Putin – die russische Geschichte und die Statik des Kontinents

Sicherheitspolitische Konstanten über Jahrhunderte

von Dr. Peter März1

Die Koinzidenz von Individualität und gesellschaftlicher Verortung ist mit gutem Grund ein Dauerbrenner aller historischen Betrachtung. Jeder historische Akteur, mag er auch noch so erratisch daherkommen, ist unabdingbar auf seinen jeweiligen Kontext bezogen, trägt Obsessionen mit sich herum, die er sich in Auseinandersetzungen mit seiner Umwelt vielfach über Jahrzehnte angeeignet hat; profitiert im positiven Fall freilich auch von dem, was ihm intellektuell und emotional vermittelt wurde. Wladimir Putin, der prügelnde, vielleicht noch häufiger verprügelte Leningrader Straßenjunge, die mittlere KGB-Charge, die im sächsischen Dresden den Untergang einer Satrapie des sowjetischen Imperiums reichlich ohnmächtig miterleben musste, macht von solchen Mustern keine Ausnahme.

  1. Eine Kontinuität von den Zaren über Stalin zu Putin

Wer den am 24. Februar 2022 buchstäblich ins Werk gesetzten militärischen Angriff auf die Ukraine als Gesamtstaat mit den heutigen beschränkten Möglichkeiten von Wahrnehmung und Erkenntnis „verstehen“ will, der kommt gerade im Blick auf die Person des russischen Staatspräsidenten nicht umhin, über die Zeitgeschichte und die sowjetische Vergangenheit weit hinauszugehen. Es ist ein Manko der zeitgeschichtlichen Perspektive, dass sie die russische Geschichte, die russischen Erfahrungen, aber auch die russischen Apologien zumeist nicht in den Blick nimmt, wenn es darum geht, den Standort des heutigen postsowjetischen Russlands mit ausreichender Tiefenschärfe zu erfassen. Gerade Wladimir Putin aber ist ein Akteur, der ganz offensichtlich heute ohne solch weite Bögen nicht zu fassen ist.

Während des Zweiten Weltkrieges unterhielten das kaiserliche Japan und die Sowjetunion Josef Stalins ein Neutralitätsabkommen gegen die Intentionen der beiden Antipoden NS-Deutschland und USA: Die Führung des Dritten Reiches vermisste ihren Achsenpartner Japan nach dem Überfall auf die Sowjetunion vom 22. Juni 1941 an ihrer Seite, um das sowjetische Potenzial zwischen der europäischen Front und Ostasien gewissermaßen zersplittern zu können. Die USA, die mit ihren Lieferungen überhaupt erst die Motorisierung der Roten Armee möglich machten und zugleich das deutsche Industriepotenzial bombardierten, 1944 vor allem die Treibstoffversorgung des Dritten Reiches marginalisierten, hätten naturgemäß auch gerne gegen Japan den Kreml an ihrer Seite gehabt. Stalin aber fiel unter Bruch des Neutralitätsabkommens erst dann über Japan her, wie er es schließlich auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 zugesagt hatte, als der Krieg in Europa beendet war und er sich nun ganz darauf konzentrieren konnte, sein Imperium auch in Ostasien präsenter zu machen. Das gelang freilich nur ansatzweise: Ähnlich wie er ins Zentrum des europäischen Kontinents, bis an die Elbe, vorgedrungen war und nunmehr das westliche Vorfeld der Sowjetunion machtpolitisch und ideologisch der von ihm beherrschten Sphäre zuschlagen konnte, hätte er auch gerne auf dem asiatischen Festland weiter expandiert (was im Ergebnis das Entstehen von Maos Volksrepublik China wenige Jahre später verhinderte), und sogar noch die nördliche japanische Hauptinsel Hokkaido zu einer sowjetischen Besatzungszone gemacht, sozusagen als Parallele zur SBZ. Dies ließen die USA nicht zu, und insofern lässt sich sagen, dass der Kalte Krieg in Ostasien schon früher begann als auf dem europäischen Kontinent.

Eines aber war Stalin gelungen: Nach dem Zusammenbruch der japanischen Streitkräfte in der Mandschurei und der Kapitulation Japans erhob er im Kreml sein Glas auf die Revanche, die der Sowjetunion gewissermaßen als Sachwalter Russlands für dessen Niederlage im Krieg gegen Japan 1904/1905 gelungen war. Und obwohl oder gerade als Georgier positionierte er sich als Anwalt der russischen Ethnie, in- wie außerhalb der Sowjetunion. Man darf sicher sein, dass es solche historische Muster sind, die heute Wladimir Putin in seinem Kampf gegen den „Westen“, gegen die Globalisierung wie in Wiederanknüpfung an das alte religiös-ideologische Muster vom „Sammeln der russischen Erde“ und von Moskau als dem „dritten Rom“ inspirieren.

Putin hat bekanntlich Lenin kritisiert, weil dieser als Ideologe und Revolutionär die Erhaltung der russischen Identität und ihres geografischen Rahmens hintangestellt habe – ganz im Gegensatz zum Georgier Stalin. So in seiner Rede vom 21.2. kurz vor der Invasion in die Ukraine.Unter Lenin sei es zur Formierung jener sowjetischen Republiken, darunter die Ukraine an erster Stelle, gekommen, die zwar unter kommunistischen Vorzeichen zu einem tatsächlichen politischen Eigenleben nicht allzu viel Spielraum haben konnten. Aber allein ihre pure Existenz sei eine Quelle permanenter Infragestellung der Einheit des Imperiums gewesen und habe sich nach dem Zeitraum von gut zwei Generationen aus russischer Perspektive furchtbar gerächt, schlage man den Bogen von den frühen zwanziger zu den frühen neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts.

Zwar ist es im ersten Zusehen überraschend, wie bei dem ursprünglichen KGB-Mann Wladimir Putin ideologisch-sowjetische Versatzstücke gegenüber russisch-imperialen kaum mehr eine erkennbare Rolle spielen, aber bei näherem Zusehen findet man vielleicht doch eine zureichende Erklärung: Catherine Belton schreibt in ihrem voluminösen, vor wenigen Monaten auf Deutsch erschienenen Buch „Putins Netz“, dass man sich gerade im KGB-Apparat, mehr noch als unter den verschiedenen anderen sowjetischen Eliten, von leninistischem, ideologischem Firnis löste und teilweise neue Verbündete suchte, die so gar nicht in ideologische Raster passten, nämlich in Kreisen der Nachkommen von aristokratischen und bürgerlichen russischen Exilanten aus der Revolutionszeit von 1917 bis 1920. Das ökonomische Desaster des Marxismus-Leninismus war damals – in den achtziger Jahren – ebenso offenkundig wie seine Unfähigkeit, den Menschen im sowjetischen Machtbereich überzeugende Antworten auf ihre Sinnfragen zu geben.

Was blieb, war der Rekurs auf ein großes Reich, das bereits bei aller ökonomischen Rückständigkeit im Zeitalter der ersten industriellen Revolution vor dem Ersten Weltkrieg den Rang als Weltmacht mit spirituell-missionarischer Grundlegung für sich beansprucht hatte: Schon damals sah sich das zarische Russland als Vorkämpfer von so etwas wie kultureller Reinheit gegen die Schwächen und Verderbtheiten der modernen westlichen Gesellschaften, beseelt von einer mystischen Orthodoxie und gestützt auf den ethnisch-kulturellen Anspruch, eine panslawistische Führungsaufgabe zu erfüllen, mit Zielrichtung gegen das Osmanische Reich ebenso wie gegen Österreich-Ungarn.

Nicht wenige Zeitgenossen behaupten heute, verglichen mit dem territorialen Expansionismus des russischen Zarentums nach Westen, Süden und Osten, sei die späte Sowjetunion der Breshnew-Ära, Referenzpunkt der westlichen, spezifisch der westdeutschen Entspannungspolitik, geradezu saturiert und Status quo-interessiert gewesen. Hier schwingt freilich auch ein Stück Apologie mit, darauf ist noch zurückzukommen.

 

  1. Russische Expansionen und Ambitionen ins Herz Europas

Zunächst zur expansiven Grundrichtung vom Großfürstentum Moskau zum russischen Imperium über ca. drei Jahrhunderte, die offenkundig dasprimäre Orientierungsmuster der heutigen Putinschen Politik ist. Denn: Nimmt man Putins Aussagen zur Nichtakzeptanz einer eigenen nationalen und staatlichen Identität der Ukraine und zum russischen Anspruch auf Dominanz in Ostmitteleuropa, bis zur Oder oder gar bis zur Elbe (bis zum Letzten ist das nicht ausgesprochen), dann gründen diese Positionen in der territorialen Expansion wie in den hegemonialen Ambitionen des 1917 untergegangenen zaristischen Imperiums: In Europa zeichnete es sich durch dreierlei Stoßrichtungen aus: Nach Norden Richtung Baltikum, Finnland und die Dominanz auf der Ostsee bis hin zum Gewinn des eisfreien Hafens Königsberg, der als Perspektive schon während des Siebenjährigen Krieges von 1756 bis 1763 angedacht war und unter Stalin in der Endphase des Zweiten Weltkrieges realisiert wurde. Diese Stoßrichtung marginalisierte bereits im Nordischen Krieg zu Beginn des 18. Jahrhunderts die schwedische Großmachtstellung in der Ostseeregion und ersetzte sie durch die russische Prädominaz; Finnland wurde Schweden dann in der Napoleonischen Ära abgenötigt. Der jetzt beantragte Beitritt Finnlands zur NATO hat insofern eine mehr als zweihundertjährige Vorgeschichte, die eben nicht nur mit dem sowjetischen Überfall auf Finnland durch die Rote Armee im Spätherbst 1939 begann.

Die zweite Stoßrichtung geht mitten ins Zentrum Mitteleuropas, partiell reicht sie sogar nach Westeuropa: Im Laufe des 17. Jahrhunderts bereits profilierte sich Russland in der Konkurrenz mit Polen-Litauen eindeutig als der stärkere Akteur, und es übernahm immer mehr – ukrainische – Gebiete aus dem polnisch-litauischen Staatsverbund, intervenierte in der polnischen Wahlmonarchie, war an den insgesamt fünf (!) polnischen Teilungen maßgeblich beteiligt, 1772, 1793, 1795, auf dem Wiener Kongress 1814/15 und zuletzt 1939 in der Allianz der totalitären Mächte mit dem nationalsozialistischen Deutschland. Insofern hat der Einbezug des kommunistischen Volkspolens in sowjetische Hegemonialsphäre und schließlich Warschauer Pakt bis zum Ende des Kalten Krieges eine lange Vorgeschichte, die sich mit polnischen Befürchtungen wie mit russischen Ambitionen verbindet. Das zaristische Imperium warf mit brutaler Gewalt die polnischen Aufstände von 1830 und 1863 nieder, mit mehr oder weniger stillschweigender Billigung, wenn nicht Assistenz Preußens; die stalinistische Sowjetunion ermordete im Frühjahr 1940 über 20.000 Angehörige des polnischen Offizierskorps wie der polnischen administrativen Führungsschichten, davon rund ein Viertel im emblematisch gewordenen Katyn. Sie sah billigend der Niederwerfung des Warschauer Aufstandes vom 1. August 1944 durch deutsche Wehrmacht, SS und Polizeiverbände zu, und sie unterdrückte nach Ende des Zweiten Weltkrieges jegliches Bemühen, in Warschau die Kontinuität zur 1939 zerschlagenen polnischen Republik wiederherzustellen. Wie anders kann die Putinsche Forderung von Ende 2021, die NATO möge sich materiell aus Polen wieder zurückziehen, anders interpretiert werden als das Bemühen, zu den Zeiten russisch-sowjetischer Gleichschaltung und Unterdrückung Polens zurückzukehren?

Im Siebenjährigen Krieg stand Russland die ersten Jahre im Bündnis mit Österreich und Frankreich gegen Preußen; Friedrichs des Großen Niederlage bei Kunersdorf im August 1759 gegen russische Truppen schien den Untergang Preußens heraufzubeschwören. Die Hohenzollern zogen daraus die politischen Lehren. Ein Jahr nach Ende des Siebenjährigen Krieges, 1764, schloss Friedrich II. ein Bündnis mit Katharina der Großen. Sein Bruder Heinrich war Katharinas wesentlicher Verhandlungspartner beim Deal zur ersten polnischen Teilung von 1772 – etwas überspitzt sozusagen die Urahnen jenes Deals, den Ribbentrop und Molotow im August 1939 im Kreml unterzeichneten. Mehr noch: In den Friedensvertrag von Teschen 1779, der den Bayerischen Erbfolgekrieg zwischen Preußen und Österreich beendete, ließ sich das Russland Katharinas der Großen ein Mitspracherecht in den Angelegenheiten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation hineinschreiben, in Parallele zu dem, was Frankreich bezüglich Deutschlands im Westfälischen Frieden 1648 erreicht hatte.

Ob unter russischen oder unter sowjetischen Vorzeichen, der Petersburger bzw. Moskauer Anspruch, eine Art Veto in den deutschen Angelegenheiten zu haben, blieb erhalten im Grunde bis zu Gazprom und bis zu Northstream II: Die Romanows betrieben bis ins späte 19. Jahrhundert gezielte Heiratspolitik mit deutschen Dynastien. Sie sorgten in der Heiligen Allianz nach Ende der napoleonischen Ära für die Liga der konservativen Ostmächte mit Preußen und Österreich, sie taten alles, was ihnen möglich war, um die reaktionären Kräfte in Mitteleuropa gegen die Revolution von 1848/49 zu stärken, den Habsburgern leisteten sie die entscheidende militärische Assistenz bei der Niederwerfung der ungarischen Selbstständigkeitsbemühungen 1848/49 – gewissermaßen im Vorgriff auf den sowjetischen Panzerkommunismus, der 1956 die ungarische Revolution niederwalzte. Das zarische Russland begann sich dann von Preußen bzw. Deutschland nach der Reichsgründung von 1871 zu entfremden, denn nun hatte es nicht mehr mit dem relativ schwachen, Petersburg eng verbundenen Preußen zu tun, sondern mit einer neuen nationalstaatlichen Großmacht, die sich ihre Linie nicht mehr aus Petersburg vorschreiben lassen mochte.

Insofern liegen im Übrigen auch alle AfD-Ideologen gründlich falsch, die von einer deutsch-russischen Intimfreundschaft bis zum Ersten Weltkrieg schwärmen. Tatsächlich ist das Gegenteil richtig: Russland akzeptierte das Deutsche Kaiserreich nur und insofern, als es sich als eine subalterne Größe verstand, die die russische Politik gegen Österreich auf dem Balkan, gegen England in Asien und an den Meerengen unterstützen und ihr ggf. militärisch zur Seite stehen sollte; genau das aber kam für Bismarck nicht in Frage, und das machte seine Außen- und Sicherheitspolitik am Ende so komplex und schwierig. Und am Ende strebte Bismarck das – westliche – Bündnis mit Großbritannien an, um auf ein Gegengewicht zu Russland setzen zu können, also das exakte Gegenteil dessen, was AfD-Geschichtspolitik heute glaubt kolportieren zu sollen – und im Grunde, wenn auch damals unerreicht, die Zielvorstellung eines eher westlich positionierten Deutschlands.

Das leninistische Sowjetrussland intervenierte de facto unablässig 1919 bis 1923 in die frühe Weimarer Republik, verstand sich als Bürgerkriegspartei auf deutschem Boden und hielt die junge KPD zu einer endlosen Kette von Aufständen an. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang der Sowjetunion nicht, Gesamtdeutschland in ihre Hegemonialzone einzubeziehen. Ob diese Intention hinter den diversen Neutralisierungsangeboten der frühen 1950er Jahre stand – am prominentesten darunter die sogenannte Stalin-Note vom 10. März 1952 –, sei hier dahingestellt. Ersatzweise, so kann man es formulieren, gelang der Sowjetunion mit der Entwicklung ihrer Besatzungszone auf deutschem Boden zum Teilstaat DDR der Aufbau einer Satrapie auf deutschem Boden, die dann nicht irgendwie unter sowjetischer Vormundschaft stand, sondern vielmehr unmittelbarer Bestandteil des Imperiums, gewissermaßen sein Schlussstein auf europäischem Boden, war. Plakativ formuliert: Nicht das ganze Deutschland halb, wohl aber das halbe Deutschland ganz. Und auch wenn die DDR ein Spezifikum war, in die Kontinuität russisch-sowjetischer Ambitionen mit Zielrichtung Gesamtdeutschland fügt sie sich eben doch auch unbestreitbar ein.

Ob Putin selbst im Blick auf die heute zur Bundesrepublik Deutschland gehörende Region zwischen Elbe und Oder Verlust empfindet und auch hier revidieren möchte, können wir wohl nicht zuverlässig sagen. Eindeutig ist aber jedenfalls, dass er perspektivisch, sozusagen als Abschluss seines Wunschzettels, den gesamten europäischen Kontinent als Teil einer russischen Hegemonialsphäre sieht. Auch dies wäre nichts vollständig Neues. Hier ergänzend: Die dritte traditionelle russische Zielrichtung nach Europa betraf den Balkan und die (türkischen) Meerengen. Auch dort, siehe beispielsweise im Fall Serbiens, sucht Putin an die Politik der Romanows anzuknüpfen.

Henry Kissinger, der Altmeister von Gleichgewichts- und Mächtebeobachtungen, hat in seiner wissenschaftlichen Erstlingsarbeit über die Zeit des Wiener Kongresses 1814/15 und die sich anschließende Kongressdiplomatie sehr klar herausgearbeitet, wie sehr es damals den Staatsmännern primär in Wien und in London darum ging, sicherzustellen, dass nun nicht an die Stelle der französischen Hegemonie in Kontinentaleuropa unter Napoleon eine russische unter Zar Alexander I. trat. Alexander war es darum zu tun gewesen, nach dem Napoleonischen Feldzug gegen Russland von 1812 im Gegenschlag bis zum Ausgangspunkt der Aggression, bis nach Paris, vorzudringen, gegen den Rat seiner Generäle, die darin eine Überforderung der eigenen militärischen Ressourcen sahen. Stalin knüpfte im „Großen Vaterländischen Krieg“ in mancherlei Hinsicht an die Geschehnisse von 1812 bis 1814 an. Was für Alexander I. Paris gewesen war, war für ihn nun Berlin, nun die faschistische Höhle, die ausgeräumt werden solle, was der Roten Armee schließlich in den letzten April- und den ersten Maitagen 1945 gelang. Es spricht eigentlich alles dafür, dass Putin diese Höhepunkte russischer bzw. sowjetischer Expansion weit ins westliche Europa hinein auf dem eigenen Radarschirm hat. Vergessen hat er sie gewiss nicht.

  1. Der Sonderfall Breshnew: Status quo oder hegemonial-expansiv?

Hinter der Erkenntnis dieses Zusammenhanges verbirgt sich allerdings auch analytisch und politisch eine Gefahr: Gerade die Epigonen der alten westdeutschen Entspannungspolitik, in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts konzipiert, weitestgehend dann in der ersten Hälfte der siebziger Jahre exekutiert, drehen heute den Spieß gerne um und konfrontieren einen russisch-expansionistischen Putin mit einem sowjetischen Führer Leonid Iljitsch Breshnew, der in der Phase seiner Führungsfunktion, von 1964 bis 1982, für das vorhandene Imperium saturiert, friedfertig, berechenbar und Status quo-orientiert gewesen sei, sozusagen der ideale Partner für Willy Brandt und Egon Bahr.

Was ist von diesem schönen, geschichtsnostalgischen Bild zu halten? Ein bisschen verhält es sich hier tatsächlich so wie nach dem Muster jener deutschnationalen Nostalgiker der zwanziger Jahre, die Kaiserreich und Bismarck wesentlich als eine gute alte Zeit verklärten, an die einfach wieder möglichst anzuknüpfen sei. Tatsächlich war die Ära Breshnew keine Ära sowjetischer Status quo-Politik. Global gesehen wurde dem Westen gegenüber eine Art Anakonda-Strategie verfolgt. Wenn schon der große Konflikt im Zentrum Europas vermieden wurde, dann sollte doch über außereuropäischen Geländegewinn möglichst eine Isolierung und im Idealfall die Strangulierung des Westens erreicht werden. Dem Kreml nahestehende Kräfte sollten das Erbe Portugals in Afrika nach der dortigen Nelkenrevolution von 1974 antreten, im Nahen Osten baute die Sowjetunion auf der Linie einer proarabischen, propalästinensischen und antiisraelischen Politik immer mehr ihre Positionen aus; sowohl beim Sechs-Tage-Krieg von 1967 als auch beim Yom-Kippur-Krieg 1973 drohte sie mit militärischer Intervention, als die arabischen Gegner Israels jeweils in eine katastrophale militärische Lage geraten waren. Bei beiden Konflikten stellten sich die jeweils kritischsten strategischen Lagen im Kalten Krieg seit der Kuba-Krise von 1962 ein. Putins teilweise brutale Interventionen in Libyen und vor allem in Syrien knüpfen mehr oder weniger an diese Konstellationen der sechziger und siebziger Jahre an. Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan Ende 1979 war, wie immer auch begründet, im Ergebnis eine offensive Kriegshandlung jenseits der Grenzen des eigenen Imperiums. Er brachte die Rote Armee in die Nähe des Persischen Golfes und damit in die Nähe einer lebenswichtigen Verbindung für das Gedeihen der westlichen Weltwirtschaft. Unter Admiral Gorshkov wuchs die sowjetische Flotte förmlich exponentiell und drohte, im Konfliktfall die atlantischen Verbindungslinien von den USA nach Europa zu unterbrechen. Nicht wenige der damals fertiggestellten Einheiten stehen heute Putin, nach mancherlei technischen Auffrischungen, weiterhin zur Verfügung. Die offensivste Maßnahme der Breshnew-Ära war schließlich die Installierung des SS-20-Mittelstreckenraketensystems. Sie drohte Westeuropa strategisch von den USA abzukoppeln, im Konfliktfall erpressbar zu machen und in eine Situation von Unterlegenheit und Fügsamkeit zu versetzen. Bis in die Anfänge der Ära Gorbatschow ab 1985 war die sowjetische Führung zu keinem Zeitpunkt gesonnen, auf die Ambition einer strukturellen Überlegenheit in Europa, die sich mit dem SS-20-System verband, zu verzichten. Erst der von Michail Gorbatschow und Ronald Reagan 1987 unterzeichnete INF-Vertrag beendete in Europa die Phase sowjetischer Vorrüstung und notgedrungener westlicher Nachrüstung – und gegen letztere hatten die Propaganda- und Geheimdienstapparate in Moskau und Ost-Berlin bekanntlich alles aufgeboten, was irgendwie zur Verfügung stand, um ihrer Vormachtintention namentlich gegenüber der Bundesrepublik zum Erfolg zu verhelfen.

Insofern ist es wichtig, von Putin, seinen Geschichtsbildern, seinen heutigen Ambitionen, den Bogen nicht nur zum Aufstieg des Zarenreiches im 18. und 19. Jahrhundert zu schlagen, sondern durchaus durch in jene zeitgeschichtlichen sowjetischen Phasen, in denen Putin zugleich persönlich sozialisiert wurde. Seine Forderungen an die NATO von Ende 2021, also kurz vor Ingangsetzung des Überfalls auf die Ukraine, ihre Positionen in Ostmitteleuropa zu räumen und zugleich Europa durch eine möglichst weitgehende Verdrängung der USA (und Kanadas) zu isolieren und potenziell zu strangulieren, entsprechen den quasi „besten“ Traditionen sowjetischer Außenpolitik in der Zeit des Kalten Krieges. Gewiss hatte der Kreml in der Helsinki-Akte von 1975 notgedrungen den Status der USA (und Kanadas) als quasi-europäische Mächte zugestanden, anders wäre das sowjetische Ziel einer solchen Akte mit der faktischen Festschreibung der sowjetischen Nachkriegsbeute ja auch nicht zu erreichen gewesen. Tatsächlich aber scheinen die USA aus sowjetischer wie aus russischer Perspektive als der große Widerpart und Störenfried, der sich auf einem Terrain tummelt, wo er nichts zu suchen hat, der eigenen Vormacht im Weg steht und möglichst zum Verschwinden gebracht werden muss. Hier sind sehr alte ideologische und geostrategische Muster wie historische Erfahrungen berührt: Nach dem Ersten Weltkrieg hatte die Interventionsmacht USA den europäischen Kontinent so schnell wieder verlassen, wie es technisch nur irgend ging. Während des Zweiten Weltkrieges hatte Stalin aus den Kommunikationen mit Präsident Roosevelt den Eindruck gewonnen, etwas Ähnliches lasse sich wieder erreichen; dazu kam das marxistisch-leninistische Ideologem von den prinzipiellen Konflikten zwischen den kapitalistischen Mächten, die stetig immer wieder bis zu militärischen Auseinandersetzungen eskalieren würden. Stalin hatte so etwas noch in der 1952 unter seinem Namen erschienenen Schrift „Ökonomische Probleme des Sozialismus“ angenommen.

Die enge Verbindung der ursprünglichen westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges und ihrer Gegner aus den Zeiten der Achse – Japan, Italien und Deutschland – ist aus der Perspektive des Kremls nach wie vor ein Moment des Instabilen und eigentlich auch nicht Zulässigen wie des Bedrohlichen. Wer diese Verbindung in Frage stellen und bekämpfen wollte, fand dafür im Westen nicht selten Anknüpfungspunkte, zuletzt vielleicht unter US-Präsident Trump, der insofern wohl Putin und seinem Selbstverständnis in die Hände spielte. Ansatzweise findet man diese Linie wohl auch in der Politik des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle in den sechziger Jahren, vor allem aber auch im Kreis westdeutscher Entspannungspolitiker, die, mit Egon Bahr an erster Stelle, auf lange Sicht ein sogenanntes europäisches Sicherheitssystem ohne NATO und möglichst ohne US-amerikanische Präsenz erstrebten.2

  1. Die deutschen Entspannungspolitiken und der Kreml

Die Entspannungspolitik der sozialliberalen Ära wird heute mit vielen Weichzeichnern in ein denkbar warmes Licht getaucht, und dabei wird vieles verdeckt oder zurechtgebogen. Das betrifft einmal die These, von der Vertragspolitik der frühen siebziger Jahre, namentlich dem deutsch-sowjetischen Vertrag von 1970, führe so etwas wie ein direkter Weg zum Fall der Mauer und zur Wiederherstellung der deutschen Nationalstaatlichkeit am 3. Oktober 1990. Wird nicht umgekehrt ein Schuh daraus? Lebten wir nicht auch noch heute in zwei deutschen Staaten, hätte es nicht die polnische Infragestellung des sowjetischen Imperiums durch die Solidarnoç seit 1980 und die grundlegende sowjetische Kurskorrektur in der Ära Gorbatschow seit 1985 gegeben? Und was davon hat tatsächlich mit Egon Bahr und seinem „Wandel durch Annäherung“ aus den frühen sechziger Jahren zu tun? Das andere ist die Tatsache, dass man in einer ehrlichen historischen Rückschau wohl zweierlei (west)deutsche Entspannungspolitiken unterscheiden sollte: Einmal die notwendige Flurbereinigung der hergebrachten westdeutschen Positionen aus den fünfziger Jahren – Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Grenze, die DDR als bloße Zone, Hallstein-Doktrin usw. –, die insbesondere auch bei den eigenen Verbündeten im Westen nicht mehr plausibel zu machen waren. Tatsächlich war man sich auch in den Unionsparteien, mehr oder weniger offen eingestanden, in den sechziger Jahren darüber einig, dass all dies abgeräumt werden musste, um außen- und deutschlandpolitisch gewissermaßen geschäftsfähig zu bleiben, insbesondere bei den Partnern in Washington und Paris.

Das andere ist jene zweite Stufe, die sich vor allem mit dem Namen Egon Bahr verbindet: Die Stufe einer faktischen Infragestellung der westdeutschen Westbindung und damit der existenziellen Bindungen des freiheitlichen deutschen Staates, der Denuklearisierung in der Mitte Europas – man achte hier vor allem auf die sogenannte Nebenaußenpolitik der SPD nach ihrem Gang in die Opposition 1982 –, eine Politik, die im Ergebnis auf eine Neutralisierungund dadurch auf eine faktische Akzeptanz sowjetischer Hegemonie in Gesamteuropa gerichtet sein musste. In Fortführung und im Resultat dieser Linie wurde die polnische Freiheitsbewegung der Solidarnoç als Gefährder europäischer Stabilität denunziert und die schließlich mögliche deutsche Wiedervereinigung als historisch überholt abgetan – noch im Frühjahr 1990 konferierte Egon Bahr mit u.a. Valentin Falin im Kreml darüber, ob und wie sich die deutsche Zweistaatlichkeit perpetuieren lasse, und wenn dies schon nicht möglich sei, ob doch zumindest die Einbettung des wiedervereinigten Deutschlands in die Struktur der Atlantischen Allianz untergraben werden könne.

Der Gazprom-Handelsreisende Gerhard Schröder gibt aktuell den wohlfeilen Sündenbock ab, um von den vorausgegangenen, eigentlichen, materiell gewichtigeren und höchst prekären Sünden großer Teile der deutschen Entspannungspolitik abzulenken. Das Stichwort Egon Bahr ist wichtiger als das Stichwort Schröder, wenn es heute darum gehen muss, die deutsche Position gegenüber der Sowjetunion, gegenüber Russland wie gegenüber den unmittelbaren ostmitteleuropäischen Nachbarn mit dem historisch so vielfach gequälten Polen an erster Stelle freimütig und perspektivisch zu überdenken – um zu lernen, wie die Zukunft strategisch klüger und ethisch anständiger gestaltet werden könnte.

  1. Blick in die Zukunft: Ein geschwächtes Moskau als Hilfssheriff Pekings?

Ein Letztes, mit einem abschließenden Perspektivwechsel von der Bonner bzw. Berliner Sicht auf die Sankt Petersburger bzw. Moskauer Sicht: Der Versuch Putins und seiner Getreuen, aus einer geografischen, geostrategischen, rüstungspolitischen und technisch-ökonomischen Schwächesituation des heutigen Russlands möglichst wieder zu jenem Status zurückzukehren, den auf der Weltbühne das Zarenreich 1814/15 nach dem Ende der napoleonischen Ära und die Sowjetunion 1945 nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erreicht hatte, dieser zunehmend bellizistisch vorgetragene Angriff, droht nicht nur zu scheitern, sondern eine gewissermaßen gegenteilige Wirkung hervorzurufen: Über das ganze 19. Jahrhundert hinweg und bis in die Zeit Stalins war Russland bzw. die Sowjetunion gegenüber dem großen ostasiatischen Nachbarn China die eindeutige Hegemonialmacht, in die fernöstliche, ja zeitweise nordamerikanische Richtung (Alaska zeitweise Teil Russlands) aufgehalten nicht durch Peking, sondern durch Tokio und schließlich auch durch die USA.

Nun deuten alle aktuellen Trends darauf hin, dass Russland gegenüber der regenerierten Weltmacht China zu einer Sekundärgröße mutiert, demografisch wie ökonomisch – mit einem Bruttoinlandsprodukt auf dem Niveau Italiens – denkbar weit unterlegen, auf technische, finanzielle, tendenziell vielleicht sogar militärische Hilfe aus dem Reich der Mitte angewiesen. Russland droht in diesem Verhältnis in eine Rolle abzusteigen, wie sie uns in manchem Westernfilm begegnet: Ein großer Rancher mit nahezu unübersehbaren Rinderherden möchte die kleinen Farmer in seiner Umgebung schikanieren, ja um ihr Eigentum bringen. Für die dazu nötige „Schmutzarbeit“ engagiert er einen schießwütigen, nicht übermäßig strategisch begabten, aber skrupellosen Desperado, der nun quasi in Landsknechtmanier mit dem Colt herumfuchtelt und droht. Eine solche Perspektive, bloßer Rohstofflieferant und der Landsknecht auf der Payroll, subaltern gegenüber dem wirklichen Hegemon, wäre das Gegenteil dessen, was russische Staatsräson und russische Identität eigentlich gebieten. Hier läge der Preis, den Russland für einen blindwütigen Konfliktkurs gegenüber Europa wie gegenüber den USA, aber auch deren Verbündeten, mit Japan an erster Stelle im Pazifik, zu entrichten hätte. Mag sein, dass Putin sich so in eine Enge manövriert hat, dass er bereit ist, diesen Preis zu entrichten; schwerlich zu glauben ist, dass gerade die heutigen nationalen Eliten Russlands im Reflex auf das eigene Land, seine Geschichte und seine Räson, auf Dauer bereit wären, einen derartigen Kurs mitzusteuern.

 

 

1Der Autor: Peter März, geb. 1952, Dr. phil., zuletzt Referatsleiter im Bayerischen Kultusministerium, Ministerialrat i.R. Zahlreiche zeitgeschichtliche Veröffentlichungen wie Publikationen zur deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert und zur historischen Deutungskultur, zur Geschichte der alten Bundesrepublik: An der Spitze der Macht. Kanzlerschaften und Wettbewerber in Deutschland, 2. Erweiterte Auflage, München 2002, jüngste Monographien: Nach der Urkatastrophe. Deutschland, Europa und der Erste Weltkrieg, Köln, Weimar, Wien 2014, Gelenkte Geschichte. Jüngste deutsche Erinnerungsjahre und die historische Reflexion, Münster 2018.

2Egon Bahr wörtlich: „Das Ziel der deutschen Politik heißt nicht Nato. Sondern das Ziel der deutschen Politik ist die Überwindung des  Ost-West-Konflikts .“ Gewiss wollte Bahr nicht von heute auf morgen aus der NATO austreten, anders als damals tendenziell Lafontaine auf den Spuren de Gaulles _Austritt aus den militärischen Strukturen der NATO_ aber Bahr stellte sie langfristig zur Disposition, zugunsten  sogenannter gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen. Nach Andreas Vogtmeier: Egon Bahr und die deutsche Frage. Zur Entwicklung der sozialdemokratischen  Ost- und Deutschlandpolitik vom Kriegsende bis zur Wiedervereinigung, Bonn 1996, hier S. 353; Siehe auch zur sogenannten Europäisierung Europas, S.222 ff. und die Polemik Bahrs gegen die Neutronenwaffe. Kritischer noch Sturm, : Uneinig in die Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschland 1989/90, Bonn 2006: „Bahr (im Gegensatz zu H. Schmidt, P.M.) hingegen, dem europäischen Gedanken abhold und den Vereinigten Staaten von Amerika in tiefer Abneigung verbunden,dachte in Bezug auf Deutschland dialektisch:`Nur wer die Zweistaatlichkeit ohne   jedes Augenzwinkern bejaht und ihre Chancen im geteilten Europa sucht, kann über Deutschland reden  frei von einem Revisionismus …`“. (Bahr 1 1988, hier S. 74. Bahr befürwortete schließlich den Aufbau eines blockübergreifenden Sicherheitssystems im mitteleuropäischen Bereich. Dok. Nr. 13. In: Karner, Stefan, u.a. (Hg.): Der Kreml und die deutsche Wiedervereinigung 1990 Berlin 2015. S. 195 – 202.