Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst

Deutsche Medien im Krieg

14.7.2022

Christian Booß auf den 18. Frankfurter Medienrechtstagen an der Europa-Universität Viadrina

Erst vor kurzem, am 11. Juli, konnte man im ZDF Morgenmagazin (Moma) hören, die Ukraine plane Gegenoffensiven-imPlural. Auch im Teletext war von Gegenoffen s i v e n die Rede, was wirkte, als wolle die UA an verschiedenen Stellen vorrücken. -Die eigentliche Meldung lautete jedoch, dass der ukrainische Präsident, Wladimir Selenskij, den Befehl zur Rückeroberung der Küste gegeben hat. Also eigentlich eine Sensation! Der Beginn der seit Wochen angekündigten Gegengroßoffensive. Man hätte daraufhin ein Expertengespräch im Moma erwartet. Hat die UA Chancen, das Blatt zu wenden? O.ä. Fragen. Aber nichts dergleichen. Es folgte ein Bericht über freiwillige Helfer im Kriegsgebiet. Eine Fehlleistung, wie ich finde. Vielleicht ein Symptom dafür, dass das Kriegsgeschehen inzwischen so eine Art Grundrauschen im Medienteppich geworden ist: Schlimme Nachrichten, aber irgendwie schwer fassbar. Einen Tag drauf berichteten die ZDF und ARD- Hauptnachrichten vom Beginn der Offensive in Cherson, was auch nicht stimmt. Sie wird nur geplant, hat aber noch nicht begonnen.

Die geschilderten, wie ich finde, journalistischen Fehlleistungen, sind nicht untypisch für vieles, was wir in den Medien seit Wochen und Monaten erleben.

Mitte Juni (12.6.) war in der Tagesschau zu hören, dass es in der Großstadt Lyssychansk Straßenkämpfe gäbe. Hatte die russische Armee einen unerwarteten Durchbruch erzielt? Nein. Die Nachschau des Beitrages in der ARD-Mediathek zeigte, der Reporter hatte schlicht Lyssychansk mit Sjevjerordonezk verwechselt. Immerhin zwei Großstädte mit einst über 100.000 Einwohnern. Auch die gezeigte Karte war falsch. Nun kann man einwenden, beide Städte sind für uns nur fremde Flecken auf einer Landkarte. Aber man stelle sich vor, jemand würde erzählen, in Frankfurt/Oder tobten Straßenkämpfe, während sie eigentlich in Cottbus stattfinden. Und Sie wären, wie 100.000e Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland auf der Flucht und machten sich Sorgen um ihre Anverwandten daheim. Da sieht dieser Fehler schon anders aus. Und es ist keineswegs der einzige Fehler, den man in der täglichen Berichterstattung beklagen muss.

Ein schwerer Patzer- auch Ende Juni in der ARD- war die Behauptung, die russische Armee hätte Ende Juni selber auf die zum separatistischen Lager gehörende Stadt Donezk geschossen. Nun gab es in der Vergangenheit derartige Provokationen durchaus, um sie den Ukrainern in die Schuhe zu schieben. Aber in diesem Fall war das erstens relativ unwahrscheinlich- immerhin war der zentrale Markt beschossen worden, und zweitens: Es gab keinerlei Beweis, nur Gerüchte auf ukrainischer Seite. Diese ARD-Berichterstattung führte dem Vernehmen nach zu einer Beschwerde Russlands beim Außenministerium der Bundesrepublik. (14.6.) Leider zurecht.

Die Liste ließe sich fortsetzen. Es geht mir aber hier nicht um die beckmesserische Feststellung von Berichterstattungsfehlern. Ich behaupte, das ist jedenfalls meine Hypothese: Falsche Berichterstattung kann zu falschen politischen Einschätzungen und Entscheidungen führen und zudem Leben gefährden.

Bevor ich das an Beispielen erläutere, kurz zu meiner Arbeitsweise. Wir geben seit Februar unser Aufarbeitungsforum H-und-G.info mit dem Schwerpunkt Ukraine-Krise heraus. Manches an den vorliegenden Informationen fand ich nicht ausreichend. Also fing ich selber an, zu recherchieren. Ich habe dazu mein Sofa nie verlassen. Zu meinem Erstaunen- meine journalistische Tätigkeit liegt ca. 20 Jahre zurück- kann man heute diesen Krieg mehr oder minder live im Internet verfolgen. Je mehr ich v.a. am Beispiel von Mariupol in die Materie eindrang, desto skeptischer wurde ich gegenüber vielem, was ich in deutschen Medien las oder sah. Diesem Vortrag liegt also keine systematischen Medienanalyse zugrunde, die einem Faktencheck unterzogen wurde, sondern umgekehrt: Der Faktencheck rieb sich mit danach gelesenen Mediendarstellungen. Es ist also keineswegs ein Gesamtfazit zu den deutschen Medien, sondern allenfalls ein erster Aufschlag. Aber m.E. wäre es dringend geboten, dies systematisch zu untersuchen.

Ich werde mich daher hier mit Erklärungsversuchen und Analysen zurückhalten, sondern Beispiele, bzw. Beispielcluster liefern.

Beispiel eins.

Putin/die Russen werden nicht ernst genommen. Die Rede z.B. Putin vor Kriegsbeginn wurde in Bild als „irrer Putin-Auftritt“ bezeichnet.[1] Ich finde das -mit Verlaub- fahrlässig. Man muss die Sichtweisen Putins nicht teilen, ich teile sie auch nicht, aber man sollte schon versuchen, zu verstehen, was den Mann antreibt, der offenbar die Fäden in der Hand hat und den Krieg losgetreten hat. Ich finde, wenn man sich bei manche Formulierungen überwindet, manches propagandistische Gedöns nicht überschätzt, legt Putin doch relativ offen auf den Tisch, was ihn umtreibt.

Putin ernst zu nehmen, heißt nicht Putin-Versteher zu sein, sondern ist der Versuch, ihm auf die Schliche zu kommen, ihm zuvorzukommen.

Umgang mit den Quellen

Ein weiterer Kritikpunkt wäre der Umgang mit Quellen. V.a. die sogenannten Ukraine-Ticker, die von diversen Medien angeboten werden, versuchen inzwischen zeitnah ukrainische Meldungen zu übernehmen. Woher sie stammen, ist meist nicht nachvollziehbar. Ob aus deutschen Agenturmeldungen, ukrainischen oder aus Primärquellen, wird ärgerlicher Weise nicht angegeben. Das macht die Nachricht kaum nachvollzieh- und überprüfbar.

Ein problematisches Beispiel:

Am 24.Marz zeigten ARD und ZDF in den Hauptnachrichten Bilder von einem angeblichen Versorgungspunkt in Mariupol. Suggeriert wurde durch Text und Bild, die südukrainische Stadt sei besetzt, die russischen Besatzer würden die Bevölkerung mit Nahrungsmitteln versorgen. Beides stimmte allenfalls in Teilen. Die südostukrainische Großstadt war zu diesem Zeitpunkt zwar mehr oder minder umzingelt, aber keineswegs eingenommen. Die deutschen Nachrichtensender hatten sich bei der Berichterstattung offenbar auf Bildmaterial der Agentur Reuters verlassen. Reuters hat offenbar ein Arrangement mit der russischen Armee. D.h. sie drehen da, wo andere nicht drehen dürfen. Das hat offenkundig einen Preis: Das Geschehen wird weich gezeichnet. Das muss man beachten. ARD- und ZDF hätten die Bilder ja auch überprüfen können. Das ist gar nicht so schwierig. Es war deutlich zu sehen, dass der gezeigte Ort, der örtliche Metro-Großmarkt war. Den fand man sofort in google maps, weit draußen am Rande der Stadt auf der grünen Wiese. Die Bilder belegten also keineswegs die Einnahme der Stadt.

Ein weiterer Punkt ist die Quellenselektion.

Bei dem Bemühen, aktuell zu sein, werden Einzelmeldungen übernommen, die neu und dramatisch klingen, also scheinbar einen Newswert haben: z.B. 2 Tote bei Raketenengriff in Charkiv, ist so ein Meldung. Unterstellen wir ruhig, dass die News an sich richtig ist. Dennoch, was sagt sie uns? Dass in Charkiv ein Schwerpunkt des Kriegsgeschehen ist? Dass die Lage der ukrainischen Armee dort besonders schwierig ist? Das wäre falsch. Auf der ukrainischen Seite starben zu dieser Zeit ca. 50 bis 200 Menschen täglich, genau wissen wir es nicht. Die meisten aber gerade nicht in Charkiv, sondern im Donbas, während die Millionenstadt Charkiv im Prinzip relativ sicher war. Trotz dieser Bombenangriffe. Die isolierte Information, und derartige gibt es am laufenden Band, ist also desorientierend, sie gibt gerade nicht das wieder, was wir hier in Deutschland bräuchten, ein realistisches Lagebild.

Weiteres Problem: Übernahme von Wertungen

Möglicherweise ist es ein Symptom einer Überforderung, dass sich die Medien weniger an den Fakten als an den verbalen Bekundungen der ukrainischen Armee und der ukrainischen politischen Führung orientieren. Diese aber sind Interessengeleitet, verzerrt. Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. Die russischen Meldungen, denken Sie daran, dass bis heute behauptet wird, dass keine zivilen Ziele angegriffen werden, sind oft pure Propaganda. Man kann ruhig sagen: Lügen. Aber auch die Ukrainer färben ihre Mitteilungen. Das muss man dechiffrieren können.

Es geht bei vielen Fehlern also nicht etwa um zu große Nähe zu Russland. Aber Empathie mit den Angegriffenen, Moral und politische Überzeugung kann und sollte m.E. nicht journalistisches Handwerk ersetzen. Das ist jedenfalls mein Ansatzpunkt. Deswegen ist auch Vorsicht bei ukrainischen Meldungen angesagt.

Die täglichen Bulletins der ukrainischen Armee berichten regelmäßig von der erfolgreichen Abwehr feindlicher Angriffe an verschiedenen Orten. Das mag sogar stimmen. Doch wenn man die Orte auf einer Karte nachschlägt, liegen sie oft schon Kilometer weiter als die letzten Kampfplätze. Die russische Armee ist also faktisch deutlich vorgerückt, was aber die ukrainische Originalmeldung weichzeichnet. Die Ukraine streicht also systematisch eigene Erfolge heraus und unterschlägt, sagen wir, beschönigt, Misserfolge.

Es gibt aber offenbar nur wenige Journalisten, die sich der Mühe der Faktenüberprüfung unterziehen und dieses geschönte Bild realistischer malen. Das hat negative Konsequenzen. M.E. wurde der relative Erfolg der Ukraine nach dem abgewehrten Angriff auf Kiew lange überbewertet. Die TAZ schrieb sogar von einem „Sieg“ [2], nur weil die ukrainische Armee nördlich von Kiew und Charkiv vorher besetzte Orte zurückeroberte. Man sah die Ukraine noch auf dieser Siegerstrecke, als schon klar war, was Russland für eine neue Militärmacht zusammenballte, die dann im Mai, wie wir heute wissen, erfolgreich im Donbas zuschlug. Das Wort Gegenoffensive war jedoch in der deutschen Presse lange allgemein. Dabei hat die ukrainische Armee bislang fast nur Gebiete in Beschlag genommen, aus denen sich die russische Armee taktisch zurückgezogen hat. Eine wirkliche Gegenoffensive ist das noch nicht, und viele Militärexperten bezweifeln sogar, ob die Ukrainer dafür überhaupt gerüstet sind. Dass die Gegenoffensive bei Charkiv von der russischen Armee gestoppt wurde und die Ukraine im Donbas einen schweren Stand hatte, wurde jedenfalls spät erkannt. Zu spät, wie ich finde. Weil damit ein realistisches Bild verhindert wurde, wog die Politik sich sicher, Waffenhilfe blieb aus oder zu spät kam.

Ebenso verhielt es sich mit der Art der Waffenhilfe. Weil in Deutschland irgendjemand das Stichwort „Marder-Panzer“ zur Messlatte der Waffenhilfe aus Deutschland gemacht hatte. Wenn man sich die Fakten in den ukrainischen Armeeberichten angesehen hätte, hätte man leicht festgestellt: Es fehlen im Donbas v.a. long distance Haubitzen und Flugabwehrsysteme und das dringend. Eigentlich kommen derartige Systeme erst jetzt an, wo der Oblast Luhansk von den Russen schon eingenommen ist. Jede Woche starben wegen der Ausrüstungsdefizite ca. 1000 ukrainische Soldaten. Das meine ich, wenn ich sage, dass mangelnde Berichterstattung lebensgefährdend sein kann.

Nicht Überprüfbarkeit? Oder Faulheit?

Nach den ersten großen Peinlichkeiten in der Berichterstattung, heißt es jetzt, geradezu penetrant: „Die Angaben waren nicht zu überprüfen.“ Das ist aber ein Satz, der oft nur Bequemlichkeiten kaschiert. Ich habe in Mariupol eine Zeitlang die tschetschenischen Berichte und die vom Asow-Regiment, die sich gegenüberstanden, vergleichen. Trotz vollkommen gegensätzlicher Konnotation funktionierte das oft erstaunlich gut. Oder wenn die eine Seite behauptet, die Vororte von Lysychansk erobert zu haben und die andere dagegenhält, den Angriff zurückgewiesen zu haben, weiß man doch immerhin, d a s s dort gekämpft wurde, und muss nicht behaupten, man wisse es nicht, wie neulich einmal wieder in der Tageschau.

Pseudo-Authentizität

Manchmal ist die Presse auch Opfer eines Authentizitätsdenkens. Oft hörte ich, das machen „unsere Leute vor Ort“. Aber machen sie das wirklich, und wirklich gut? Hat ein Reporter im Schützengraben wirklich einen besseren Überblick? Wissen ukrainische Regionalreporter im Raum Zaporischja wirklich, was in Charkiv passiert? Ich staunte kürzlich, mit wieviel Aufwand z.B. der Spiegel für eine Reportage im besetzten Cherson aufgewendet hat. Die meisten Fakten waren lange im Internet bekannt. Die Kronzeugen aus dem Artikel hatten sie gepostet. Und was soll man von Reportern halten, die in Liviv stehen und sich zu Ereignissen äußern sollen, die 1000 km entfernt im Donbas stattfinden. Was würden sie davon halten, wenn ein Reporter in Schwerin nach Details eines Banküberfalls in Bad Tölz befragt würde?

Fixierung auf Symbole

Menschen tendieren offenbar dazu, komplexe Ereignisse durch Symbole zu vereinfachen. Eines solcher Symbole war Butscha. Wochenlang gingen die Meldungen zu Kriegsverbrechen durch die Medien. Dass zur gleichen Zeit neue Kriegsverbrechen v.a. im Raum Cherson und Mariupol verübt wurden, ging dabei oft unter. Besonders ärgerlich fand ich das das bei den tschetschenischen Spezialtruppen.

Klischee statt Wahrnehmung

Irgendjemand aus den westlichen Diensten hat relativ früh die spaßige Formulierung von Tiktokarmee in Umlauf gebracht. Wegen der Propagandawirkung der tchetschenischen Videos in den Sozialen Kanälen. Dabei waren Kadyrevleute an vorderster Front in Mariupol und in Luhansk. Und sie propagieren und führen schlimme Kriegsverbrechen durch: keine Gefangenen machen, Folter, Verschleppung, Scheinhinrichtung, etc.. Das Ganze wird in Telegram-Videos ausgebreitet. Wir haben die Sondersituation, dass wir Kadyrovs Anweisung an seine Leute haben und zwar explizit unter Bezug auf seinen Oberbefehlshaber, Wladimir Putin. Normalerweise scheitern Völkerrechtsprozesse gerade an dieser nicht nachweisbaren Befehlskette. Hier haben wir sie. Ich kenne jedoch keine prägnanten Berichte darüber, auch nicht über Sanktionen gegen Tschteschenen. Für die deutsche Presse bleiben sie offenbar nur eine Tiktokarmee.[3]

Mangelnde Analyse

Problematisch ist auch die Behandlung eines der größten Verbrechen in diesem Krieg: Der Filtrierung, teilweisen Verhaftung und Verschleppung der ukrainischen Bevölkerung. Es gibt zwar inzwischen einzelne Berichte, die schildern, dass Menschen überprüft werden, in Lager kommen, gefoltert werden, usw. Das wirklich Monströse in diesen Dingen wird aber nicht gegriffen. Diese Einzelmaßnahmen sind Teil der sogenannten Entnazifizierungsstrategie von Putin, die darauf abzielt, der ukrainischen Bevölkerung ihre Identität zu nehmen, indem er kritische Personen wegsperrt oder umbringen lässt, andere durch dauerhafte Sicherheitsüberprüfungen einschüchtert, umerzieht, oder nach Russland verschleppen lässt, um die besetzten Gebiete beherrschbar zu machen. Dem werden 100.000e unterzogen. Alles das konnte man in einem Artikel von Ria Novosti schon am 4. April nachlesen. Einer Gebrauchsweisung für die Besatzungspolitik. Aber auch hier, ich komme auf den Eingangs-Punkt zurück, nahm man den Artikel nicht ernst. Während man in den letzten Wochen in deutschen Medien große Berichte über uigurische Lager lesen konnte, mit Portraits von Gefangenen, hat z.B. der Spiegel zu diesen Lagern in der Ukraine noch keinen einzigen ähnlichen Artikel hervorgebracht.

Und auch, wenn Putin uns mit diesem Krieg zeigt, dass er auf internationales Recht pfeift, ganz immun ist er gegen eine kritische Öffentlichkeit nicht, weil sie seine potentiellen Bündnispartner nervös machen könnte. Eine kritische Berichterstattung zum Besatzungsrepression ebenso wie eine realistische zum Kriegsgeschehen und zur Bewaffnung könnte den Betroffenen helfen. Oder eben zugespitzt formuliert, Leben retten.

 

 

 


[1] www.bild.de/politik/ausland/politik-ausland/reaktionen-auf-irren-putin-auftritt-diese-rede-ist-eine-kriegserklaerung-79230834.bild.html

[2] 13.5. 2022. https://taz.de/Probleme-der-russischen-Armee/!5854191/(Zugriff 12.7.2022)

[3] 21.04.2022 https://www.zdf.de/nachrichten/politik/tschetschenen-kadyrow-ukraine-krieg-russland-100.html (Zugriff 12.7.2022)