Das Kriegsrecht in Polen 1981 und der Ukrainekrieg 2022 – ein passender Vergleich oder eine allzu historisierte Zuspitzung?

Vorspann

Noch ist offen, ob es zu einer Besetzung von Teilen der Ukraine kommt. Aber schon jetzt herrscht in einigen vorübergehend besetzen Gebieten, faktisch oder erklärt, das Kriegsrecht. Russische Repressionsorgane verschleppen und verhaften widerständige Bürger. An manchen Orten wurden sogenannte Filtrierungslager eingerichtet, um die Festgehaltenen von den Staatssicherheitsorganen auf ihre mögliche Widerständigkeit hin zu überprüfen. Dies erinnert zumindest oberflächlich an das Kriegsrechtsregime, das 1981, allerdings von der polnischen Armee, über das damals kommunistische Polen verhängt wurde. Ob es weitere Parallelen oder auch Unterschiede gibt, untersucht der folgende Beitrag.

von Prof. Tytus Jaskułowski, Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der polnischen Universität in Grünberg (Zielona Góra)

Ohne Zweifel konnte keiner der zahlreichen Autoren und Publizisten, die in Polen eigene Texte anlässlich des 40. Jahrestages der Einführung des Kriegsrechts 1981 verfassten, ahnen, dass derartige Veröffentlichungen sowie die Durchführung der schon Jahre zuvor geplanten Gedenkveranstaltungen zu dieser wichtigsten Zäsur der volkspolnischen Geschichte schon im Jahr darauf, genau seit dem 24. Februar 2022 im Schatten der russischen Invasion in die Ukraine stehen würden. Das trifft auch auf den Verfasser dieses Texte zu, der Ende 2021 ein neues Buch über die Darstellung des Kriegsrechts in den Tagesinformationen des volkspolnischen Innenministeriums herausgegeben hat.1

 

Wie schon damals, Ende Dezember 1981 und Anfang 1982, mehren sich auch in der gegenwärtigen, auch internationalen Publizistik Stimmen, die als Folge des Kriegsgeschehens ein Ende der bisherigen Ära des politischen Handelns postulieren, wie das etwa Allan Little am 19. März in einem BBC-Kommentar formulierte.2 Jetzige Beiträge polnischer Literaten, wie etwa eine von Szczepan Twardoch in der WELT vom 2. März 2022 veröffentlichte Wortmeldung,3 in der er eine radikale Änderung der deutschen Russlandpolitik fordert, ähneln ebenfalls der Klagewelle der damaligen polnischen Publizistik, die vor allem in den im Exil herausgegebenen Periodika empört darauf hinwies, dass sogar drei Wochen nach der Einführung des Kriegsrechts seitens der Bundesregierung kein einziges Mal über die Rolle und die Mitverantwortung der Sowjetunion für dieses Ereignis gesprochen wurde. 4

 

Es ist nicht die Absicht des Verfassers im nachfolgenden Beitrag eine Analyse der Prinzipien der damaligen oder jetzigen deutschen Außenpolitik vorzunehmen. Er will vielmehr untersuchen, inwiefern die Methodik des damaligen Handelns der kommunistischen Machthaber in Polen zwischen 1981 und 1983 hilfreich sein kann, die jetzigen Denkmuster der Aggressoren wie auch der Verteidiger in der Ukraine besser zu verstehen. Zwar würden sich –  rein militärisch gesehen  – die sowjetischen Einmärsche in Ungarn 1956 oder in die Tschechoslowakei 1968 vielleicht besser eignen, mit dem Ukrainekrieg verglichen zu werden. (s. Aufsatz von Plogstedt_link???)Doch wurde jedoch die Zeit ab dem 13. Dezember 1981 in Polen explizit als Kriegsrecht bezeichnet, sowohl seitens der Machthaber als auch seitens der Gesellschaft. Die die Ereignisse in Polen begleitende, beschönigende Rhetorik des MfS, bei der in internen Berichten aus Polen von einem „Ausnahmezustand“ die Rede war, ändert daran nichts.5

 

 

Innenpolitische und gesellschaftliche Veränderungen

 

Nach Ansicht des Verfassers erscheinen vier Thesen besonders relevant. Erstens, radikale Veränderungen waren (nicht nur) innerhalb der polnischen Gesellschaft spätestens ab 1979 festzustellen, wurden jedoch zunächst nicht in ausreichendem Maße in der politischen Wahrnehmung und Planung Volkspolens bzw. der Sowjetunion berücksichtigt. Die brutale Antwort auf die zunehmende Westöffnung oder schlicht auf die Unzufriedenheit der Bevölkerung, wie sie eine Militärintervention oder die Einführung des Kriegsrechts darstellte, war de facto eine Notmaßnahme, getroffen mit dem Ziel die unvermeidbare Westintegration – damals Polens – um jeden Preis zu verhindern. Eine ähnliche Veränderung der gesellschaftlichen Situation, verbunden mit der Überzeugung, dass die Aufrechterhaltung von allzu engen Beziehungen der Ukraine zu Russland einfach nicht mehr attraktiv ist-etwa wegen der hegemonialen Politik Russlands- findet in der Ukraine spätestens seit 2014 statt.6 Die Reaktion der Herrschenden damals offenbart eine von polnischer Seite dem MfS übergebene Analyse etwa deutete im besagten Jahr 1979 darauf hin, dass „CIA-Experten feststellen, dass Osteuropa weit von einer Einheitlichkeit entfernt sei. Im Prinzip bestehe der ,sowjetische Block´ bereits nicht mehr. (…) In amerikanischen nachrichtendienstlichen Einschätzungen wird betont, dass in den nächsten Jahren die Unzufriedenheit unter der Bevölkerung wahrscheinlich anwachse, was innere Spannungen auslösen werde (…) und dass sich auf die innenpolitische Situation in Osteuropa das fortgeschrittene Alter vieler führender Funktionäre und die Frage ihrer Nachfolger auswirken werde.“7 Das erinnert durchaus an die Argumentation von Putins kriegsvorbereitender Rede, wo er die Ausdehnung der Nato in Osteuropa beklagt. (Link???)

 

Für  Volkspolen ab Sommer 1980 war die zitierte Analyse durchaus zutreffend. Wir wissen auch, dass die polnischen Parteispitzenfunktionäre die alarmierenden Berichte der Geheimdienste ignorierten, ja ablehnten, was in Polen mit dazu beitrug, dass Solidarność entstehen konnte. Ihre Entstehung beschleunigte auch Personalentscheidungen an der Parteispitze,8 unabhängig von der Frage, ob die reale Macht in der Hand des Ersten Parteisekretärs oder in einem kollektiven Gremium wie dem Politbüro verblieb. Auch wenn heute aus dem inneren russischen Machtzirkel zurzeit keine verlässlichen Informationen vorliegen, kann man an Hand von Indizien davon ausgehen, dass dort gerade ähnliche Prozesse ablaufen.9 Eine traurige Ironie besteht dabei darin, dass im Sommer 1980, also zu dem Zeitpunkt, als die Solidarność entstand, der damalige polnische Parteisekretär Gierek in die Sowjetunion fuhr, um seinen Urlaub auf der Kriminsel zu verbringen und damit zu beweisen, dass die Lage in Volkspolen stabil war.

 

Was geschah dann? Die Solidarność war im Jahr 1980 in der Lage die politische Szene zu beherrschen sowie die Staatspartei dazu zu zwingen, eine Vereinbarung mit ihr, also einer de facto staatsfeindlichen Organisation, zu unterzeichnen. Dies bedeutete zum einen nicht nur die gerichtliche Registrierung der Gewerkschaft Solidarnoś, die die spätere gewalttätige Antwort des Staates geradezu herausforderte. Zum zweiten hatte dies indirekt auch eine fundamentale Vorbereitung dieser Gewerkschaft auf die späteren kriegsähnlichen Zustände zur Folge. Gemeint sind damit die enorme Zahl der Mitglieder, nämlich elf Millionen Menschen, die Entstehung einer einheitlichen Führung, die westliche logistische und auch die materielle Hilfe sowie ein gigantisches Engagement der Gesellschaft, die bereit war Solidarność zu unterstützen.10 Da diese Entwicklung von Solidarnoc zu einer Massenorganisation auf eine immer schlechter werdende wirtschaftliche Situation Volkspolens traf, war eine gewaltige Militäroperation des Staates in Augen der damals Herrschenden die einzig verbliebene Option zu sein schien, um das alte Regime am Leben zu halten.

 

Das was ab 2014 in der Ukraine erfolgte, nämlich eine im Verborgenen begonnene ukrainische Vorbereitung auf einen unvermeidbaren Verteidigungskrieg, ähnelt durchaus – auch wenn die Rahmenbedingungen gänzlich andere sind – den damaligen polnischen Umständen.

 

Die Rolle des Westens

Eine zweite wichtige Anmerkung betrifft die Rolle des Westens. Ab dem 22. Oktober 1980 wurden innerhalb des polnischen Generalstabs erste Beratungen abgehalten, und zwar mit dem erklärten Ziel,darüber nachzudenken die „Ordnung im Lande im Rahmen des Kriegsrechts wiederherzustellen.“ Wir wissen heute, dass die amerikanische Regierung dank der Informationen, die ein Mitarbeiter dieses Stabs, Oberst Ryszard Kukliński, dem CIA hatte zukommen lassen,11 eigene Antworten im Voraus planen sowie die polnische und die sowjetische Seite vor einer Eskalation der geplanten militärischen Schritte warnen konnte. Unmittelbar nach der Einführung des Kriegsrechts wurden auch gegen Volkspolen starke Wirtschaftssanktionen12 eingeführt, wenn auch nicht so radikale wie jetzt gegen Russland. Die Solidarność erhielt weiterhin materielle Unterstützung, auch seitens der westdeutschen Gewerkschaftsbewegungen und anderer westlicher Vereinigungen. Natürlich kann man die heutigen Waffenlieferungen an die Ukraine nicht mit der damaligen Hilfe für Polen vergleichen. Vergleichbar ist jedoch die Tatsache, dass man im Westen schon damals annahm, dass die wirtschaftliche Lage die polnischen Machthaber dazu zwingen würde, einen Kompromiss mit der Solidarność einzugehen. Tatsächlich sollte es so kommen, allerdings erst 1989. Ob das im Fall vom heutigen Russland die Sanktionen schon 2022 einen Wandel bewirken oder dies deutlich später der Fall sein wird, das ist zur Zeit noch nicht ausgemacht.

 

Der Schwächere kann siegen

Die externe westliche Hilfe als Faktor ist in beiden Fällen ist als besonders wichtiges Momentum hervorzuheben. Dies gilt auch für die dritte These, nämlich die These von einem grundsätzlich möglichen Sieg der schwächeren Partei unmittelbar nach dem Beginn der Gewaltanwendung, also ab Dezember 1981 und Februar 2022. Der ungerechte Angriff konsolidierte damals und konsolidiert auch heute den Zusammenhalt von Gesellschaften, ruft eine zuvor kaum vorstellbare Tapferkeit hervor, bildet auch in der öffentlichen Wahrnehmung neue Helden heraus und kompensiert so Ungleichheiten, etwa was die Zahl der Streitkräfte angeht. Die konsequente Haltung des damaligen Solidarfonds-Vorsitzenden Wałęsa, der sich – als Internierter – weigerte, jegliche Form der Kooperation mit dem kommunistischen Regime einzugehen, galt damals in der Gesellschaft ebenso als ein Symbol der Tapferkeit wie es jetzt beim ukrainischen Präsidenten Zelenskij und seiner Entscheidung der Fall ist, in der umkämpften Hauptstadt Kiew zu bleiben. Gerade diese Haltung, die als Erklärung aufzufassen ist, grundlegende Werte wie die staatliche Unabhängigkeit zu verteidigen, wird sich in der Ukraine auszahlen, so wie das auch in Polen damals der Fall war. Das Kriegsrecht musste letztlich doch aufgehoben werden, weil – trotz der zunächst scheinbaren Machtkonsolidierung – weder die Wirtschaftsprobleme gelöst wurden noch die Gesellschaft bereit, war das kommunistische Regierungssystem zu akzeptieren.

 

Der fundamentale Unterschied zwischen Polen 1981 und der Ukraine 2022 besteht aber sicherlich darin, dass man wegen der grausamen Kriegsverbrechen der russischen Seite mindestens eine Generation wird warten müssen,, um die bilateralen ukrainisch-russischen Beziehungen neu und produktiv gestalten zu können. Nach dem Trauma des Zweiten Weltkrieges wurde der erste Normalisierungsvertrag zwischen Volkspolen und der Bundesrepublik auch erst 1970 unterzeichnet. Angesichts der täglich von den Medien gezeigten Grausamkeiten der russischen Angriffe13 lässt sich aber bezweifeln, ob andere, polnische oder osteuropäische und insbesondere jugoslawische Beispiele für die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen nach dem Ende des Krieges für die Ukraine überhaupt relevant sein können.

Kennen die Deutschen die russische Politik?

Die vierte und letzte Anmerkung hat zwar auch viel mit dem polnischen Kriegsrecht zu tun. Sie hat aber gleichzeitig einen westdeutschen Aspekt. Verbunden ist sie heute mit der Frage, ob die jetzigen Kremlherrscher wirklich nicht wussten oder nicht wissen wollten, dass ein Krieg in der Ukraine – militärisch gesehen – zu gewinnen sein könnte, aber militärischen Verlusten verbunden wäre, die in der jüngeren Geschichte ihres gleichen suchen.Eine ähnliche Frage wurde Ende April 1981 in der Zentrale des bundesdeutschen Auswärtigen Amtes gestellt. Und die westdeutsche Botschaft in Moskau wurde darum gebeten, eine Antwort auf diese Frage vorzubereiten14.

 

Die Lektüre des entsprechenden Antwortschreibens der deutschen Botschaft thematisiert gut – mehr als 40 Jahre, nachdem es erstellt wurde – gut einerseits die heutigen Unsicherheiten bei der Einschätzung des möglichen politischen Handelns der aktuellen Machthaber in Moskau.Die Meinung der Botschaft war klar: Die Kenntnisse über die sowjetischen Entscheidungsprozesse waren mangelhaft; ebenso die Antwort auf die Frage, ob die Erfahrungen aus den alten Militärinterventionen, z. B. aus dem Jahr 1968 in der Tschechoslowakei für die Sowjets überhaupt relevant seinen. Relevant sei für die Sowjets, so die Botschaft damals, angeblich nur der eigene Imperialismus gewesen.

 

Eine Antwort der Botschaft hat jedoch andererseits für die Kernfrage dieses Beitrages, die nach Gemeinsamkeiten der Konstellationen damals wie heute, i jedoch einer geradezu eine schlüsselhaften Bedeutung: „Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass das Weltbild der gegenwärtigen sowjetischen Führung noch immer durch ein strenges Schwarz-Weiß Schema, um nicht zu sagen, durch eine paranoide Grundhaltung gekennzeichnet ist“.15 Vieles deutet darauf hin, dass sowohl das polnische Kriegsrecht 1981 als auch die Orangene Revolution 2014 in der Ukraine jenes Weltbild in Kreisen der russischen Herrschaftsclique kaum verändern konnten. Ein Bild, in dem jedes menschliche Bedürfnis nach Freiheit offenbar mit einer Gefährdung der eigenen imperialen Bestrebungen gleichgesetzt wird.

 

Vielleicht hatte der ehemalige BND-Chef Hans-Georg Wieck Recht, als er sagte, dass personelle Kontinuitäten das Begreifen der Lage in anderen Ländern beeinträchtigen kann.16 Und vielleicht wurde vor allem deswegen die Entscheidung getroffen, die Ukraine 2022 anzugreifen. Diese Erstarrung des Denkens würde, auch wenn man die jetzige Entwicklung des Krieges betrachtet, kein gutes Ende für Russland erwarten lassen.

 

 

 

1Tytus Jaskułowski, Piękna nasza Polska cała... Stan wojenny w krzywym (?) zwierciadle "Informacji Dziennych" MSW 1981–1983, Warszawa 2022.

2Allan Little, Ukraine war: Putin has redrawn the world - but not the way he wanted, www.bbc.com/news/world-europe-60767454

3Szczepan Twardoch, Heute Kiew - morgen Riga oder Berlin, Die Welt vom 2.03.2022, S. 14.

4Marcin Misiek, Niemcy wobec stanu wojennego w Polsce, Aneks, 1982, Nr. 27, S. 96.

5Vgl. ZAIG, Einschätzung aktueller Vorgänge in der VR Polen (Zeitraum 13.12.1981 bis 4.1.1982), BStU/ZA/ZAIG, Nr. 13294, S. 1.

6Adam Balcer, Europe and the Ukrainian Civic National Identity, eu.boell.org/en/2018/04/25/europe-and-ukrainian-civic-national-identity.

7Tytus Jaskułowski, Spione wie Ihr! Groteskes und Kurioses in der geheimen Welt zwischen DDR und Polen 1970-1989, Berlin 2018, S. 295.

8Ryszard Terlecki, Miecz i tarcza komunizmu. Historia aparatu bezpieczeństwa w Polsce, Kraków 2009, S. 258.

9Ben Soodavar, The psychology behind the Kremlin's war in Ukraine, www.kcl.ac.uk/whats-the-psychology-behind-putins-decision-to-invade.

10Andrzej Paczkowski, Wojna polsko–jaruzelska, Warszawa 2006, S. 161.

11Sławomir Cenckiewicz, Atomowy szpieg. Ryszard Kukliński i wojna wywiadów, Poznań 2014, S. 280.

12Jan Skórzyński, Marek Pernal, Kalendarium Solidarności 1980-89, Warszawa 2005, S. 88.

13www.bbc.com/news/60591017

14Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Moskau, 19.05.1981, Schreiben ans AA, Referat 214, Perspektiven der politischen Entwicklung um Polen: der Faktor Sowjetunion, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes/Bestand 42/Band 132896.

15Ebenda.

16N. Glocke, P. J. Winters, Im Geheimen Krieg der Spionage. Hans-Georg Wieck (BND) und Markus Wolf (MfS). Zwei biografische Porträts, Halle (Saale) 2014, S.144.