Wie stark ist Russland? Ein Versuch zur Einschätzung des russischen militärischen Potentials und des Krieges in der Ukraine

von Dr. Alexander Querengässer, Militärhistoriker

Stand 28.3. 2022

Das Ende des Kalten Krieges brachte nicht nur den Zerfall des Sowjetstaates, sondern auch den der Roten Armee mit sich, einer Armee, die seit dem Zweiten Weltkrieg als eine der größten und besten der Welt gegolten hatte. Allerdings hatte die Rote Armee bereits in den Achtziger Jahren zunehmend Probleme, beim technologischen Wettrüsten mit den USA Schritt zu halten. Sowjetische Ingenieure waren zwar noch immer in der Lage, hochmoderne Waffensysteme zu entwickeln, die Industrie war jedoch nur noch mit Mühe, diese auch herzustellen. So erhielt die 941 U-Boot Klasse Akula (NATO-Bezeichnung: Typhoon) vermutlich auch deswegen einen Dreifachrumpf, weil die Konstrukteure der Qualität der Schweißverfahren in den Werften nicht trauten. Das für die Druckkammern verbaute Titanium musste nämlich unter Vakuum mit höher Temperatur verschweißt werden, als normaler Stahl. Generell hinkte die Qualität sowjetischer Schiffe bereits in den Achtzigern hinter denen westlicher Nationen hinterher.1 Der Zusammenbruch der UdSSR führte auch zu einer drastischen Reduzierung des – nun russischen – Militärs. Neubauprojekte wurden auf Eis gelegt und selbst die Erhaltung bestehender Technologie von Schiffen, Panzern, Flugzeugen, bereitete Schwierigkeiten. Der Untergang des Atom-U-Boots „Kursk“ im Jahr 2000 wird zum Teil darauf zurückgeführt. Neben Defiziten in der Schwerindustrie – einst ein Flaggschiff der sowjetischen Wirtschaft – machte sich auch die Rückständigkeit sowjetischer Elektronik zunehmend negativ bemerkbar. Die technologische Schere zwischen USA und UdSSR klappte schon gegen Ende des Kalten Krieges zunehmend auseinander.

Unter Wladimir Putin sollte sich Russland nicht nur wirtschaftlich stabilisieren, sondern auch militärisch erstarken. Putin lag und liegt viel daran, Russland als potente Militärmacht zu präsentieren, die auf Augenhöhe mit den USA und China agieren kann.2 Russische Interessen wurden während des Zweiten Tschetschenienkrieges (1999-2009) und des Georgien- oder Kaukasuskrieges (2008),der in vielerlei Hinsicht als Blaupause für das russische Vorgehen in der Ukraine herhalten kann3,mit militärischer Gewalt durchgesetzt. Seit 2015 greift Russland zudem mit Luftstreitkräften im Syrienkonflikt ein und trägt somit wesentlich zur Stabilisierung, ja überhaupt zum Überleben des Assad-Regimes bei.

Ein Jahr zuvor hatten russische Truppen zudem die Krim besetzt. Durch ein von Russland durchgeführtes Referendum spaltete sich die Halbinsel schließlich von der Ukraine ab. Gleichzeitig unterstützten russische Truppen verdeckt pro-russische Separatisten im ukrainischen Donbas. Nicht nur von Russland finanzierte Milizen, sondern vermutlich auch verdeckte aktive Einheiten der russischen Armee kamen hier zum Einsatz.4 Der Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 stellt somit bei weitem nicht die politische Zäsur dar, als die sie in deutschen Medien dargestellt wird. Es ist die durchaus nicht unvorhersehbare nächste Eskalationsstufe eines Krieges gewesen, den Russland schon seit acht Jahren offen oder verdeckt gegen die Ukraine geführt hat. Die Armee nutzt den Konflikt um ihre „Battalion Tactical Groups“ (BTG) zu testen. Diese ursprünglich im Tschetschenien- und Georgienkrieg improvisierten Verbände wurden im Zuge der Russischen Heeresreform 2009 dauerhaft etabliert und sollten im Krisenfall sofort einsatzbereit sein. Diese 600 bis 800 Mann starken Verbände besitzen eine eigene Infanterie, Panzer, Artillerie und gepanzerte Fahrzeuge.5

Die starken russischen Rüstungsmaßnahmen und die aggressive Umsetzung außenpolitischer Ziele, zu der sich Wladimir Putin auch offen benannt hat, sind insbesondere in Europa zunehmend mit Sorge betrachtet worden. Dennoch klafft eine Lücke zwischen der martialischen Rhetorik Putins und dem militärischen Potential seines Landes. Die Defizite hinsichtlich der russischen Leistungsfähigkeit werdenjedoch nicht erst in der Ukrainekrise sichtbar, sondern deuteten sich bereits durch die Probleme an, die ambitionierten eigenen Aufrüstungspläne umzusetzen.

Der folgende Beitrag möchte diese Probleme genauer beleuchten und verdeutlichen, dass militärisches Potential eben nicht nur anhand der Spezifikationen einzelner Waffensysteme und der Gesamtstärke einer Armee festgemacht werden kann, sondern dass diese vor allem durch die Leistungsfähigkeit einer Wirtschaft bestimmt ist, die diese Waffensysteme baut und erhält. Daher sollen die russischen Rüstungsmaßnahmen auf einer strategischen und operativen Ebene beleuchtet werden.6 Als strategische Ebene versteht dieser Beitrag die Fähigkeit eines Landes, Rüstungsbetriebe so zu entwickeln, dass sie militärische Spitzentechnologie zu bauen in der Lage ist. Die darunter angesiedelte operative Ebene definiert die generelle Fähigkeit der Wirtschaft, das eigene Militär in Kriegszeiten zu erhalten, indem Ersatzteile – vom Mikrochip für Lenkwaffen bis hin zum Ölfilter für den einfachen Transport-LKW – in ausreichender Zahl produziert werden.

Potemkinsche Dörfer? Russische Waffentechnologie auf dem Reisbrett und in der Realität

Im Laufe des neuen Jahrhunderts proklamierte Russland nicht nur wiederholt vollmundig massive Aufrüstungsprogramme, sondern präsentierte der Öffentlichkeit auch stolz neu entwickelte Waffentechnologie.7 Die Marine sollte umfangreich vergrößert werden, wofür zunächst alte, aufgelegte sowjetische Schiffe modernisiert und wieder in Dienst gestellt wurden, darunter zwei der als „Schlachtkreuzer“ klassifizierte Schiffe der Projekt 1144-Reihe, die Admiral Nachimov und die Pjotr Weliki, sowie der Aufbau von zwei Trägergruppen mit jeweils drei Flugzeugträgern. Im Jahr 2015 wurde das Projekt 23000E Schtorm vorgestellt, ein 100.000 Tonnenträger für bis zu 90 Flugzeuge. Die Entsendung einer Trägergruppe rund um die veraltete, noch aus Sowjetzeiten stammende Admiral Kuznecov, nach Syrien sollte vor allem ein Zeichen hinsichtlich der maritimen Schlagfähigkeit Russlands setzen.

Das Heer präsentierte 2015 auf einer Militärparade stolz die ersten Modelle des T-14 Kampfpanzers, von denen laut Aussage des Verteidigungsministeriums bis 2020 bereits 2 300 Stück hätten produziert werden sollen. Die proklamierten Spezifikationen des neuen Panzers erregten durchaus Aufsehen, schienen diesem T-14 doch bestehende westliche Modelle, einschließlich des deutschen Leopard II, nicht mehr gewachsen.8

In der Praxis erwiesen sich diese russischen Projekte jedoch oftmals als Potemkin’sche Dörfer, was deutliche Rückschlüsse auf die Leistungsfähigkeit der russischen Wirtschaft und damit auf das militärische Potential des Landes zuläßt. Die Effizienz von Waffensystemen hängt von drei unterschiedlichen Entwicklungsstufen ab, zunächst dem bereits langen Prozess vom Entwurf bis zur Serienreife, dann der Produktion und schließlich der Erhaltung im Feld. Die zweite, aber insbesondere die dritte Stufe werden bei der Betrachtung militärischer Effizienz oft vernachlässigt. So loben Militärgurus immer noch die deutschen Panzerkonstruktionen des Zweiten Weltkrieges, wie den Tiger und den Panther als die effektivsten ihrer Generation, übersehen aber, dass ihre komplexe Konstruktion erstens zu vergleichsweise geringen Ausstoßraten und zweitens zu enormen Problemen bei der Wartung im Feld führte. Diese beiden Stufen lassen auch bei anderen Panzertypen Rückschlüsse auf die strategische und operative Ebene von Logistik zu. Die strategische ist die übergeordnete Ebene. Militärtechnik sollte im Idealfall zweckgebunden entwickelt werden, d.h. mit Blick auf mögliche und vor allem wahrscheinliche Einsatzmöglichkeiten. Die geografischen und topografischen Begebenheiten des Einsatzraumes, sowie die militärische Struktur potentieller Gegner sollten in diese Überlegungen mit einfließen. Wichtig ist aber auch, dass bei einer strategischen langfristigen Planung die wirtschaftlichen Kapazitäten dem Bedarf der Armee angepasst werden. Umgekehrt ist das militärische Potential auch stets vom wirtschaftlichen abhängig. Hierzu gehört nicht nur die Möglichkeit, Waffensysteme zu bauen, sondern – hier gehen wir in die „operative“ Ebene von Logistik während eines Krieges oder eines einzelnen Feldzuges über – diese im Einsatzfall zu erhalten, indem z.B. genügend Ersatzteile produziert und Möglichkeiten zur schnellen Überholung geschaffen werden.

Es zeigte sich relativ rasch, dass Putins ambitionierte Aufrüstungspläne von der russischen Wirtschaft nicht getragen werden konnten. Die zweite Entwicklungsphase – die Produktion – stellte bereits ein großes Hindernis für viele Projekte dar, was darauf schließen lässt, dass das strategische Potential der russischen Rüstungswirtschaft begrenzt ist. So schraubte das russische Verteidigungsministerium bereits ein Jahr nach der öffentlichen Vorstellung des T-14 Armata die anvisierte Produktion von 2 300 auf gerade einmal 100 Stück zurück. Es zeigte sich, dass Russland Probleme hatte, einzelne elektronische Bauteile für diesen Panzer zu produzieren. Der vorgestellte Panzer war noch überhaupt nicht serienreif. Erst 2021 wurde verkündet, dass der T-14 in die Serienproduktion gehen könne, doch in welchen Stückzahlen er nun gefertigt werden kann, ist bisher nicht klar.9 Auch der etwa zeitgleich angekündigte Schützenpanzer Kurganez-25 konnte bisher nicht in Serie gehen, wofür ebenfalls Probleme bei der Fertigung elektronischer Bauteile verantwortlich gemacht werden. Der Bau solcher Teile für Prototypen ist etwas anderes, als die Serienfertigung, wenn bei hohen Stückzahlen dennoch gleichbleibende Qualität gewährleistet werden muss.10

Auch die Flottenrüstung bereitet bis heute erhebliche Probleme, insbesondere der Aufbau der Trägergruppen. Aufgrund ihrer Größe und Komplexität sind Flugzeugträger die bisher teuersten Waffensysteme der Welt. Ihr Bau und Unterhalt stellen viele Nationen vor Probleme, so in Großbritannien, wo sich die Indienststellung der beiden Einheiten der Queen Elisabeth-Klasse lange verzögert hat,11 oder in Frankreich, dessen Träger Charles de Gaulle längere Werftliegezeiten als Einsatzzeiten aufweist (von Februar 2017 bis März 2019 musste das Schiff überholt werden). Die Reaktivierung sowjetischer Überwassereinheiten erwies sich dagegen einerseits als teuer, andererseits als wenig effizient. Ein Problem für die Marine bestand nicht zuletzt darin, dass fast die Hälfte der ehemals sowjetischen Marinewerften nun zu nicht-russischen Staaten – unter anderem der Ukraine – gehören und die Bau- und Überholkapazitäten des Landes somit stark begrenzt sind. Im ukrainischen, jetzt umgkämpften Mykolaiv am Schwarzen Meer wurden beispielsweise einst die großen sowjetischen Träger gebaut.12

Eine genaue Analyse der Diskrepanz der von Moskau vollmundig verkündeten Aufrüstungspläne und deren tatsächlicher Umsetzung wirft bereits ein bezeichnendes Licht auf die strategischen Kapazitäten der russischen Wirtschaft, die nicht annähernd in der Lage ist, diese Pläne umzusetzen. Ein Kernproblem betrifft vor allem, wie angedeutet, die Herstellung leistungsfähiger Elektronik, die für Kampfjets, Panzer und Schiffe unverzichtbar sind. Das Problem ist durchaus bekannt. Im Jahr 2012 wurden Mikrochips für russische Waffensysteme fast vollständig aus den USA importiert.13 Erst 2020 verkündete Moskau, die heimische Produktion stärker ankurbeln zu wollen, handele es sich doch dabei um „eine Frage der Souveränität des Landes“.14 Allerdings lässt sich ein solcher Hightech-Wirtschaftssektor nicht ohne weiteres auf die Art und Weise aus dem Boden stampfen, wie eine Traktorenfabrik zur Stalinzeit. Und so lange Russland keine leistungsfähige eigene Hightech-Industrie aufgebaut hat, wird es seine militärische Spitzentechnologie nur in Form von unfertigen Prototypen fertigen können, die als Potemkin’sche Dörfer des 21. Jahrhunderts gelten können.

Logistik im Krieg

Die Probleme der russischen Wirtschaft bei der Herstellung moderner Waffensysteme lenken den Blick auf ein zweites Problem, welches in der Analyse militärischer Kapazitäten oftmals unterschätzt wird: den Verschleiß im Krieg. Es genügt nicht, ein Waffensystem einmal herzustellen. Die Belastungen im Krieg führen zu einem gesteigerten Verschleiß einzelner Bauelemente und erhöhen den Wartungsbedarf, sowohl von Spitzentechnologie, wie Kampfjets und Panzern, als auch den von Transportfahrzeugen, die für den Nachschub wichtig sind.Die Geschichte liefert interessante Vergleichsbeispiele für dieses Problem. So wird oft darüber spekuliert, ob es Stalin 1945 möglich gewesen wäre, den Krieg nach dem Untergang des Dritten Reiches direkt gegen die Westalliierten fortzusetzen. Vom logistischen Standpunkt lautet die Antwort ganz klar Nein, denn das Transportwesen der Roten Armee fußte zu einem erheblichen Teil auf amerikanischen Studebaker und Ford-LKW, die im Zuge des Lend and Lease Abkommens geliefert worden waren. Mit Blick auf mögliche Spannungen zwischen den ungleichen Alliierten nach dem Fall des NS-Regimes hatten die Amerikaner jedoch bereits im Januar 1945 die Lieferung wichtiger Ersatzteile eingestellt. Daher fehlte es schon im Frühjahr an Zündkerzen, Reifen, Motorblöcken, Antriebswellen, Öl- und Luftfiltern und anderen Teilen, die für eine Routinewartung notwendig waren, um die LKW zu überholen.15 Diese LKW wurden jedoch benötigt, um Verpflegung und Munition für die Infanterie, Sprit und Ersatzteile für die Panzer und Granaten für die Artillerie zu transportieren. Eine weitere Offensive wäre somit nicht ohne Weiteres möglich gewesen.

Ein anderes Vergleichsbeispiel liefert der Erste Golf – oder Iran-Irak-Krieg (1980-1988). Die iranische Armee hatte noch zu Zeiten des Schah amerikanische Militärtechnik, vor allem Flugzeuge und Panzer gekauft, doch nach der Islamischen Revolution und der Geiselnahme von Teheran 1979 hatten die USA ihre Unterstützung eingestellt. So errang der Irak im Zuge des Krieges die Luftüberlegenheit, obwohl der Iran über bessere Flugzeuge und besser ausgebildete Piloten verfügte. Allerdings mangelte es an den nötigen Ersatzteilen für deren Wartung. Nicht mehr einsatzfähige Flugzeuge wurden daher nicht repariert, sondern ausgeschlachtet, um auf diese Weise Bauteile für andere Maschinen zu bekommen. Der Iran schmuggelte schließlich Ersatzteile aus Israel und Südkorea ein. Erst ab 1986 konnten schließlich auch Ersatzteile amerikanischer Jets im Iran nachgebaut werden.16

Der Ukraine-Konflikt: Afghanistan 2.0?

Der Versuch einer Qualifizierung militärischen Potentials ist wichtig, sagt aber letztlich wenig aus, wenn er nicht ins Verhältnis zumpotentiellen Gegner gesetzt wird. Und hier schneidet Russland sicherlich im Vergleich zu fast allen Nationen gut ab, insbesondere gegenüber jenen europäischen Nachbarn, die sich durch Putin militärische bedroht fühlen: Finnland, den Baltenstaaten und eben gegenüber der Ukraine. Gegenüber all diesen Staaten ist Russlands Militär zahlenmäßig und in vielen Belangen auch technisch überlegen. Während der nach dem Kalten Krieg entwickelte T-90 das Rückgrat der russischen Panzerstreitkräfte bildet, setzt die Ukraine noch auf dessen sowjetischen Vorgänger T-80 und die eigene weiterentwickelte Variante T-84. Die modernsten ukrainischen Flugzeuge sind die sowjetische MiG 29 und Su 27, während Russland bereits mehrere Nachfolgegenerationen dieser Modelle entwickelt und in großen Stückzahlen eingeführt hat.

Für die meisten Kommentatoren und Experten war es dennoch überraschend, dass der Ukraine-Krieg nicht innerhalb weniger Tage mit einem Sturz der Kiewer Regierung endete. Schon nach zwei Wochen wurden Vergleiche mit den russischen Kriegen gegen Finnland 1939-4017 und in Afghanistan 1979-198918 bemüht. Beide Vergleiche hinken jedoch – angefangen bei dem Umstand, dass die UdSSR den Finnlandkrieg nach einigen einleitenden Rückschlägen gewann. Die drei Kriegsschauplätze lassen sich nur schwer miteinander vergleichen. Im Finnlandkrieg war Russland gezwungen, einen Gegner auf sehr schmaler Front frontal anzugreifen, wodurch es seine numerische Überlegenheit schlecht ausspielen konnte. Das bergige Terrain Afghanistans verhinderte geradezu den effizienten Einsatz von Bodentruppen.

Die Situation der Ukraine war – zumindest am Vorabend des Krieges – eher vergleichbar mit der Polens beim deutschen Angriff 1939. Das Land verfügte über eine in vielerlei Hinsicht schwächere Armee und wurde von einem überlegenen Gegner aus drei Himmelsrichtungen angegriffen, was die Bildung eines Verteidigungsschwerpunktes erheblich erschwerte. Zudem sind weite Teile des Landes offen und stellen eigentlich ein ideales Einsatzgebiet für Panzer und motorisierte Verbände dar. Bereits im Zweiten Weltkrieg fanden in diesem osteuropäischen Raum die größten Schlachten statt. So etwa in den auch nun wieder umkämpften Städten Charkiw (Charkow) und Kiew. Vergleiche mit Finnland und Afghanistan sind vor diesem Hintergrund unangebracht. Ein schneller Erfolg war in dem – im Gegensatz zur sowjetischen Invasion Afghanistans – weitgehend konventionell geführten Krieg trotz der geschilderte Defizite des russischen Militärs also durchaus erwartbar.

Auch wenn es an dieser Stelle schwierig ist, qualifizierte Aussagen über Wladimir Putins strategisch-operative Pläne zu machen, so scheint es doch naheliegend, dass auch der russische Präsident mit einem schnellen militärischen und womöglich auch politischen Zusammenbruch der Ukraine gerechnet hat. Für eine vollständige Okkupation des Landes gegen den Widerstand eines substantiellen Teils der Bevölkerung ist die russische Armee zahlenmäßig nicht stark genug. Dies betrifft weniger die Menge und Qualität ihrer technischen Ausrüstung, als vielmehr die eingesetzt Mannstärke, die nur in begrenzten Maß durch Technik ersetzt werden kann, eine Erfahrung, die die Amerikaner in den letzten zwei Jahrzehnten in Afghanistan und Irak machen mussten. Kurzum: Hubschrauber, Jagdbomber und Panzer sind kein Ersatz für Infanterie, wenn es um die Besetzung eines Landes und die Kontrolle einer nicht kooperationsbereiten Bevölkerung geht.

Dennoch konnte der starke ukrainische Widerstand den russischen Vormarsch bald weitgehend stoppen. Die Gründe hierfür sind – zumal der Krieg im Moment, als dieser Aufsatz verfasst wird noch andauert – schwer zu ermitteln. Moral spielt sicherlich eine wichtige Rolle, denn während sich ein Großteil der ukrainischen Bevölkerung hinter ihren Präsidenten Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj stellt, mehrten sich rasch Berichte in westlichen Medien, wonach der Krieg sowohl in weiten Teilen der russischen Bevölkerung, als auch – und dies ist letztlich entscheidend – innerhalb des Militärs äußerst unpopulär ist.19 Letzteres wurde unter anderem durch aufgefangene Funksprüche untermalt, die noch ein weiteres Problem beleuchten. Demnach haben russische Verbände große Probleme, untereinander zu kommunizieren, weil sie viel zu lang benötigen, eine Funkverbindung herzustellen. In Zeiten, wo Hightech-Militär in Echtzeit miteinander kommuniziert und kommunizieren muss, weil Einsätze teilweise sekundengenau aufeinander abgestimmt sind, stellt dies ein großes Defizit dar.

Ein anderes, bis jetzt schwer zu greifendes Problem, betrifft die hohe Effizienz vergleichsweise einfacher „Antiwaffen“, die die Ukraine einsetzt und die ihr inzwischen in großen Mengen von der internationalen Gemeinschaft geliefert werden. Tragbare Panzer- und Luftabwehrraketen stellen ein kostengünstiges, hocheffizientes Mittel gegen Spitzentechnologie dar, weswegen viele Militärexperten seit einigen Jahren Zweifel über die Zukunft von Kampfpanzern und bemannten Kampfjets äußern. Zuverlässige Zahlen sind während des Krieges schwer zu ermitteln, aber nach dreizehn Tagen meldete die Ukraine bereits die Zerstörung von 317 russischen Panzern und 1.070 gepanzerten Fahrzeugen.20

Nach zwei Wochen verlangsamte sich das Tempo des russischen Vormarsches spürbar. Auch wenn die offiziell gemeldeten Verlustzahlen streitbar sind, so ist doch klar, dass Russland in wachsendem Umfang militärisches Großgerät verliert, während es in der Natur der Dinge liegt, dass sich in verbliebenen Panzern, Flugzeugen und anderen Fahrzeugen bald Verschleißerscheinungen bemerkbar machen. Je mehr die Ukraine den Konflikt in die Länge ziehen kann, desto stärker wird sich offenbaren, inwiefern Russland in der Lage ist, sein militärisches Potential aufrecht zu erhalten. Erste Medienberichte lassen bereits Zweifel daran aufkommen, dass die Verluste durch „Wear and Tear“, durch normalen Verschleiß mit Hilfe der eigenen Wirtschaft ersetzt werden können. Wie sehr russische Waffenelektronik von westlichen Mikrochips abhängig ist, die die Firma Intel auf Grund des Embargos vorerst nicht mehr liefern möchte, lässt sich schwer sagen21. Klar wird dieses Problem jedoch bereits bei der russischen Luftwaffe. Nachdem Airbus und Boeing die Lieferung von Flugzeugteilen nach Russland eingestellt und auch China am 10.03. überraschend eine entsprechende Lieferung verweigert hatte, sah sich Moskau notgedrungen dazu gezwungen, sich an die Türkei und Indien zu wenden.22 Wie wichtig diese Ersatzteile für die Einsatzfähigkeit der russischen Luftwaffe sind und wie schnell die eigene Wirtschaft in der Lage sein wird, diese womöglich selbst herzustellen, wird sich zeigen, aber so lange dieses Problem nicht gelöst werden kann, ist die Effizienz der russischen Luftstreitkräfte bedroht, zumal die eröffnenden Angriffe auf ukrainische Luftwaffenstützpunkte offenbar nicht zu deren Zerschlagung geführt haben.

Dennoch ist es fraglich, ob die Ukraine ohne internationale Unterstützung ohne große Gebeitsverluste aus diesem Konflikt hervorgehen kann. Putin könnte innenpolitisch sein Gesicht wahren, wenn er Selenskyi einen Kompromissfrieden aufzwingt, der die pro-russischen Don-Republiken anerkennt. Das rhetorische Säbelrasseln um einen möglichen russischen Atomschlag lässt sich in dieser Hinsicht als diplomatisches Druckmittel deuten.

Die Zugehörigkeit der Separatistengebiete – einschließlich der Krim – könnte durch ein von der UN durchgeführtes Referendum geklärt werden, was im Falle der Krim für Russland ausfallen könnte (nach der letzten Volkszählung lag der russisch-stämmige Anteil der Bevölkerung bei 58,3%), in allen anderen Territorien jedoch für die Ukraine, da die russischstämmige Bevölkerung auch im Donbas eine – wenn auch zahlenmäßig starke – Minderheit darstellt.23 Es ist derzeit nicht absehbar, dass Russland einer solchen Befragung unter neutraler Aufsicht zustimmen würde, ohne durch militärische Gewalt dazu gezwungen zu werden. Dies wiederum führt zu der Frage, wer einen solchen Einsatz durchführen sollte – ob unter UN- oder NATO-Mandat sei einmal dahingestellt. Selbst ein vereintes Europa erscheint im Moment zu schwach, um sich Russland ohne Unterstützung der USA entgegenzustellen. Die Amerikaner haben ihren militärischen Fokus in den vergangenen Jahren jedoch zunehmend in Pazifik verlegt,24 wo China -und nicht Russland- als der neue Herausforderer Nummer 1 an Stärke gewinnt. Ein militärisches Engagement in der Ukraine, welches auch den Einsatz umfangreicher Bodentruppen erfordern würde, muss die amerikanische Stellung im Pazifik schwächen und es erscheint zweifelhaft, dass Washington dieses Risiko eingehen würde, um die territoriale Integrität der Ukraine zu bewahren.

Auf der anderen Seite sollten Europa und die NATO – bei allen nachvollziehbaren Bedenken über eine mögliche Ausweitung des Konflikts – keine allzu großen Bedenken haben, dass Putin jetzt in einem großen Zug auch noch die Baltenstaaten angreift oder Finnland militärisch von einem NATO-Beitritt abzuhalten versucht. Die Probleme, die Russland trotz aller militärischen Kraftanstrengungen in der Ukraine hat, deuten stark darauf hin, dass das Potential des Landes für einen Mehrfrontenkrieg gegen die NATO nicht ausreicht, selbst wenn führende Mitgliedstaaten, wie Deutschland, nach Aussage eigener Militärs angeblich „blank“ dastehen.25 Dennoch war der Überfall auf die Ukraine für viele europäische Staaten ein wichtiges Warnzeichen, das eigene Militär nicht zu stark zu vernachlässigen. Si vis pacem para bellum – unter diesem Motto beschloss der Bundestag bald darauf die Erhöhung des eigenen Wehretats.

Fazit

Wirtschaftliche Faktoren sind wichtige Indikatoren für militärisches Potential, wenn auch nicht allein entscheidend. Trotz aller Probleme bei der Produktion moderner Spitzentechnologie verfügt Russland dennoch über ein großes Arsenal moderner Flugzeuge, Panzer und anderer Waffen, die qualitativ und quantitativ zumindest das ukrainische Militär deutlich in den Schatten stellt.

Auf die Defizite und Schwachstellen des russischen Militärs zu verweisen bedeutet somit nicht per se, dieses als schwach darzustellen. Nach dem „Global Firepower Index“ ist die russische Armee immer noch die zweitstärkste der Welt hinter den USA (Deutschland folgt bereits auf Rang 7).26 Das Militärbudget steht im internationalen Vergleich dagegen nur an vierter Stelle, was einen positiven Kosten-Nutzen-Faktor bedeutet.27 Pure Quantität kann auch eine Form von Qualität sein und auch hier sind die Zahlen für Russland beeindruckend. Mit 12.240 Fahrzeugen verfügt das Land über die größte Panzerwaffe der Welt, 4.000 Flugzeuge bedeuten die zweitgrößte Luftwaffe und die Marine ist die Drittgrößte

Dieses Potential erschien mehr als ausreichend, um einen wesentlich schwächeren Nachbarn niederzuringen. Strategie beinhaltet jedoch auch eine Einschätzung der voraussichtlichen Reaktionen eines Gegners und nicht nur in Russland erschien ein schneller Zusammenbruch der Ukraine wahrscheinlich. Der energische Widerstand, den die ukrainische Bevölkerung an den Tag legt, kommt vermutlich viel überraschender, als der russische Angriff selbst. Doch damit er letztendlich zum vollständigen Erfolg führt, wird seitens der internationalen Gemeinschaft mehr erforderlich sein, als Sanktionen. Auch wenn Krieg an sich in weiten Teilen der westlichen Bevölkerung abgelehnt wird, müssen wir uns rein vom Militärpotential Russlands betrachtet, darüber klar werden, dass die Kämpfe in der Ukraine voraussichtlich nur in die Länge gezogen, nicht siegreich beendet werden können, solange der Rest von Europa nur passive Unterstützung leistet.

Anmerkungen:

1 Jeremy Black: Naval Warfare. A Global History since 1860, Lanham 2017, S. 191-192.

2 Mark Urnov: “Greatpowerness” as the Key Element of Russian Self-Conciousness under Erosion, in: Communist and Post-Communist Studies 47 (2010), S. 305-322.

3 Ronald D. Asmus: A Little War that Shook the World. Georgia, Russia, and the Future of the West, New York 2010; Erich Reiter (Hrsg.): Die Sezessionskonflikte in Georgien. (Schriftenreihe zur internationalen Politik, Band 1), Wien/Köln/Weimar 2009.

4Wagner mercenaries: what we know about Putin’s private army in DonbasWagner mercenaries: what we know about Putin’s private army in Donbas | Euromaidan Press [aufgerufen am 22.03.2022]; Some 12,000 Russian soldiers in Ukraine supporting rebels: U.S. commander, auf: Some 12,000 Russian soldiers in Ukraine supporting rebels: U.S. commander | Reuters [aufgerufen am 22.03.2022].

5 Nicholas J Fiore: Defeating the Russian Battalion Tactical Group, in: Armor. Mounted Manouver Journal 2 (2017), S. 9-17.

6 Zur komplexen Definition von Strategie grundsätzlich: Jeremy Black: Military Strategy. A Global History, New Haven – London 2020.

7 Generell dazu: Bettina Renz: Russia´s Military Revival, Cambridge 2018.

8 Vgl.: Kampfpanzer Armata T-14 - Vor Putins T-14 zittert die Welt | STERN.de [aufgerufen am 14.02.2022]; Russland: "So einen Panzer hat niemand" - DER SPIEGEL [aufgerufen am 14.02.2022].

9 Franz Stefan Gady: Delivery of T-14 Armata Main Battle Tank Delayed, auf: Russia: Delivery of T-14 Armata Main Battle Tank Delayed – The Diplomat [aufgerufen am 14. 03-2022]; Defense contractor delivers batch of breakthrough Armata tanks to Russian troops - Military & Defense - TASS [aufgerufen am 14.03.2022].

10 Rolf Hilmes: Armata und Kurganez nicht in Serie, in: Europäische Sicherheit und Technik, auf: Armata T-14 und Kurganetz 25 werden nicht in Serie gebaut (esut.de) [aufgerufen am 14.03.2022].

11 Karl Schwarz: Größtes Kriegsschiff der Royal Navy „Prince of Wales“ geht in Dienst, in FlugRevue Flugzeugträger „Prince of Wales“ geht bei der Royal Navy in Dienst | FLUG REVUE [aufgerufen am 14.03.2022].

12 Hannes Adomeit: Russische Marinedoktrin und maritime Rüstung: Anspruch und Realität, in: Syrius. Zeitschrift für strategische Analysen 2/1 (2018), S. 70-75.

13 Ulrich Heise: Russische Waffen sind fast alle mit US-Mikrochips bestückt, auf: telepolis Neue russische Waffen sind fast alle mit US-Mikrochips bestückt | Telepolis (heise.de) [aufgerufen am 14.03.2022].

14 Gerit Schulze: Russland will Chips und Speicher selbst herstellen, auf: Germany Trade and Invest Russland will Chips und Speicher selbst herstellen | Branchen | Russland | Photonik, Elektronische Bauelemente (gtai.de) [aufgerufen am 14.03.2022].

15 Jeremy Black: Logistics. The Key to Victory, Yorkshire- Philadelphia 2021, S. 157-158.

16 Dilip Hiro: The Longest War. The Iran-Iraq Military Conflict. New York 1991, S. 105, 135, 221; Michael Flitner: Krieg als Geschäft, Waffenexporte in Iran und Irak, in: Anja Malanowski (Hrsg.): Iran-Irak. „Bis die Gottlosen vernichtet sind“, Hamburg 1987, S. 56-67.

17 Philip Gomm: Die brutale Lektion, die Putin aus dem Finnlandkrieg lernen müsste, auf: Russlands Winterkrieg gegen Finnland: Eine brutale Lektion in Sachen Demut - WELT [abgerufen am 12.03.2022]; Elisabeth Braw: Wie Finnland die Sowjetunion einst demütigte – und was die Ukraine aus der Geschichte lernen kann, auf: Ukraine-Krise: Wie Finnland Russland einst demütigte – und was Kiew nun aus der Geschichte lernen kann (merkur.de) [abgerufen am 12.03.2022].

18 Gernot Kramper: Putins Afghanistan – das droht den Invasoren in der Ukraine, auf: Putins Afghanistan – das droht den Invasoren in der Ukraine | STERN.de [abgerufen am 12.03.2022].

19 Monja Stolz /Tobias Utz: Belgier hört Funksprüche ab: „Kein Zeichen für eine gute Moral“, auf: Ukraine-Krieg: Belgier hört Funksprüche ab: „Kein Zeichen für eine gute Moral“ | Panorama (fr.de) [aufgerufen am 12.03.2022]; Fritz Schaap: „Es sieht sehr danach aus, als würden die ersten Russen desertieren“, auf Ukraine-Krieg: Die Probleme von Russlands Streitkräften - DER SPIEGEL [aufgerufen am 12.03.2022].

20 Jasper Stein: Wie hoch sind Russlands Verluste, auf: Krieg gegen die Ukraine: Wie hoch sind Russlands Verluste? | tagesschau.de [aufgerufen am 12.03.2022].

21 Alexander Dworzak: Russlands Achillesverse im Tech-Sektor, auf: Sanktionen - Russlands Achillesferse im Tech-Sektor - Wiener Zeitung Online [aufgerufen am 12.03.2022].

22 Christiane Kühl: Ukraine-Krieg: China verweigert offenbar Ersatzteile für russische Flugzeuge, auf: Ukraine-Krieg: China verweigert offenbar Ersatzteile für russische Flugzeuge (merkur.de) [aufgerufen am 12.03.2022].

23 Vgl.: Всеукраїнський перепис населення 2001 | English version | Results | General results of the census | National composition of population: (ukrcensus.gov.ua) [aufgerufen am 26.03.2022].

24 Indo-Pacific Strategy of the United States, auf: U.S.-Indo-Pacific-Strategy.pdf (whitehouse.gov) [aufgerufen am 26.03.2022].

25 Bundeswehr steht aus Sicht von Heeresinspekteur „mehr oder weniger blank da“, auf: Ukraine-Invasion: Bundeswehr steht laut Heeresinspekteur »mehr oder weniger blank da« - DER SPIEGEL [aufgerufen am 22.03.2022].

26 Feuerkraft-Index: das sind die mächtigsten Armeen der Welt, auf: Luftwaffe, Marine, Artillerie: Feuerkraft-Index: Das sind die mächtigsten Armeen der Welt - Video - FOCUS Online [aufgerufen am 22.03.2022].

27 Trends in world military expenditure, 2019 (sipri.org) [aufgerufen am 22.03.2022].