Bedrohung und Expansion – Russlands Rechtfertigung des Krieges in der Ukraine in historischer und filmhistorischer Perspektive

von Alexander Querengässer

Versuche, den Ukrainekrieg aus einer russischen Perspektive zu verstehen, sind aktuell nicht unproblematisch, laufen sie doch rasch Gefahr, als Rechtfertigung eines Angriffskrieges abgetan zu werden. „Russlandversteher“ weisen auch in Deutschland darauf hin, der „Westen“ hätte im Zuge der Deutschen Wiedervereinigung einer weiteren Ostausdehnung von EU und NATO einen Riegel vorgeschoben.1 Die Osterweiterung 2002 stelle demnach eine Verletzung russischer Interessenssphären dar. Diese Haltung ist einerseits problematisch, degradiert sie doch die freien Länder Ostmitteleuropas zu einer diplomatischen Verfügungsmaße ohne Selbstbestimmungsrecht, auf der anderen Seite korrespondiert sie durchaus mit der russischen Auffassung.

Das russische Interesse an Ostmitteleuropa hat eine lange Geschichte. Russlands geopolitische Einflussnahme in diesem Raum reicht bis in das 18. Jahrhundert zurück, aber nicht zuletzt die Erfahrungen der Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges schufen das Interesse an einer weit nach Westen vorgelagerten Sicherheitszone.

Auch wenn die Rechtfertigungspropaganda Putins jeglicher rechtlicher und historischer Grundlage entbehrt und das moderne Völkerrecht den russischen Überfall auf die Ukraine keinesfalls legitimiert, so will der folgende Beitrag der Frage nachgehen, ob das im Zuge der Ukraine-Krise bediente Bedrohungsszenario durch den Westen nicht dennoch tiefere kulturelle Wurzeln hat. Daher soll zunächst die historische Einflussnahme und das Interesse Russlands in Ostmitteleuropa skizziert werden. In einem zweiten Schritt soll am Beispiel des russischen Historienfilms aufgezeigt werden, dass das Narrativ des bedrohten Russlands weit über die Putin-Ära hinausreicht. Abschließend ergibt sich daraus die Frage, ob die Hoffnung, mit einem Systemwechsel in Moskau würde sich alles ändern, die unter anderem durch in der Rede von US-Präsident Joe Biden in Warschau vom 26. März anklingen, in welcher er einen Sturz Wladimir Putins forderte,2 tatsächlich berechtigt ist.

Russland und „Ostmitteleuropa“

Im Spätmittelalter, sowie im 16. und 17. Jahrhundert lag Russland, beziehungsweise das Moskowiter Reich, an der äußersten Peripherie Europas und spielte in der europäischen Staatenwelt keine Rolle. Nicht nur geografisch, auch kulturell und religiös war das Land mit seiner eigenen Schrift und durch die orthodoxe Konfession vom übrigen Kontinent abgetrennt. Dieses „Nicht-dazu-gehören“ spiegelt sich beispielsweise darin wider, dass Moskau 1648 nicht am Westfälischen Friedenskongress beteiligt war. Die Wirren des Dreißigjährigen Krieges hatten das Land nicht erreicht. Dennoch stand das Land in engen Beziehungen mit seinen unmittelbaren Nachbarn. Unter Zar Iwan dem Schrecklichen (1530-1584) wurden weite Teile des ehemaligen livländischen Ordensstaates erobert und Russland gewann einen Zugang zur Ostsee, der jedoch bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts wieder verloren ging. In der Zeit der Wirren („Smuta“), die Russland zwischen dem Aussterben der Rurikiden-Dynastie 1598 und der Thronbesteigung des ersten Romanow Michail I. (1596-1645) erfasste, sah sich das Land massiver innerer und äußerer Probleme ausgesetzt. Zwischen 1610 und 1612 hielt eine polnische Armee sogar zeitweise Moskau besetzt.3

Unter den Romanows stabilisierte sich Russland im 17. Jahrhundert und expandierte sowohl nach Süden, in den Schwarzmeerraum, als auch nach Westen, wo die an Polen verlorenen Gebiete in einer Reihe von Kriegen zurückgewonnen wurden. Es war jedoch erst Peter der Große (1672-1725), der Russland in den Kreis der europäischen Großmächte aufsteigen ließ. Unter ihm gewann das Zarenreich einen Zugang zum Schwarzen Meer und zur Ostsee. Vor allem aber vergrößerte Peter das militärische Potential seines Landes derart erheblich, das Russland zu einem Machtfaktor anwuchs, der aktiv in die Verhältnisse Ostmitteleuropas und sogar des Heiligen Römischen Reiches eingriff. Im Jahr 1717 vermittelte der Zar den Warschauer Frieden zwischen dem polnischen König August II. (1670-1733) und der aufständischen Adelskonföderation von Tarnogrod. Der Frieden stärkte die Position des Adels gegenüber der Krone und führte somit zur dauerhaften Schwächung Polens.4 Im selben Winter besetzten 40.000 russische Soldaten das Herzogtum Mecklenburg-Strelitz um den regierenden Herzog – der eine Halbnichte Peters geheiratet hatte – gegen seine eigenen Stände zu unterstützen.5

Zwar wurde die unter Peter eingeleitete Westorientierung nach dem Tod des Zaren teilweise in Frage gestellt und das unter ihm erreichte militärische Potential – insbesondere in Hinblick auf die Flotte – nicht aufrecht erhalten – die Expansion in den Schwarzmeerraum wurde jedoch ebenson aufrecht erhalten,6 wie die Einflussname in der polnischen Politik. August III. (reg. 1733-1763) und Stanislaw Poniatowski (reg. 1764-1794/95) konnten ihre Herrschaftsanspruch nur dank russischer Unterstützung behaupten.7 Unter Katharina II. wurde der russische Einfluss schließlich so übermächtig, dass Polen in drei Teilungen (1772, 1792, 1795) zwischen Russland, Preußen und Österreich aufgelöst wurde.8 1815 wurde Russland zudem der Großteil des von Napoleon I. geformten „Ersatzpolen“, des Herzogtums Warschau, zugeschlagen. Diese Gebiete, zu denen nun auch die alte Hauptstadt Warschau gehörten, wurden als Königreich Polen in das Zarenreich integriert. 1783 hatte Russland zudem die Krim annektiert und mit dem Aufbau einer eigenen Schwarzmeerflotte begonnen. Große Teile der lokalen Bevölkerung, der muslimischen Krimtaraten, wurde nach Osten umgesiedelt.9

Mit der vierten Polnischen Teilung 1815 gab es in Ostmitteleuropa keine offenen territorialen Fragen mehr, ebenso wie im Baltikum, wo Russland 1809 im Frieden von Frederikshamm Finnland von Schweden erwarb.10 Es entwickelte sich im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts ein „panslawistisches Interesse“ von seitens Russlands, welches Einfluss auf die im Entstehen begriffenen Staaten auf dem Balkanraum zu nehmen versuchte.

Mit dem Zerfall des Zarenreiches 1917 veränderte sich die geopolitische Lage in Ostmitteleuropa radikal. Nationale Bewegungen in Polen, der Ukraine, den Baltenstaaten, Finnland und auch Weißrussland strebten nach Unabhängigkeit.11 Aufgrund des Bürgerkrieges, der Russland im Griff hielt, sowie der Intervention westlicher Mächte richtete sich die Aufmerksamkeit der Sowjets zunächst nach innen. Nach der Stabilisierung des Lenin-Regimes knüpfte die Außenpolitik des post-zaristischen Staates jedoch nahtlos an die Zeit vor 1917 an. Der Sowjetstaat versuchte, die territoriale Integrität des Zarenreiches zu erhalten, was im Falle der Ukraine und Weißrusslands gelang, im Falle der Baltenstaaten, Polens12 und Finnlands jedoch vorerst scheiterte.

Nach einer weiteren Phase der Konsolidierung der UdSSR unter Stalin erfolgten Ende der 30er Jahre neue Versuche der Rückeroberung alter zaristischer Territorien. Der Hitler-Stalin Pakt von 1939 teilte Osteuropa in eine NS-deutsche und eine sowjetische Interessenszone auf.13 In der öffentlichen Wahrnehmung des Zweiten Weltkrieges wird oftmals übersehen, dass Stalin im Windschatten Hitlers den Kriegsausbruch nutzte, um nicht nur – gemäß dem Abkommen mit Deutschland – die Osthälfte Polens, sondern auch die Baltenstaaten zu besetzen. Gleichzeitig überfiel die UdSSR im Winter 1939 Finnland. Nach einigen einleitenden Rückschlägen konnten die Sowjets die Finnen zurückdrängen und große Teile Kareliens besetzen.14

Diese Entwicklung verdeutlicht, dass die russische Außenpolitik und Einflussnahme in Ostmitteleuropa nicht vom politischen System abhängig war. Ähnliche Kontinuitäten wie zwischen Zaren- und früher Sowjetzeit existieren von der Zeit des Kalten Krieges in die postsowjetische Zeit hinein bis zu Putin, weswegen es falsch wäre zu glauben, dass sich die Grundzüge dieser Politik ohne oder nach Putin wesentlich ändern würden. Der aktuelle russische Staatschef ist vielleicht für die momentan aggressive Ausrichtung dieser Politik verantwortlich, sie fügt sich jedoch in einen langen historischen Kontext ein.

Im Zuge des Kalten Krieges, der eigentlich bereits mit dem Russischen Bürgerkrieg einsetzte15 und durch die Auseinandersetzung mit dem Faschismus in den 30er und frühen 40er Jahren nur unterbrochen wurde, gewann der Gegensatz zwischen Russland und dem zunächst nicht-kommunistischen Westen an Schärfe. Dabei handelte es sich zunächst vor allem um einen ideologischen Gegensatz, der jedoch das Ende des Kalten Krieges und den Zusammenbruch des Sowjetstaates überlebte. Der deutsche Überfall auf die UdSSR 1941, der erst kurz vor Moskau gestoppt werden konnte und in dessen Zuge große Teile der europäischen Kerngebiete der UdSSR erheblich in Mitleidenschaft gezogen worden waren, führte die Verwundbarkeit des Staates vor Augen und führte dazu, dass sich der alte russische Expansionsdrang nach Ostmitteleuropa mit dem Wunsch nach einer weiten Vorfeldverteidigung verband. Im Zuge der Nachkriegsordnung konnte die Sowjetunion ihre 1939/40 errungen Eroberungen bewahren, was unter anderem zu einer Westwärtsverschiebung Polens führte. Mit der Errichtung kommunistischer Staaten in Ostmitteleuropa, die sich analog zur NATO im Warschauer Pakt zusammenfanden, sowie dem Wirtschaftsbund COMECON gelang es der UdSSR ihren Einfluss in diesem Raum weiter zu stabilisieren. Versuche einzelner Paktstaaten, das kommunistische Regime abzuschütteln und das nationale Selbstbestimmungsrecht zurückzuerlangen, wurden militärisch unterdrückt, so in der DDR 1953, Ungarn 1956, der Tschechoslowakei 1968, sowie in Polen im Zuge der Solidarność-Bewegung in den 80er Jahren.16

Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks konnte weder diese Vorfeldkontrolle noch das pan-russische Interesse in Ostmitteleuropa allgemein aufrecht erhalten werden. Nicht nur, dass die ehemaligen Paktstaaten ihr Recht auf staatliche Selbstbestimmung in die Hand nahmen, durch den Zerfall des Sowjetstaates gingen die zwischen den Weltkriegen eroberten Gebiete weitgehend verloren, was sich auch im sukzessiven Verfall der GUS (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten) als eine Form der Ersatz UdSSR zeigte. Mit der Ukraine, Weißrussland und den Baltenrepubliken entstanden neue unabhängige Staaten, deren Beziehungen zu Russland teilweise von Beginn an äußerst angespannt waren. Dies trifft insbesondere auf die drei Baltenstaaten zu, die rasch eine engere Anbindung an den Westen suchten.

Immer wieder taucht im Zusammenhang mit dem aktuellen Ukraine-Krieg der alte Mythos auf, wonach der Westen der UdSSR im Zuge des Zwei plus Vier Vertrages, der eine der Grundlagen für die deutsche Wiedervereinigung bildete, die Zusage gegeben habe, dass die Europäische Gemeinschaft und die NATO nicht über die Oder-Neiße-Linie vordringen würden. Auf diese Weise bliebe eine russische Interessenssphäre in Ostmitteleuropa zumindest theoretisch abgesteckt. Putin griff diesen Mythos in seiner Rede vom 21. Februar 2022 direkt auf: „Als 1990 die Frage der deutschen Wiedervereinigung erörtert wurde, sagten die USA der sowjetischen Führung zu, dass das Bündnisgebiet und die militärische Präsenz der NATO nicht einen Zentimeter nach Osten ausgedehnt würden. Und dass die Wiedervereinigung Deutschlands nicht zu einer Ausweitung der militärischen Organisation der NATO nach Osten führen würde. Das ist ein Zitat.“17

Defacto enthält jedoch keiner der seinerzeit geschlossenen Verträge eine entsprechende Klausel.18 Es ist nicht undenkbar, dass eine solche Einschränkung Gegenstand der damaligen Verhandlungen war und es womöglich mündliche Übereinkünfte gab. Michail Gorbatschow hat diesbezüglich widersprüchliche Aussagen hinterlassen. Der im Westen verehrte und im Heimatland wesentlich weniger geschätzte Gorbatschow kritisierte die europäischen Staaten später auch dafür, dass sie es verpasst hatten, beim Bau eines „gemeinsamen Hauses Europa“ Russland mit einzubeziehen. Russland blieb bei der weiteren politischen und wirtschaftlichen Einigung des Kontinents außen vor, was aber nicht zuletzt daran lag, dass schon Gorbatschow selbst keinen über grobe Ideen hinausreichenden Plan für eine solche Zusammenarbeit entwickeln konnte.19

Fakt ist jedoch auch, dass ein russischer Anspruch auf ein über die Staatsgrenzen hinausreichendes „Interessengebiet“ jeglicher völkerrechtlichen Legitimität entbehrt und gegebenenfalls mit dem Selbstbestimmungsrecht der ostmitteleuropäischen Völker kollidiert. Der freiwillige Anschluss der Baltenstaaten, Polens, Ungarns, der Slowakei sowie der Tschechischen Republik im Zuge der EU-Osterweiterung 2004, sowie Rumäniens und Bulgariens 2007, die auch mit einem Beitritt zur NATO einhergingen, ist hingegen völkerrechtlich absolut legitim, auch wenn er aus russischer Perspektive historisch tradierte Interessensgebiete verletzt und womöglich auch ein im Zuge des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges aufgebautes Bedrohungsszenario durch den Westen bedient. Diesen Punkt hat Putin auch in seiner Rede vom 21. Februar nochmals unterstrichen, indem er betonte, dass es zuvor gegensätzliche Zusagen gegeben habe: „Heute genügt ein Blick auf die Karte, um zu sehen, wie die westlichen Staaten ihr Versprechen „gehalten haben“, dass sie keinen Vorstoß der NATO nach Osten zulassen. Sie haben uns schlicht betrogen. Fünf Erweiterungswellen haben wir bekommen, eine nach der anderen. 1999 wurden Polen, Tschechien und Ungarn aufgenommen, 2004 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien, 2009 Albanien und Kroatien, 2017 Montenegro und 2020 Nordmakedonien.

Im Ergebnis ist die Allianz, ihre militärische Infrastruktur, unmittelbar an die Grenzen Russlands vorgedrungen. Und dies ist einer der zentralen Gründe für die Krise der europäischen Sicherheit, es hat sich absolut negativ auf das gesamte System der internationalen Beziehungen ausgewirkt, es hat zu einem Verlust des wechselseitigen Vertrauens geführt.“20 Dass im Gegenzug der Austritt der Ukraine aus der GUS 2018 ein direktes Produkt der russischen und nicht der europäischen Außenpolitik war, negiere Putin in diesem Zusammenhang gekonnt. Das von Putin skizzierte Bedrohungsszenario ist allerdings gesellschaftspolitisch und kulturell viel tiefer verwurzelt, was im folgenden Abschnitt näher analysiert werden soll.

 

Bedrohung und Befreiung: Russland im Historienfilm

Insbesondere in Russland war der Historienfilm stets auch Propagandafilm, transportierte er doch eine offizielle Version der eigenen Geschichte, die mit der nationalen akademischen Geschichtsschreibung korrespondierte, aber ein wesentlich größeres Publikum erreichte.

Die Bedrohung durch den Westen hat sich kulturell tradiert und es gibt eine Kontinuität der Darstellung des bedrohten Russland beispielsweise im Film von Sergej Eisensteins Alexander Newski, über Sergej Bondartschuks Krieg und Frieden bis hin zu jüngeren Historienepen des russischen Kinos.21 Allein die Geschichte seiner Ausstrahlung verdeutlicht die propagandistische Bedeutung, mit der Alexander Newski konzipiert worden war. Stalin selbst hatte dem Regisseur den Auftrag erteilt, um Sozialismus kombiniert mit Nationalismus als Paradigma der sowjetischen Bevölkerung zu befördern.22 Eisensteins Version der Geschichte des Fürsten Alexander Jaroslawitsch (1221-1263), genannt Newski, ist ein Spiegelbild der Zeitgeschichte: Im Jahre 1242 wird Russland von zwei Seiten bedroht. Im Osten haben die Mongolen Teile des Landes besetzt, während sich von Westen das Heer des Deutschen Ordens nähert. Ihnen ist es bereits gelungen die Stadt Pskov am Peipussee zu erobern, wo der Orden mit brutaler Hand seine Herrschaft etabliert. In dieser Situation ruft die bedrohte Handelsstadt Nowgorod den Fürsten Newski um Hilfe. Ihm gelingt es, die Bevölkerung zu einen und den Orden schließlich in der Schlacht am Peipussee zu schlagen.

Zur Entstehungszeit des Films war die Sowjetunion tatsächlich durch einen europäischen Gegner im Westen – Hitlers Deutschland – und einen asiatischen Gegner im Osten – Japan – bedroht. Und wirklich, dies war aber erst nach der Fertigstellung von Alexander Newski absehbar, schlossen die Sowjetunion und Japan am 16. September 1939 einen Waffenstillstand, der es Stalin ermöglichte, seine militärische Aufmerksamkeit ganz dem Westen zuzuwenden.

Der Fokus des Films liegt allerdings auf der Dämonisierung der Deutschen und der Verklärung Newskis. Die Thematik „Deutscher Orden“ bot sich vor allem auch deshalb an, da Deutschland die Geschichte der Brüder und des Ordensstaates selbst instrumentalisierte, um beispielsweise Gebietsansprüche gegenüber Polen zu rechtfertigen. Während der Orden von deutscher Seite zum Vorkämpfer des Germanen- gegen das Slawentum idealisiert wurde, so gerieten sie in der polnischen oder russischen Geschichtsschreibung und Populärkultur etwa in den beliebten Romanen des polnischen Schriftstellers Henryk Sienkiewicz zu frauen- und kindermordenden Barbaren im weißen Mantel. Eben dieses Bild bedient auch Newskis Film, wenn er etwa zeigt, wie der Hochmeister persönlich nach der Einnahme Pskovs Kinder in ein Opferfeuer wirft.23

Den aktuellen Bezug des Films strich Eisenstein schließlich selbst in einem Artikel heraus: „Wenn man die Chroniken des 13. Jahrhunderts und die heutigen Zeitungen miteinander vergleicht, so glaubt man Zeugnisse ein und derselben Zeit vor sich zu haben; denn der blutige Terror der Ordensritter unterscheidet sich so gut wie gar nicht von dem Terror, der heute in Europa herrscht.“24

Alexander Newski legte ein Grundmuster für kommende sowjetische Historienfilme , welches auch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder aufgegriffen und in sich wenig variiert wurde. In der Ära Chruschtschow wurde den Regisseuren zwar kurzzeitig wieder etwas freiere Hand gelassen, was zur Entstehung einer Reihe recht beachtlicher, auch in Westeuropa positiv wahrgenommener Antikriegsfilme führte, etwa Michail Kalatosovs Lass die Kraniche ziehen (Letjat schurawli, UdSSR 1957), Andrej Tarkovskijs Iwans Kindheit (Ivanovo detstvo, UdSSR 1962) und Sergej Bondartschuks Ein Menschenschicksal (Sud‘ba čeloveka, UdSSR 1959). Doch mit der Machtübernahme Leonid Breschnews 1964 gewannen propagandistische Monumentalwerke, wie Krieg und Frieden (Woina i mir, UdSSR 1966-67), wieder an Bedeutung.25

Obwohl Bondartschuks Verfilmung als bisher detailgetreuste cineastische Umsetzung des Tolstoj-Klassikers gilt, lässt sich das oben skizzierte Muster sehr gut auf den Film übertragen. Auffällig ist zunächst, dass Bondartschuk den militärischen Episoden des Romans, wie dem Gefecht bei Schönbrunn, der Schlacht bei Austerlitz und, als Höhepunkt des dritten Teils, der Schlacht von Borodino wesentlich mehr Aufmerksamkeit widmet, als die Hollywoodverfilmung King Vidors (War and Peace, USA/I 1956). Der Zyklus arbeitet von Beginn an auf den Russlandfeldzug von 1812 als Höhepunkt zu. Hier steht Russland allein einer Invasion der unter Napoleon vereinigten europäischen Heere gegenüber. Napoleon steht hierbei beispielhaft für die Diktatoren des 20. Jahrhunderts und verkörpert das Bild des westlichen Imperialismus und Eroberungsdrangs. Auf russischer Seite tritt der Zar im dritten und vierten Teil fast völlig in den Hintergrund. Hier ist es Kutuzow, der volksnahe russische Soldat, dessen Genie das des Franzosenkaisers überwindet und der die Armee und die bäuerlichen Kosaken hinter sich vereinen kann. Das Ziel Russlands besteht lediglich in der Verteidigung der Heimat und so endet die Verfolgung der geschlagenen Grande Armée folgerichtig an den Grenzen Russlands und nicht, wie in der historischen Realität, die Tolstoi in seinem Epilog zumindest noch andeutet, mit der Besetzung von Paris 1814. Auch dies ist ein zentrales Motiv des sowjetischen Monumentalfilms, ein zentrales Sujet der Ostblockstaaten: Armeen sind zum Schutz der Staaten da und Krieg wird lediglich zur Verteidigung und nicht zur Erfüllung imperialistischer Eroberungsgelüste geführt. Dies unterscheidet die kommunistische Welt vom westlichen Imperialismus und dies dient als legitime Rechtfertigung für den Unterhalt der eigenen Streitkräfte.

Offensive Aktionen seitens der UdSSR benötigten daher eine eigene Rechtfertigung. Diese findet sich schon im Titel von Jurij Oserows fünfteiligem Zyklus über die Rückeroberung Osteuropas 1943–1945: Befreiung (Oswoboschdenije, UdSSR 1969-71), gedreht im aufwendigen 70 mm Breitwandverfahren. Die Besetzung ehemals freier Staaten, wie Rumänien, Bulgarien, Polen und natürlich Deutschland geschieht hier im Sinne des Kampfes gegen den ideologischen Klassenfeind. Die Arbeiter und Bauern dieser Nationen werden durch die Rote Armee vom elitären NS-Regime befreit. Folglich zeigt der Zyklus keine Verbrechen seitens der Roten Armee, stattdessen überall jubelnde Bevölkerung, die die „Befreier“ willkommen heißt. Auf der anderen Seite arbeitet Oserow zwei verschiedene Feindbilder heraus. Da ist zum einen Adolf Hitler und NS-Deutschland, die einen brutalen Angriffskrieg gegen die UdSSR entfesselt haben. Um die Dimensionen dieses Dramas zu verdeutlichen, werden am Ende die Opferzahlen der einzelnen Nationen verlesen, wobei die „Sowjetmenschen“ mit 20 Millionen den größten Aderlass zu beklagen haben. Oserow verpasst es auch nicht, einen einzelnen sowjetischen Panzerzug im vierten Teil (Die Schlacht um Berlin) einen Transport verängstigter KZ-Häftlinge aus einem Eisenbahnwagon befreien zu lassen. Dabei ist seine Inszenierung sehr dezent, nicht ansatzweise melodramatisch und wirkt durchaus glaubhaft und authentisch.

Zum anderen skizziert Oserow neben dem NS-Regime bereits die zukünftigen Gegner des Kalten Krieges, als intrigant im Hintergrund agierende Zwangsalliierte der UdSSR: die USA und Großbritannien. Während Franklin D. Roosevelt als eher einfältiger Naivling dargestellt wird, fällt Winston Churchill die Rolle als Drahtzieher des künftigen Kalten Krieges zu. Diese Haltung fußt möglicherweise auf Churchills eigener Geschichte des Zweiten Weltkrieges,26 in der er selbst zugibt, bei seinen militärischen Entscheidungen die künftigen Machtverhältnisse im Blick gehabt zu haben. Die militärischen Leistungen der Alliierten werden zwar erwähnt, aber im Film kaum gewürdigt. Stattdessen werden immer wieder ihre strategischen Fehlschläge in Szene gesetzt, die die Sowjetunion zu schneller Hilfe und Umdisponierung der eigenen Pläne zwang, etwa während der Ardennenoffensive.

Der „Große Vaterländische Krieg“ blieb auch in Zukunft das zentrale Thema in Oserows Schaffen, wobei ihm prestigeträchtige und kostenintensive Projekte übertragen wurden. 1977 erfolgte die Ausstrahlung seines vierteiligen Zyklus Soldaten der Freiheit (Soldaty svobody, UdSSR 1977). Die Filme folgen der Spur von Befreiung (ganze Szenen werden zudem aus dem älteren Zyklus recycelt) und zeichnen das militärische Geschehen in den Balkanstaaten nach. In der politisch angespannten Ära Breschnews wird hier vor allem auch der antifaschistische Widerstand in Rumänien, Bulgarien, Ungarn, der Tschechoslowakei, Polen und Deutschland herausgearbeitet. Stärker noch als im Vorgänger erscheint die Rote Armee nun als Unterstützer der nationalen kommunistischen Bewegungen, womit gleichzeitig der Führungsanspruch der UdSSR innerhalb des Warschauer Paktes cineastisch legitimiert werden soll. Die Wirkungsmächtigkeit des „Befreier“-Narrativ zeigt sich nicht zuletzt im Ukrainekrieg, in dem Putin wiederholt eine „Entnazifizierung“ der ukrainischen Regierung und sogar Bevölkerung und die Befreiung propagiert.

Die zentrale Rolle in vielen von Oserows Filmen spielt der sowjetische Marschall Georgi Schukow (1896-1974). Schukow sollte im Krieg, wie im Film der große sowjetische Held bleiben. 1985 drehte Oserow den Zweiteiler Die Schlacht um Moskau (Bitva za Moskvu; UdSSR, ČSSR, DDR, VRV 1985), dem 1990, als der Ostblock bereits auseinanderbrach, der von amerikanischen Studios co-finanzierte Film Stalingrad (Stalingrad; UdSSR, ČSSR, DDR, USA 1990) folgte. Der Duktus dieser Filme blieb unverändert. Die Sowjetunion sieht sich einem Angriff der zahlenmäßig überlegenen Wehrmacht gegenüber – was historisch nicht korrekt ist – kann die Invasionsversuche jedoch dank des Genies Schukows, der in allen Filmen Oserows von Michail Uljanow (1927-2007) gespielt wird, abwehren. Von daher erscheint es kaum verwunderlich, dass Oserow seine Regielaufbahn mit einem biografischen Film über den Marschall abschloss. Im nur noch in Russland gezeigten Velikij polkovodec Georgij Žukov (Russland 1995) musste der Regisseur aufgrund von Budgetschwierigkeiten bereits in großem Umfang auf Archivmaterial zurückgreifen. Der 134-minütige Film liefert einen Querschnitt durch Schukows Karriere und bietet eine unkritische Würdigung des Marschalls als Stalins Feuerwehrmann, der die Sowjetunion in höchster Not während der Belagerung Leningrads, der Schlacht um Moskau, oder vor Stalingrad vor dem Schlimmsten bewahrte und die Rote Armee schließlich bis nach Berlin führte.

Auch Sergej Bondartschuk widmete sich in mehreren seiner Filme dem Zweiten Weltkrieg, drehte allerdings neben den großen Epen auch einfühlsame Dramen, die selbst von der westeuropäischen Kritik wohlwollend angenommen wurden, wie etwa Ein Menschenschicksal nach dem Roman von Michail Scholochow (1905-1984).27 1975 drehte Bondartschuk Sie kämpften für die Heimat (Oni sražalis‘ za rodinu, UdSSR 1975), ebenfalls auf Basis eines Schlochow-Romans. Im Gegensatz zu Oserow, der Kriegsgesichte aus den Stäben einzelner Generale heraus erzählt, wählte Bondartschuk hierin die Perspektive der einfachen Soldaten. Sein Film erzählt vom Schicksal eines sowjetischen Schützenregiments, das sich im Sommer 1942 am Don einer gewaltigen deutschen Übermacht erwehren muss, um den Rückzug der Roten Armee zu sichern und dabei fast vollständig aufgerieben wird. Auch wenn Sie kämpften für die Heimat einen wesentlich individuelleren und empathischeren Zugang zum Kriegsgeschehen wählt, als die Filme Oserows, so ist der Grundduktus doch der Gleiche, der nationale Verteidigungskampf gegen einen überlegenen Gegner, was neben dem Titel auch das Schlusszitat aus Scholochovs Romanvorlage unterstreichen soll: „Und wenn wir die Liebe zur Heimat in unseren Herzen bewahren und sie solange bewahren, wie diese Herzen schlagen, dann tragen wir den Hass gegen die Feinde immer auf den Spitzen der Bajonette.“ Die Liebe zur Heimat, dieser volkstümliche, primär russische Patriotismus spielte bei Bondartschuk wiederum eine größere Rolle, als bei Oserow, wo der alte Russe längst im modernen, ethnienübergreifenden und überzeugt kommunistischen Sowjetmenschen aufgegangen ist.

Das bei beiden Regisseuren anzutreffende Grundschema wurde auch in anderen sowjetischen Großproduktionen dieser Ära immer wieder angewandt, etwa Heißer Schnee (Gorjačij sneg, R.: Gavril Egiazarov, UdSSR 1972) oder der vierteilige Zyklus Blockade (Blokada, R.: Michail Eršov, UdSSR 1974-1977). Der Große Vaterländische Krieg blieb dabei ein zentrales Thema des sowjetischen Monumentalfilms, hinter den Stoffe aus der älteren Vergangenheit zunehmend zurücktraten. Dies war im Kino anderer Ostblockstaaten allerdings nicht so.

Mit dem Zerfall des Ostblocks und schließlich auch der Sowjetunion selbst, änderte sich die russische Sicht auf Westeuropa keineswegs. Im Jahr 1998 wurde Karen Schachnasarow Leiter der Mosfilm. Er ist ein getreuer Anhänger Putins und unterstützte beispielsweise öffentlich das Eingreifen Russlands auf der Krim.28 Um die russische Politik zu rechtfertigen, scheint es notwendiger denn je, dass Bild eines vom Westen bedrohten Landes in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Und der Monumentalfilm ist hierfür wieder ein beliebtes Mittel geworden. Im Film Pakt der Bestien (Sluga gosudarvw, R.: Oleg Rjaskow, Rus 2007) liefert der Große Nordische Krieg den historischen Hintergrund für eine Abenteuergeschichte in klassischer Mantel-und-Degen-Manier. Einen volkstümlichen Heldencharakter findet der Zuschauer in dem Film nicht mehr. Die beiden Hauptfiguren, ein französischer Edelmann und ein russischer Soldat, sind zwei pikareske Figuren nach dem Beispiel jüngerer Hollywoodfilme. Allenfalls in der Figur des russischen Zaren, Peter des Großen, lässt sich eine derartige Heldenfigur noch antreffen, der allerdings nur eine Nebenrolle spielt. Der Film übergeht bewusst Peters westgewandte Reformen und konzentriert sich in bildgewaltigen Szenen ganz auf die Kriegsgräuel, die die Schweden über Russland brachten. So wird die Plünderung eines Dorfes und die Vergewaltigung einer Frau zur Gelegenheit für den französischen Edelmann, seine Fechtkünste zu beweisen. Den Höhepunkt liefert die Schlacht von Poltawa, die in ihrer Inszenierung ganze Kamerasequenzen aus Hollywoodvorbildern, wie Der Patriot (The Patriot, R.: Roland Emmerich, USA/BRD 2000) und Alamo – Der Traum, das Schicksal, die Legende (The Alamo, R.: John Lee Hancock, USA 2004), kopiert. Im Film wird der Kampf als dramatische, ausgewogene Schlacht zwischen ebenbürtigen Heeren dargestellt, den die Russen durch die Feldherrnkunst des Zaren gewinnen.

Im gleichen Jahr 2002 erschien der Film 1612 – Angriff der Kreuzritter (1612: Chroniki smutnogo vremeni, R.: Vladimir Chotinenko, Rus 2007). Der Film handelt von der „Zeit der Wirren“ zu Beginn des 17. Jahrhunderts, einer Zeit der innenpolitischen Destabilisierung die auf den Tod des Zaren Fjodor folgte. Im Zuge dieser Wirren versuchte das Königreich Polen, seine Grenzen nach Osten auszudehnen. 1612 drangen polnische Armeen bis nach Moskau vor, wo sie von einem Volksaufgebot schließlich zur Kapitulation gezwungen wurden. Ähnlich wie in Pakt der Bestien bildet ein pikareskes Duo die Identifikationsfiguren für die Zuschauer, ein russischer Leibeigener und der Diener eines spanischen Söldners.

In der russischen Geschichtsschreibung der Putin-Ära wurde die Zeit der Wirren geschichtspolitisch stark instrumentalisiert.29 Parallelen wurden zur Ära Gorbatschow-Jelzin gezogen, in der Russland ebenfalls innenpolitisch destabilisiert wurde und zu zerfallen drohte, was schließlich dazu führte, dass EU und NATO sich bis nach Polen und zu den Baltenstaaten ausdehnten. Wie aber am Ende der Zeit der Wirren die Zarendynastie der Romanow Russlands neue Größe begründete und festigte, erschien auch im neuen Jahrtausend ein starker Machthaber: Wladimir Putin. 2005 erhob der Präsident den 4. November – den Tag an dem die Polen 1612 vor den russischen Volksaufgeboten im Kreml kapitulierten – zum Nationalfeiertag. Der zwei Jahre später erschienene und mit staatlichen Fördermitteln finanzierte Film 1612 schließt nahtlos an diese Instrumentalisierung der Geschichte an.

Auch Alexander Newski wurde in diesem Zusammenhang noch einmal bemüht. Alexander der Kreuzritter (Aleksandr. Nevskaya bitva; R.: Igor’ Kalenov, Rus 2009) beschreibt die Ereignisse vor der Schlacht an der Newa, in welcher der Fürst ein schwedisches Heer schlug und wodurch er seinen Beinamen Newski erhielt, kann aber qualitativ nicht im Entferntesten an Eisensteins Werk anknüpfen.30

Unter den jüngeren russischen Regisseuren findet sich auch der Name Bondartschuk wieder. 2005 feierte Fjodor Bondartschuk (Sohn von Sergej Bondartschuk) in Russland einen großen Erfolg mit Die 9. Kompanie (9 рота, Rus/Fin/Ukr 2005), einem pathetischen Film über den Untergang einer sowjetischen Kompanie im Afghanistan-Krieg. Im Zuge des 70. Jahrestages der Niederlage der 6. Deutschen Armee im Zweiten Weltkrieg drehte er Stalingrad (Stalingrad, Rus 2013). Dem Film fehlt die psychologische Tiefe, die viele der Werke seines Vaters auszeichnen. In seiner actionlastigen Art zeigt er eher Ähnlichkeit mit den Filmen Oserows, was durchaus nicht verwunderlich ist, nahm Bondartschuk doch an den Dreharbeiten zu dessen Stalingradfilm von 1989 teil. Der Regisseur behauptete, jedes Buch zu diesem Thema gelesen zu haben und benennt als Vorlagen vor allem Antony Beevors Monografie31 und den berühmten Roman von Vasilij Grossman Leben und Schicksal.32 Doch tatsächlich findet sich vom Wesen des Buches, welches in der UdSSR verboten war, weil es das kommunistische und das faschistische System miteinander verglich, nur sehr wenig. Stattdessen inszeniert Bondartschuk die Schlacht als Kampf der moralisch überlegenen Sowjets, gegen die barbarische Wehrmacht.33

Der Zweite Weltkrieg bleibt jedoch ein wichtiges Thema im russischen Historienfilm. Fast jährlich produziert das Land wenigstens ein größeres Actionepos, so etwa Unzerstörbar – Die Panzerschlacht von Rostow (Tankers, R.: Konstantin Maksimov, RU 2018) Ostfront 1942 (Rhzev; R.: Igor Kopylov, RU 2019), Flucht aus Leningrad (Spasti Leningrad, Alexey Kozloc, RU 2019), The Last Frontier – Schlacht um Moskau (Podolskiye kursanty, R.: Vadim Shmelyov, RU 2020) oder AK 47 – Kalschnikow (Kalashnikov, R.: Konstantin Buslov, RU 2020), um eine alles anderes als vollständige Liste der letzten Jahre aufzuzeigen. Die kulturelle Identifikation über die eigene Geschichte ist in Russland stark ausgeprägt und das Medium Film wird hierfür ausgiebig genutzt und auch weiterhin staatlich kontrolliert.

 

 

Wie geht es weiter mit Russland und dem „Westen?

Der Kampf um die Ukraine ist nicht zuletzt ein Kampf um die historisch-politische Deutungshoheit, den Wladimir Putin bereits 2021 mit der Publikation eines Aufsatzes eröffnet hatte, indem er dem Nachbarland jede historische Existenzberechtigung absprach.34 So hätte die die Ukraine 1919 nur mit Hilfe der Sowjets eine Eigenstaatlichkeit erreichen können, was – wie dargelegt – nicht den Tatsachsen entspricht, war es doch die Rote Armee, die ukrainische Versuche einer eigenen Staatsbildung beendete. Putin bedient offensichtlich und in sehr übersteigerter Form, historische Paranoia einer westlichen Bedrohung, der Russland aktiv entgegen wirken müsse, weswegen auch wiederholt von einer „Entnazifizierung“ der Ukraine die Rede ist, was angesichts der jüdischen Wurzeln von Wlodymyr Selenskyj geradezu grotesk anmutet. Diese Propaganda entsteht jedoch nicht im luftleeren Raum, sondern bedient historisch und kulturell tief verwurzelte Narrative der Beziehungen Russlands zu seinen Nachbarländern und zum Westen. Zudem werden diese Paranoia immer wieder mit Argumenten verwoben, die durchaus stichhaltig sind.35

Dabei ist es nicht nur die Osterweiterung von EU und NATO, sondern vor allem die aggressive Ausprägung russischer Außenpolitik unter Putin selbst, die diese Bedrohungsszenarien anheizen. Russische Drohungen gegenüber Finnland und Schweden im Falle eines NATO-Beitritts unterstreichen ein komplexes Beziehungsgeflecht, in welchem russische Aggression kleinere Nachbarländer in westliche Bündnisse treibt, was wiederum russische Paranoia stärkt. Auch der GUS-Austritt der Ukraine 2018 war eine Folge der russischen Aggression gegenüber der Ukraine.36

Daraus leitet sich die Frage ab, ob sich die Grundzüge russischer Außenpolitik ohne oder nach Putin wesentlich ändern würden? Diese Einschätzung ist wiederum bedeutend für die Gestaltung der Außenpolitik der NATO-Staaten, denn auch wenn weder der völkerrechtswidrige Charakter des Angriffs auf die Ukraine, noch das Selbstbestimmungsrecht der direkten russischen Nachbarstaaten (und damit ihre Möglichkeiten für einen EU- und/oder NATO-Betritt) an dieser Stelle in Frage gestellt werden sollen, stellt sich die Frage nach dem Umgang mit Russland aus einer neuen Perspektive, wenn man der russischen Sichtweite etwas mehr Raum gibt.

Eine Zeit nach Putin wird kommen, aber der Westen sollte nicht der falschen Hoffnung unterliegen, dass sich dadurch die grundsätzliche Haltung Russlands gegenüber seinen Nachbarstaaten und westlichen Bündnissen ändern wird. Mehrere Generationen von Russen sind mit den oben geschilderten Bedrohungsszenarien aufgewachsen und auch wenn eine neue Regierung ihre Außenpolitik nicht auf dieselbe aggressive Art und Weise betreiben sollte, wie aktuell Putin, gibt es wenig Zweifel, dass diese dem Westen weiterhin mit großer Skepsis, wenn nicht gar Feindseligkeit begegnen wird. Forderungen nach einer gezielten Schwächung Russlands,37 erscheinen in diesem Zusammenhang daher wenig hilfreich, da sie zum einen schlichtweg nicht realisierbar sind und zum anderen genau diese Paranoia von der westlichen Bedrohung bedienen würden. Sicherlich dürfen russische Paranoia nicht handlungsleitend für die Außenpolitik westlicher Staaten sein, aber es wäre auch verkehrt, sie vollständig zu ignorieren. Diese schwierigen Spagat zu managen stellt eine große Herausforderung für die Zukunft dar. Die vorhandene russische Skepsis gegenüber dem Westen abzubauen, benötigt nicht einfach nur einen Systemwechsel, sondern Zeit.

Anmerkungen

1 Katharina Schuler/Tilman Steffen: Was sagen die Russlandversteher?, auf: Ukraine-Krise: Was sagen die Russlandversteher? | ZEIT ONLINE [aufgerufen am 13.04.2022].

2 Vgl.: Gerhard Gnauck: Der Krieg und die Flamme der Freiheit, auf: US-Präsident Biden in Polen zu Ukraine-Krieg: Wladimir Putin ist ein Schlächter (faz.net) [aufgerufen am 02.04.2022].

3 Vgl.: Klaus Zernack: Handbuch der Geschichte Russlands, Band II 1613–1856 – Vom Randstaat zur Hegemonialmacht, Stuttgart 1986.

4 Vgl.: Alexander Querengässer: Der Traum von der Großmacht – Außenpolitik unter August dem Starken, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 153 (2017), S. 301-329.

5 Vgl.: Hans Bagger: The Role of the Baltic in Russian foreign policy, 1721-1773, in: Hugh Ragsdale (Hrsg.): Imperial Russian Foreign Policy, Cambridge 1993, S. 36-73.

6 Brian L. Davies: Empire and Military Revolution in Eastern Europe: Russia´s Turkish Wars in the Eighteens Century, New York 2011.

7 Klaus Zernack sprach in diesem Zusammenhang von einer „negativen Polenpolitik“ Russlands, vgl.: Klaus Zernack: Polen und Rußland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte, 1994, S. 238-247.

8 Michael G. Müller: Die Teilungen Polens 1772, 1793, 1795, München 1984.

9 Brian Davies: The Russo-Turkish War, 1768–1774. Catherine II and the Ottoman Empire, London u. a. 2016, S. 234-240.

10 Finnland war bereits im Großen Nordischen Krieg von Russland besetzt worden, musste aber aufgrund internationalen Drucks an Schweden zurückgegeben werden. Im Krieg der Hüte (1741-43) wurde Finnland erneut besetzt und bis zum Fluss Kymijoki annektiert.

11 Hierzu vgl.: Robert Gerwarth: The Vanquished. Why the First World War failed to End, 1917-1923, London 2016.

12 Zur Auseinandersetzung mit Polen vor allem: Stephan Lehnstaedt: Der vergessene Krieg. Der Polnisch-Sowjetische Krieg 1919-1921 und die Entstehung des modernen Europa, München 2019.

13 Vgl.: Anna Kaminsky / Dietmar Müller / Stefan Troebst (Hrsg.): Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in den Erinnerungskulturen der Europäer (= Moderne europäische Geschichte 1, Göttingen 2011; Claudia Weber: Der Pakt. Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz. C.H. Beck, München 2019.

14 William R. Trotter: A Frozen Hell, Chapell Hill 1991.

15 So vor allem Jeremy Black: The Cold War. A Military History, London – New York 2015.

16 Henrik Bispinck u.a. (Hrsg.): Aufstände im Ostblock. Zur Krisengeschichte des realen Sozialismus, Berlin 2004.

17 Zit.: Zeitschrift OSTEUROPA | Dokumentation (zeitschrift-osteuropa.de) [aufgerufen am 11.04.2022].

18 Der Zwei-Plus-Vier-Vertrag ist auf dem Portal des Auswärtigen Amtes online einsehbar: www.auswaertiges-amt.de/DE/AAmt/Geschichte/ZweiPlusVier/ZweiPlusVier_node.html), vgl. auch: Andreas Hilger (Hrsg.): Diplomatie für die deutsche Einheit. Dokumente des Auswärtigen Amtes zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen 1989/90, München 2011; Jeronim Perovic: Die „Wende“ als „Verrat“. Russland, die Nato-Osterweiterung und das Scheitern der europäischen Sicherheitsordnung, in: Peter Collmer/Ekaterina Emeliantseva Koller/Jeronim Perovic (Hrsg.): Zerfall und Neuordnung. Die „Wende“ in Osteuropa von 1989/91, Wien-Köln-weimar 2019, S. 75-102.

19 Martin Aust: Die Schatten des Imperiums. Russland seit 1991, München 2019, S. 47-62.

20 Zit.: Zeitschrift OSTEUROPA | Dokumentation (zeitschrift-osteuropa.de) [aufgerufen am 11.04.2022].

21 Vgl.: Alexander Querengässer: „Das weite Land und die Reichtümer der Rus lockten die Eroberer an“ – Das bedrohte Russland im Film, in: Alexander Friedmann/Frank Jacob (Hrsg.): Russische und Sowjetische Geschichte im Film. Von bolschewistischen Revolutionären, antifaschistischen Widerstandskämpfern, jüdischen Emigranten und „Kalten Kriegern“, New York 2016, S. 15-32.

22 Simon Sebag Montefiore: Joseph Stalin. Am Hof des roten Zaren, Frankfurt a. M.: Fischer 2006, S. 189-191.

23Frithjof Benjamnin Schenk: Alexander Newski. Ein russischer Heiliger zwischen Resakralisierung und Profanierung, in: Stefan Samerski (Hg.): Die Renaissance der Nationalpatrone. Erinnerungen in Ostmitteleuropa im 20./21. Jahrhundert, Köln – Weimar – Wien: Böhlau 2007, S. 41–61, hier S. 42;

24 Zit.: Sergej Eisenstein: Patriotismus heißt mein Thema, in: Sergej Eisenstein: Über mich und meine Filme (ed. By Lilli Kaufmann), Henschelverlag: Berlin (Ost) 1975, S. 155–159, hier 157.

25Detlev Kannapin: „Geh hin und sieh dir das an“. Sowjetische Spielfilme im Kontext von Revolution und Krieg – Drei Beispiele, in: Michael Strübel (Hg.): Film und Krieg: Die Inszenierung von Politik zwischen Apologetik und Apokalypse, Opladen: Leske + Budrich 2002, S. 75–92, hier 77.

26 Das Original erschien in sechs Bänden zwischen 1948 und 1954. Inzwischen existieren mehrere deutsche Fassungen, vgl.: Winston Churchill: Der Zweite Weltkrieg. Mit einem Epilog über die Nachkriegsjahre. Bern – München – Wien: Scherz 1985.

27 Michail Scholochow: Ein Menschenschicksal und andere Erzählungen. Berlin: Verlag Kultur und Aufbau 1958.

28 Ulrich Schmid: Technologien der Seele. Vom verfestigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 170.

29 Sandra Brouwer: from Empire to Smuta and back. The Mythopoetics of Cyclical History in Russian Film and TV-Documentaries, in: Dies. (Hrsg.): Contested Interpretations of the Past in Polish, Russian and Ukranian Film, Leiden – Boston 2011, S. 123-142.

30 Newski ist auch über den Film hinaus von großer Bedeutung für die russische Geschichtspolitik, vgl.: Frithjof Benjamnin Schenk: Alexander Newski. Ein russischer Heiliger zwischen Resakralisierung und Profanierung, in: Stefan Samerski (Hg.): Die Renaissance der Nationalpatrone. Erinnerungen in Ostmitteleuropa im 20./21. Jahrhundert, Köln – Weimar – Wien: Böhlau 2007, S. 41–61, hier S. 51–61.

31 Antony Beevor: Stalingrad. München: Pantheon Verlag 2010.

32 Wassili Grossmann: Leben und Schicksal. München – Hamburg: Knaus 1984.

33 Ulrich Schmid: Technologien der Seele. Vom verfestigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 172–173.

34 Vladimir Putin: Über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer. Dokumentation, in: Osteuropa 7 (2021), S. 51–66. Zum Vergleich der ausführliche Kommentar: Andreas Kappeler: Revisionismus und Drohungen. Vladimir Putins Text zur Einheit von Russen und Ukrainern, in: Osteuropa 7 (2021), S. 67–76.

35 Vgl. aus Putins Rede vom 21.02.2022: „Russland hat all seine Verpflichtungen erfüllt, nicht zuletzt hat es seine Truppen aus Deutschland und den Staaten Mittel- und Osteuropas zurückgezogen. Damit hat es einen enormen Beitrag zur Überwindung des Erbes des Kalten Kriegs geleistet.“

36 Poroschenko leitet GUS-Austritt der Ukraine ein, auf: Poroschenko leitet GUS-Austritt der Ukraine ein | kurier.at [aufgerufen am 03.04.2022].

37 Als Beispiel das Interview mit Prof. Jan Claas Behrends vom Leibnitz-Zentrum für zeithistorische Forschung: „Mittelfristig sollte unser Ziel sein, Putins Russland wirtschaftlich so stark zu schwächen, dass es keine Bedrohung mehr für Europa darstellt. Bis das gelingt, muss sich der Westen so aufstellen, dass er in der Lage ist, Russland wirksam abzuschrecken.“ zit.: Gundula Gahlen: Interview mit Prof. Dr. Jan Claas Behrends. III. Teil: Krieg in der Ukraine – Die Bedeutung von Gewalt in der postsowjetischen Politik Russlands, in: Themenschwerpunkt „Krieg in der Ukraine“, hg. von Jannes Bergmann/Paul Fröhlich/Gundula Gahlen, Portal Militärgeschichte, 25. März 2022, URL: portal-militaergeschichte.de/gahlen_interview_behrends  [aufgerufen am 10.04.2022].