Folter, Lager, Deportation

Das russische Filtierungssystem in der Ukraine

Christian Booß 17.5.2022

 

Es gibt im Wesentlichen vier Komplexe von mutmaßlichen Kriegsverbrechen:

  1. Die Invasion an sich

  2. Übergriffe a la Butscha

  3. Bombardements gegen die Zivilbevölkerung

  4. Den Filtrationskomplex, wie ich das nenne. Letzterer scheint mir am Unbekanntesten, jedenfalls in Deutschland

    Punkt 1-3 sind, soweit ich sehe, im Prinzip wohl Konsens. Ich werde also im Wesentlichen zu 4., dem Filtrationskomplex, sprechen, aber auch ein paar Anmerkungen und Ergänzungen zu Butscha machen. Das gehört zusammen, wie ich finde.

Butscha ist überall

Foto: Toter in Butscha. Über tausend Zivilisten wurden nörlich von Kiew zu Kriegsbeginn ermordet.

Butscha löste eine Art internationalen Schock aus. Das ist gut so, wenn man so sagen darf. Aber, aber m.E. wird das Ereignis nördlich von Kiew in der ersten Kriegsphase -in den Medien zumindest- zu singulär betrachtet. Vernachlässigt wird m.E., dass Butscha überall ist. Diese Art von Terror ist Putins Kriegsführung immanent. Das ist jedenfalls meine These.

 

 

Kadyrevs-Terror

Schon vor Butscha hatte ich nämlich im Netz verschiedene Aspekte solcher Übergriffe gesehen -und das ist das Erstaunliche-in Propaganda-Videos eines Verbündeten der Russen, dem Tschetschenenführer Kadyrev. Dessen Soldateska hat nach heutigen Erkenntnissen ca. 2500 Söldner vor Ort. Lange wurde bezweifelt, dass die Tschetschenen überhaupt wirklich beteiligt sind, von TIKTOK-Armee war die Rede, weil Kadyrev und Co in diesen Videos fürchterlich aufschneiden. Aber ich habe die Präsens mit Geodaten von Bellingcat und Gegenüberlieferungen verifizieren können.

Foto: Ukrainische Karrikatur. Kadyrev an Putins Leine 

Die Videos zeigen kurz gefasst:

 

1.  Brutale Straßenkämpfe, wo alles niedergeschossen wurde, was sich bewegt.

2.  Brutale Hausdurchsuchungen und Durchsuchungen an Checkpoints in Mariupol und nach Gewahrsamnahme

Bei Durchsuchungen mussten die meist jungen Männer im wehrfähigen Alter, die aufgespürt wurden, den Oberkörper z.Z. mitten auf der Straße entblößen, sich dabei hinknien, wenn sie nicht brutal auf den Boden geworfen und gefesselt wurden. Ihre Sachen in der Wohnung oder in Taschen wurden durchwühlt. Es ging um verdächtige Tattoos, die auf ASOW-Zugehörigkeit hinwiesen, auf Armee- oder Geheimdienst- oder Stadtverwaltungsverbindungen allgemein. Man wollte ihnen auch militärische Geheimnisse, am besten Koordinaten für Angriffsziele, entlocken.

 

 

Kadyrev beschreibt mit seinen Botschaften und den Videos, was seine Leute vor Ort vollbringen, er lobt sie für diese Praktiken und ermuntert sie, v.a. gegen die ukrainischen „Faschisten“ genau so vorzugehen. Und er beruft sich dabei auf seinen Obersten Kommandeur, und das nicht nur einmal, nämlich Wladimir Putin.

Wir haben also eine Art Befehlskette für solche Taten, und das ist ungewöhnlich- bevor die Taten selbst dokumentiert sind. Die Gräuel von Butscha waren für mich eigentlich nur eine Art Vorbeweis, dass solches auch wirklich stattfindet und nicht nur die virtuellen Drohgebärden eines tschetschenischen Irren sind. Kadyrev ist nämlich verbal nur schwer erträglich, er schwelgt geradezu in Tötungsphantasien, die Gegner, insbesondere die ASOW-Leute in Mariupol, sind für ihn Faschisten, Teufel, er benutzt das Wort Scheitan, die -religiös legitimiert- eigentlich keine Existenzberechtigung haben.

Es gibt, um das kurz zu erwähnen, noch andere Sondereinheiten, die nicht minder brutal vorgehen. Auch Diebstahl und Vergewaltigung, etc. sind Teil dieser Kriegsführung, die einer an sich unmotivierten Armee auf diese Weise Anreize schafft.

Daher meine Behauptung, Butscha ist diesem Krieg immanent.

 

Der Filtrierungskomplex

Soweit zu den Übergriffen der kämpfenden Einheiten in der Streefighting- Eroberungsphase. Nun zum Filtrationskomplex nach der Besetzung, wo die Akteure andere sind, sie kommen aus den Bereichen der inneren Repression.

Ich spreche hier vom Filtrationskomplex, weil es sich um ein System von Maßnahmen handelt, die m.E. in ihrer Gesamtheit dazu dienen, die Ukrainer zu brechen, ihnen ihre Identität zu rauben, sie durch Umerziehung, Verschleppung, Bevölkerungsaustausch, im schlimmsten Fall durch Haft und Tod unschädlich zu machen, um die eroberten Teile der Ukraine zu russifizieren und im Sinne Putins zu befrieden.

Das Verrückte ist, viele diese Maßnahmen sind bekannt, manches spielt sich geradezu vor der Augen der Öffentlichkeit ab oder wird sogar von der russischen Propaganda selbst verbreitet.

Das Tückische an diesem System ist nicht unbedingt die einzelne Maßnahme, sondern die Gesamtheit. Wer nämlich einmal in das Filtrierungssystem hineingerät, kann nicht mehr entscheiden, wann und wie er rauskommt. Das entscheiden die russischen Repressionsbehörden. Insofern ist es nicht falsch, wenn die ukrainische Seite von Deportation spricht, auch wenn keineswegs immer physischer Zwang ausgeübt wird. Den meinen bleibt bloß keine echte Alternative. Die russischen Organe alleine legen im Prinzip fest, ob jemand nach wenigen Minuten oder Stunden passieren kann und wohin, in die Ukraine oder nach Russland, ob er länger festgehalten oder eingesperrt, wie er behandelt, ob er gefoltert wird oder dabei gar zu Tode kommt. Jeder, der also in diese Filtrationsmühle gerät, ist grundsätzlich erst einmal seiner Selbstbestimmung beraubt- selbst wenn es im Einzelfall durchaus so aussehen kann, als ginge es um Hilfen für Flüchtlinge. So propagiert es Putin, der für diese Verdrehung Heerscharen von sogenannten Journalisten losgeschickt hat, die die Bilder liefern, die ich teilweise als Beweise anführen kann.

Das System:

1. Sicherheitsüberprüfung (Filtration)

Es geht los mit der einfachen Sicherheitsüberprüfung, der Filtration an Checkpoints entweder in eroberten Regionen oder wenn Leute diese Richtung Ukraine oder in die russisch kontrollierten Gebiete verlassen möchte. Das ähnelt dem, was ich schon bei Kadyrev geschildert habe. Insbesondere die Männer werden auf die geschilderte Art durchsucht. Ihre Identität wird durch Papiere, Fotos, Fingerabdrücke festgehalten und in einer Sicherheitsdatenbank überprüft.

Foto: Folter durch Tschetschenen

  1. Entlocken ist ein Euphemismus, denn wenn Angebote zu Reden nicht ausreichten, wurde offenkundig gefoltert. Es gab mehrere Videos, wo die Gefangenen rotblaue Gesichter hatten, oder schlimmer zugerichtet aussahen. In einem Fall wurde eine Scheinhinrichtung gefilmt.

 

Foto: Scheinhinrichtung

Die Frage, die ich mir stellen musste war, wie authentisch waren diese Bilder? Manchmal hatte ich den Eindruck, dass Szenen zumindest nachgestellt, wenn nicht sogar inszeniert waren. In dieser Hinsicht kann man vielleicht von TIKTOK reden. Aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es eigentlich egal ist.

Die Videos werden nämlich im Namen von Kadyrov ausgestrahlt. Er bezeichnet sich darin selbst als Anführer der Kampfgruppen vor Ort, die er jeweils mit dem Namen ihres Kommandeurs anspricht. Der Prominenteste dürfte ein Duma-Abgeordneter sein, ein anderer der mutmaßliche Drahtzieher des Nemzov-Mordes.

 

2. Filtrierungslager

Die Zahl der inzwischen auf diese Weise Filtrierten geht in die 100.000e. Die Zahlenangaben für die Richtung Russland Filtrierten schwanken zwischen 100.000 und 1,2 Millionen. Und diese sind im Prinzip alle vorher filtriert worden.

Wer Glück hat, kann gleich an Ort und Stelle weiter, d.h. nach stundenlangem Warten auf seiner Straße Richtung Ukraine. So z.B. in Mangush, Nikolskoj und Berdjansk westlich von Mariupol; oder südlich von Cherson und Melitopel Richtung Krim oder im Norden an der russischen Grenze Richtung Beograd.

Laut OSZE-Angaben vom Juli 2022 soll es insgesamt rund 20 russische Lager geben. 

 

Foto: Bezimenne Luft

Foto: Bezimenne

Foto: Bezimenne ASOW

 

Diese Filtrierung kann aber auch in Lagern stattfinden, in Zelten oder Sportanlagen etc., die vom russischen Zivilschutz betreut werden. Die Bilder z.B. vom größten dieser Lager, Bezimenne östlich von Mariupol, kann man sich, einfach für ein paar Euro im Netz runterladen. Seit Februar übrigens- sie bestanden schon vor Kriegsbeginn.

Die Russen verkaufen diese Lager als Flüchtlingslager, in denen die, die vor den "Ukrofaschisten" geflohen sind, betreut werden. Es wird nicht einmal verheimlicht, dass die Sicherheitsprüfung, die Filtration stattfindet. Das wird als eine Maßnahme zum Schutz der russischen Bevölkerung vor Faschisten dargestellt.

3. Deportation nach Russland

Wer z.B. Bezimenne passieren darf, kommt in ein Flüchtlingslager nach Taganrog im Oblast Rostov und wird dann auf Aufenthaltsorte in der Russischen Förderation verteilt. Diese liegen z.B. in Kazan, Pensa, in Fernost, sogar in Sachalin etc.. Diese Orte wurden in der Ukrainischen Regierungspolemik als "KZ" bezeichnet, was unsinnig ist. Man kann nicht einmal in jedem Fall von Zwangsdeportation im Engeren sprechen. Meistens blieb den Leuten nur keine echte Alternative, wenn sie dem Bombardement und Elend nach der Eroberung entgehen wollten. Inzwischen dürfen die Menschen aus den von Russland besetztebn Gebieten in der Regel aber nur Richtung Osten fliehen. Ich kürze hier ab, weil der Schwerpunkt des Artikels liegt auf der Besatzungs-Repression in der Ukraine.

Foto: Bürger aus Mariupol werden nach Russland deportiert.

 

Während die Checkpoints und Erst-Filtrierungseinrichtungen inzwischen weitgehend bekannt sind, ist noch relativ undurchsichtig, was mit denen- meist Männern- passiert, die bei der Erst-Filtrierung ausgesondert werden. Man weiß auch nicht wie viele das sind, ob „nur“ einige hundert oder tausende. Angesichts der Kriegsgräuel kann ja nicht jeder Vermisste als „verhaftet“ gezählt werden.

 

4. Sonderlager-“Folter“-Lager.

Soviel ist inzwischen immerhin klar: Die Ausgesonderten kommen in Sonderlager. Das sind Gebäude, Gebäudeteile von Sportanlagen, Schulen, Fabriken oder sogar- in vormaligen ukrainischen Straflagern. Wie in diesem hier im Oblast Donetzk.

Foto: Sonderlager im Bezirk Donetzk

Da sind auch die Nichtverwundeten Soldaten aus dem Mariupol-Bunker hingebraacht worden: Diese sind also mitnichten in Sicherheit und in den Fängen der russischen Repressionsorgane, es ist auch kein reines Kriegsgefangenenlager wie gelegentlich behauptet wird, sondern ein Sonderlager im Rahmen der Filtration.
 

 

Foto: Karte

 

Offenbar gibt es -jeweils durch Indizien nachgewiesen- in jedem teilbesetzten Oblast solche Sonder-Einrichtungen. Die Behauptung, diese gäbe es nur im Donbas ist falsch.1 Es gibt auch im Raum Cherson ein solches Lager und nördlich von Charkiv nahe der russischen Grenze. Die Versorgung in derartigen Einrichtungen soll, soweit von einzelnen Standorten bekannt, sehr schlecht sein: Die Menschen müssen wohl am Boden schlafen, haben keinen regulären Toilettenzugang, von Waschgelegenheit zu schweigen. Es wird verhört und ggf. gefoltert. Es sind auch schon Personen aus dieser Sonderbehandlung nicht zurückgekehrt, wie mehrere Kommunalverantwortliche aus der Region Cherson/Zaporischschja.

(Foto: Video )

Was wir wissen, wissen wir von einzelnen Zeitzeugen, die zurückgekehrt sind, aber das sind bisher v.a. von Zeitzeugen vom Hörensagen, die in der ersten Filtrationsstufe waren und mitbekamen, wie Leute verschwanden. Erst nach und nach kommen die ersten zurück, die in sogenannten Folterlagern waren. Ihre Aussagen sollen dokumentiert werden. Es gibt auch ein Video aus einem Lager im Donbas, dessen Echtheit bisher nicht geprüft werden kann, auch wenn es hochplausibel ist. Einzelne der Lagerstand-Orte sind aber so groß, dass ich sie gut Satellitenbildern identifizieren konnte. So z.B. das im Donbas und in Cherson.

5. Nach dem Sonderlager

Zum Abschluss möchte ich knapp festhalten, was die Insassen dieser Sonderlager erwartet. Es sind folgende Alternativen:

1. Entlassung nach einer gewissen Zeit, die Rede ist derzeit von 36 Tagen, was eine Einschüchterungsmaßnahme sein soll.

2. Aufforderung zur Kollaboration bei Kriegsschädenbeseitigungsarbeiten, beim Aufbau einer Besatzungsverwaltung und einfachen Sicherungstruppen oder -auch wenn das merkwürdig klingt- zum Waffendienst in der russischen Armee gegen die Ukraine.

3. Wer als „Feind“, o. ä. eingestuft wird, muss länger sitzen oder er kommt in ein Untersuchungs- oder Straflager oder Gefängnis, wie das schon seit 2014 berüchtigte Isolationslager bei Donetzk oder das FSB-Gefängnis von Luhanks. Im Extremfall wird in der russischen Publizistik die Todesstrafe nach einem internationalen Tribunal a al Nürnberg gefordert. Vorbereitungen für solche Tribunale laufen bereits in Luhansk. Die Todesstrafe wurde zwar im normalen Strafrecht der RF in den 1990er Jahren abgeschafft. Sie gilt aber seit 2014 wohl im separatistischen Teil des Donbas wieder ist auch küzrlich wieder in Kraft gesetzt worden. Es sind schon drei ausländische Soldaten zur Todesstrafe verurteilt worden. Auch in Russland wird die Einführung der Todesstrafe nach dem Ausschluss aus dem Europarat im Moment wieder ernsthaft erwogen.

Um es knapp zu sagen. Wir und v.a. die Ukrainer, werden uns noch auf eine lange Phase von Diskussionen über Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen einstellen müssen. Sie sind in diesem Krieg keine Exzess-Episoden, sie sind Teil des Systems Putin.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1DLF 18.5.2022