Europa steht eine tiefgreifende Destabilisierung bevor

Russlands Krieg gegen die Ukraine

von Andrij Waskowycz, ehemaliger Leiter der Caritas der Ukraine

24. Februar 2022

Ich bin schockiert über die Wucht und das Ausmaß des russischen Angriffs auf die Ukraine, obwohl wir diesen Angriff seit Wochen und Tagen erwartet haben. Vor allem bin ich schockiert und fassungslos angesichts der von Putin proklamierten zynischen Begründung und Zielsetzung einer angeblichen Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine. Eine solche Begründung schiebt der russische Präsident für einen Krieg vor zwischen den zwei größten Ländern Europas mit über 200 Millionen Einwohnern. Seit heute Morgen sind wir Zeugen der radikalen Umwälzung der europäischen Nachkriegsordnung mit unvorhersehbaren globalen Auswirkungen. Der Überfall auf die Ukraine ist der Versuch, dem ukrainischen Volk den Weg in eine demokratische Zukunft zu versperren und es wieder hineinzuzwingen unter die menschenverachtende russische Herrschaft.

Ich befürchte, dass die kriegerischen Handlungen seitens Russlands, vor allem der Beschuss ukrainischer Städte die größte humanitäre Krise mit Millionen Flüchtlingen zur Folge haben wird. Millionen Menschen werden gezwungen sein, Zuflucht und Schutz in demokratischen Nachbarstaaten der Ukraine zu suchen. Europa steht eine tiefgreifende Destabilisierung und eine Migrationskrise größten Ausmaßes bevor. Es wäre eine bittere Ironie, dass durch eine solche Fluchtbewegung möglicherweise Millionen Ukrainer in die Europäische Union kämen, gerade deshalb, weil der Ukraine die Mitgliedschaft in der Europäischen Union verwehrt geblieben ist. Es ist eine bittere Ironie, dass die Sicherheit Europas und die europäische Nachkriegsordnung unwiderruflich hinfällig geworden sind, gerade deshalb, weil der Ukraine der Weg in die NATO versperrt geblieben ist, der einen massiven Einmarsch russischer Streitkräfte in die Ukraine unmöglich gemacht hätte. Es ist eine bittere Ironie, dass sich vor allem Deutschland gegen die Aufnahme der Ukraine in die NATO gestellt hatte, und damit der Ukraine verwehrte, was Deutschland für sich selbst in Anspruch genommen hat: die NATO-Mitgliedschaft zu einer Zeit, als ein Teil Deutschlands durch die Sowjetunion okkupiert war. Unter dem Schutzschirm der NATO und dem atomaren Schutzschirm der USA konnte die Bundesrepublik Deutschland sich jahrzehntelang in Frieden, Freiheit und Sicherheit entwickeln, seinen Reichtum und Wohlstand mehren und sich schließlich mit dem besetzten Teil wiedervereinigen. Eine solche Entwicklung gestand Deutschland der Ukraine mit der Ablehnung einer beschleunigten NATO-Mitgliedschaft nicht zu.

Mit größter Sorge, mit dem Gefühl der Bedrohung ihrer blanken Existenz blicken die Menschen in der Ukraine in die Zukunft. Sie sind bereit für ihre Freiheit und die demokratische Entwicklung ihrer Heimat zu kämpfen. Es ist ein Kampf ums Überleben. Denn der gewaltsame Überfall auf die Ukraine, der Beschuss der Städte zielen erklärtermaßen auf die Vernichtung des ukrainischen Volkes ab, dem der russische Präsident das Recht auf Existenz abspricht. Es ist die Pflicht der freien Welt, die Auslöschung des ukrainischen Staates zu verhindern.