. Danke Erik! Wir sind sofort losgefahren, wir wussten, die Freiheit ist ein seltener Gast in unserer Heimat, sie wird nicht lange bleiben. Früher oder später macht der Vorhang wieder zu. Im Ost- Berlin angekommen, war ich beeindruckt wie gut die Einheimischen zu uns waren, wir waren die Träger der geheimnisvollen russischen Seele, die Enkeln von Tolstoi und Dostojewski und natürlich Tschingis Aitmatow, den berühmtesten Träger der russischen Seele in der DDR. Die Ostdeutschen hatten Russisch in der Schule gehabt und konnten sogar das Megawort „Dostoprimetschatelnosti“ aussprechen, „Sehenswürdigkeiten“ auf Deutsch. Sie waren alle 1976 in Leningrad zu Besuch, sie sind mit der transsibirischen Eisenbahn durch das größte Land der Welt von West nach Ost gefahren, wurden an jeder kleinen Station von freundlichen Babuschkas mit Pelmeni und Salzgurken versorgt, beinahe für umsonst. Und einige von Ihnen hatten sogar in der Taiga Extremtourismus betrieben, zwei Wochen im Wald nur mit Russen unterwegs! Ich versuchte stets diese Freundlichkeit aufrecht zu erhalten, ich habe nur Gutes erzählt, auch dann, wenn die russische Politik kaum Raum dafür gab. Es seien bloß vorübergehende Schwierigkeiten, schrieb ich nach jeder Annexion, die Russland in Moldawien, Georgien, Ukraine startete. Die Politiker kommen und gehen, schrieb ich,

die Russen sind freundliche, offene, kreative und trinkfeste Menschen, sie haben bloß Pech mit der politischen Führung.

Oft, wenn ich Russendisko in Sachsen oder in Brandenburg veranstaltete, kamen ältere Menschen wie zum Karneval in sowjetische Uniformen verkleidet. Meine Tochter wurde stets mal eine Mütze mit Stern, mal ein Armeegürtel angeboten. Sie, in Berlin geborene und aufgewachsene Pazifistin, ekelte sich vor dem Zeug, auch meine Armeejahre in Russland waren nicht die schönsten des Lebens. Okay, dachte ich, wahrscheinlich sehen wir hier die Folge des Stockholmsyndroms. Die Besatzer sind gegangen, haben, bevor sie wegzogen, ihre Uniformen gegen Kleingeld den ehemals Besetzen dagelassen, die befreiten Besetzen ziehen die Uniformen der Besatzer an, um auf karnevalistische Art ihre Befreiung zu feiern, so eine komplizierte philosophische Theorie haben wir erschaffen, um die Vorliebe der Einheimischen für sowjetische Uniformen zu erklären.

Doch die Wahrheit war viel schlichter. Die Zeit der Besatzung war die beste Zeit ihres Lebens, ihrer Kindheit und Jugend, und die hat man nur einmal im Leben. Sie haben als Kinder auf dem Militärterritorium gespielt und dürften vom Dach des Hangars mit dem Schlitten runterfahren, dafür haben sie den armen Soldaten Wodka aus der Kaufhalle gebracht, weil sie sich von den Kasernen nicht entfernen dürften. Die Soldaten gaben immer reichlich Trinkgeld, die russische Seele war für ihre Großzügigkeit bekannt. Ist schon schade um sie.

Vor Jahren bezeichnete jemand Putin als Anti Midas. Der König von Phrygien verwandelte laut Mythos alles, was er anfasste, in Gold. Putin verwandelt alles in Scheiße. Die Zeit wird vergehen, die Schuldfrage wird ausdiskutiert und Russland findet auf Umwegen über kurz oder lang seinen Weg nach Europa wieder. Möglicherweise kehren auch die Extremtouristen in die Taiga zurück. Aber das Kainsmal wird man von der geheimnisvollen russischen Seele nicht mehr wegkratzen können.