Ungarische Wahlen im Schatten des Kriegs

von György Dalos

Rein mathematisch signalisierten die wichtigsten Meinungsforscher von Mitte Dezember 2021 bis Mitte Februar 2022 ein Kopf-an-Kopf-Rennen für ungarischen Wahlen im April 2022 zwischen dem Regierungslager vom amtierenden Regierungschef Viktor Orban und der vereinten Opposition. „Republikon“ rechnete mit 48 – 46 Prozent zugunsten der Regierungspartei Fidesz aus, „Median“ sprach von 44 – 45 – einem möglichen knappen Erfolg des Anti-Orban-Wahlbündnisses, „Závecz-Research“ prophezeite 47 – 47. Ein Konsens herrscht darüber, dass Parteien außerhalb der beiden großen Formationen so gut wie keine Chance haben in den Kuppelsaal des Parlamentsgebäudes einzuziehen. Und obwohl man die Niederlage der regierenden Partei noch nicht „in den Briefumschlag stecken kann“ (so bezeichnet der Budapester Slang die vollendeten Tatsachen), steht für Fidesz bei der Abstimmung am 3. April einiges auf dem Spiel: So der Verlust der Zweidrittelmehrheit sowie Einbuße von bisher als sicher geltenden Städten und Gemeinden der Provinz.
       Ob nun der Sonntag, 3. April etwas wirklich Bedeutungsvolles für Ungarn bringen wird, sei dahingestellt. Dafür geht ein anderes Datum, der 24. Februar 2022 ganz sicher in die Annalen der europäischen und damit auch der ungarischen Geschichte ein. Der unerklärte Krieg Russlands in der Ukraine veränderte eine seit 1991, dem Kollaps der UdSSR gültige Konstellation der Ost-West-Beziehungen und warf seinen beinahe apokalyptischen Schatten auf die Weltpolitik. Es ist schwer vorauszusagen, wann und wie die bewaffneten Kämpfe abgeschlossen werden, aber die Schaffung eines den Frieden garantierenden neuen Gleichgewichts wird gewiss lange dauern. Die Europäische Union und die NATO müssen nunmehr mit einer gegnerischen Macht an ihren Grenzen rechnen und sich mindestens auf eine neue Phase des Kalten Krieges vorbereiten.
       Was die mögliche konkrete Auswirkung der zerstörerischen „speziellen Militäroperation“ für das Wahlergebnis in Ungarn bedeutet, erscheint auf den ersten Blick die Annahme logisch, dass angesichts der instabilen Atmosphäre die Wähler das Weiterregieren der Einheitspartei Fidesz gegenüber dem wackeligen Konstrukt einer Sechsparteienkoalition bevorzugen. Hierauf baut auch Orbán mit seinem öffentlich verkündeten Anliegen, Ungarn möge aus dem Konflikt „ausgenommen bleiben“ – eine Äußerung, die von der Opposition heftig kritisiert oder gar als Verrat an den westlichen Verbündeten abgelehnt wird. Dabei beschränkt sich die geplante Enthaltsamkeit auf zwei Punkte: Die Absage Waffenlieferungen an Kiew über Ungarns Gebiet zuzulassen und die Weigerung die EU-Sanktionen gegenüber Russland auf den Energiesektor auszuweiten. Diese letztere Sonderposition involviert die unveränderte Weiterführung des russisch-ungarischen Bauprojekts Paks II. – dem auch ansonsten umstrittenen Atomkraftwerks an der Donau.
       Obwohl die speziellen Interessen des Landes durchaus gegeben sind und auch Rücksichtnahme verdienen, geht das Anliegen „Ausgenommen-bleiben“ eindeutig zu weit. Ungarn besitzt eine 136 Kilometer lange Grenze zu der Ukraine – ehemals zu der UdSSR – und in der Oblast Transkarpatien leben an die 150 Tausend ethnische Ungarn, viele in Mischehen mit Ukrainern. Dies bedeutet, dass durch die sechs Grenzübergänge bisher an die 200 Tausend Geflüchtete, Ungarn, Ukrainer und sogar in der Ukraine ansässige Bürger von Drittstaaten in unserem Land eintrafen. Selbst wenn sich die Mehrheit dieser Menge Ungarn lediglich als Zwischenstation betrachtet, erwachsen aus ihrer Aufnahme und der Aufbau der Logistik enorme, unvorhersehbare Kosten für den Staatshaushalt. Ohne opfervoller Hilfe von zivilen Organisationen, Privatpersonen und EU-Unterstützung wäre diese Aufgabe schwerlich zu meistern.
       Politisch wirft der Krieg echt heikle Fragen auf: Ungarns Verhältnis zu den beiden Kontrahenten ist alles andere als ausgewogen. Mit der unabhängigen Republik Ukraine schloss noch die Regierung von József Antall, 1995 einen Freundschaftsvertrag ab, der unter anderem visafreie Reisen garantierte. Allerdings kühlten die Beziehungen insbesondere dank der von Kiew praktizierten restriktiven Sprachpolitik ab, die neben der gewaltigen russischen Minderheit auch das Leben der ungarischen Minorität erschwert. Gleichzeitig blühten in der Ära Orbán die Beziehungen zu Putins Russland förmlich auf, was einerseits mentale Gemeinsamkeiten – autoritäres Gehabe der beiden Staatsmänner – andererseits illiberale Charaktere ihrer Staatsauffassung erklären. Dabei ist Orbáns Putin-Nähe, die sich zuletzt bei seinem zur „Friedensmission“ hochstilisierte Moskaubesuch, am Ende Januar 2022 manifestierte, keine bloße Koketterie, sondern fester Bestandteil seines Sonderwegs zwischen Ost und West. Wiederholte Lippenbekenntnisse zu den europäischen Grundwerten und Unterzeichnung gemeinsamer Erklärungen gegen die russische Invasion ändern nichts an dem Eindruck, dass Ungarn in der Ära Orbán zunehmend in die Rolle des „korrespondierenden EU-Mitglieds“ abdriftet, ungefähr so, wie dies seinerzeit der rumänische Diktator Nicolae Ceaușescu im Rahmen des Warschauer Vertrags praktizierte.
      Während die Horrorbilder des Krieges die Öffentlichkeit von Tag zu Tag erschüttern und der Ausgang des Konflikts mit all seinen verheerenden wirtschaftlichen Folgen in der nicht sehr fernen Zukunft liegt, predigt der Regierungschef eine „strategische Ruhe“. Was auch immer dieser nebulöse Begriff für die einzelnen Bürger bedeuten sollte, verbirgt sich dahinter womöglich die Unruhe der Fidesz-Eliten in Bezug auf die eigene Wählerschaft. Wenn nämlich im Lichte der aufeinander stürzenden Ereignisse die Stabilität des Systems Orbán als trügerisch erscheinen wird, kann selbst der minimale Umschwung der Wählerstimmung das Kopf-an-Kopf-Rennen zugunsten der Opposition entscheiden. Das könnte der relativ günstige Abschluss einer friedlosen Ära sein, aber zum Happyend brauchen wir nicht mehr und nicht   weniger als einen europäischen Frieden.