Von aktiven Maßnahmen zur Kriegspropaganda: biologische Waffen, Moskau und die Ukraine
von Dr. Douglas Selvage, KGB-Forscher an der Humboldt-Universität Berlin
18.3.2022
Zur Rechtfertigung des Angriffskriegs Wladimir Putins gegen Ukraine läuft die Propaganda des Kremls zurzeit auf Hochtouren. Die Technologien dieses »Informationskrieges« (eher Desinformationskrieges) mögen mit dem Internet, Twitterbots, »Trollfabriken« usw. höchstmodern sein, aber viele der Themen dieser Propaganda sind uralt und haben ihre Wurzeln in der Desinformation Moskaus während des Kalten Krieges.
Das gilt insbesondere für einen Vorwurf gegen die Ukraine und die USA, der seit einigen Tagen in der vordersten Front der Moskauer Desinformation steht. Demnach hätten die USA - oder die Ukrainer mithilfe der USA – in geheimen Laboren in der Ukraine biologische Waffen entwickeln wollen, die gegen Russland bzw. russischsprachige Ukrainer eingesetzt werden sollten. Der bisherige Höhepunkt dieses Propagandafeldzuges wurde am 11. März 2022 erreicht, als Moskau eine Dringlichkeitssitzung des UNO-Sicherheitsrates einberief, um diese Desinformationsthese zu wiederholen und die beiden Staaten quasi international anzuklagen, zumindest zu diskreditieren.
Moskau hatte derartige sogenannte »falsche Flaggen« schon früher als Anlass und Begründung für eine Invasion fabriziert. Mit falschen Flaggen bezeichnet man die Technik von Geheimdiensten, Ereignisse oder Akten zu nutzen oder gar zu schaffen, um sie dem Gegner in die Schuhe zu schieben.
Zum Beispiel hatte der KGB 1968 ein Versteck mit US-amerikanischen Waffen in der Gegend von Karlovy Vary (Karlsbad) in der damaligen CSSR eingerichtet. Nach seiner »Entdeckung« berichtete die sowjetische Presse und Auslandspropaganda in der dritten Juliwoche 1968, dass die Waffen von sudetendeutschen »Revanchisten« und Anhängern der alten (d.h. vorkommunistischen) Ordnung in der Tschechoslowakei aus Beständen der westdeutschen Bundeswehr gelagert worden seien, offenbar damit diese Personen ihren Weg an die Macht putschen könnten. So wie damals das angebliche Waffenversteck der sudetendeutschen »Revanchisten« als Rechtfertigung für den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 dienen sollte, dient die angebliche Präsenz oder künftige Entwicklung US-amerikanischer Biowaffen durch ukrainische »Faschisten« während der letzten Wochen als ein gefälschter Anlass für den Angriffskrieg Moskaus gegen die Ukraine.
Diesmal musste aber Moskau kein Waffenversteck inszenieren. Stattdessen konnte es auf seiner langjährigen Propaganda aufbauen. Laut dieser sollen die USA in den angrenzenden Ländern Russlands – u.a. in Moldawien, Georgien und der Ukraine – Labore für Biowaffenforschung einrichten lassen oder selber leiten. Hauptsächlich verunglimpft die Putin-Diktatur damit das »Cooperative Threat Reduction Programme« des US-Verteidigungsministeriums. Das Programm trägt seit 1991 zum Abbau der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen bei, indem es den Nachfolgerstaaten der Sowjetunion bei der Sicherung bzw. der Zerstörung von atomaren, biologischen und chemischen Waffen Hilfe geleistet hat. Als Bestandteil dieses Programms beriet und half die US-Regierung diesen Ländern bei der Planung und Gründung von sicheren Einrichtungen für die zivile, wissenschaftliche Forschung an verschiedenen Krankheitserregern im Interesse der Epidemiebekämpfung und der internationalen wissenschaftlichen Forschung.
Kurz nach dem Russo-Georgischen Krieg 2008 warf Moskau Georgien vor, dass es den USA erlaube, auf seinem Territorium ein Labor für Biowaffenforschung zu bauen. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Einrichtung der georgischen Regierung – nämlich das Richard-Lugar-Zentrum für öffentliche Gesundheitsforschung, das erst 2011 geöffnet und 2013 völlig in Betrieb genommen wurde. Trotz der zivilen Zwecke der Einrichtung behauptet die russische Propaganda bis heute, dass diese Biowaffenforschung für das Pentagon betreibe. Nach dem ersten Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine 2014, der Besatzung und Eingliederung der Krim durch Russland und die Ausrufung von Separatistenregimes in Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine mit der Unterstützung und Militärhilfe Moskaus, intensivierte die Propaganda Moskaus um angebliche US-amerikanischen »Biowaffenlabore« in der Ukraine. Eigentlich geht es hier um sichere, zivile Forschungseinrichtungen des ukrainischen Gesundheitsministeriums, die Hilfe und Unterstützung von dem erwähnten Programm der US-Regierung bekamen. Im Falle beider Nachbarländer behauptet Moskau jedoch, dass die angebliche »Biowaffenforschung« eine Bedrohung gegen Russland darstelle. Die dortige Forschungslabore könnten, so Moskau, pathologische Krankheitserreger in die Umwelt freisetzen, die sich beabsichtigt oder unbeabsichtigt über die Grenze nach Russland ausbreiten könnten.
Diese Vorwürfe greifen offensichtlich auf alte Desinformationsthesen zurück, die der KGB mit seinen damaligen »aktiven Maßnahmen« während des Kalten Krieges verbreitet hatte. Unter aktiven Maßnahmen versteht man verdeckte Propaganda und Einflussnahmen, bei denen – so in der Definition des Ministeriums für Staatssicherheit – »Ausgangspunkte, handelnde Personen und Zielsetzung […] verschleiert« wurden.
Ein Beispiel für solche aktiven Maßnahmen war ein Artikel, den die vom KGB mutmaßlich subventionierte indische Zeitung Patriot am 18. Juli 1983 veröffentlichte. Er trug den Titel »AIDS May Invade India: Mystery Disease Caused by U.S. Experiments (AIDS mag nach Indien übergreifen: mysteriöse Krankheit verursacht durch US-Experimente)«. Der anonyme Autor, der angeblich ein bekannter amerikanische Wissenschaftler und Anthropologe war, behauptete, dass das Virus, das AIDS verursacht, durch die »Experimente des Pentagons zur Entwicklung neuer und gefährlicher biologischen Waffen« entstanden sei. Indiens Nachbarland Pakistan, schrieb er, könnte das »nächste Erprobungsgelände« für diese gefährliche Experimente des Pentagons werden. Daraus entstehe die Gefahr, dass AIDS rapide die Grenze überquere und unter der Bevölkerung Indiens verbreite.
Dieser Artikel baute selbst auf eine frühere aktive Maßnahme des KGB für seine Operation »Kakerlaken« auf. Dafür hatte der KGB im Jahr zuvor schon die Desinformationsthese verbreitet, dass ein US-amerikanischer Wissenschaftler, der mit Mücken im pakistanischen Lahore experimentierte, diese mit tödlichen Krankheitserregern losschicke, um ihre Eignung als Träger für Biowaffen zu testen. Das Ergebnis sei ein Anstieg an Infektionen mit tödlichen Krankheiten im Nachbarland Pakistans gewesen, die nach Indien auch hätte übergreifen können.
Nach der heutigen Desinformation Moskaus könnten tödliche Viren aus angeblichen Biowaffen-Einrichtungen der USA in der Ukraine und Georgien nun die Grenzen Russlands überqueren, so wie sie damals die Grenze von Pakistan nach Indien hätten überqueren können. Bei der Behauptung von Biowaffenlaboren in der Ukraine-These scheint es sich im Prinzip also nur um recycelte Desinformation zu handeln: unterschiedliche Länder, unterschiedliche Viren, aber praktisch dieselbe Desinformationsthese. Das Beispiel des Patriot-Artikels von 1983 und seine Bezugnahme auf Propaganda der Operation »Kakerlaken« des KGB zeigt auch, wie die Desinformationsthesen Moskaus aufeinander aufbauen. Das ist auch jetzt der Fall mit den angeblichen Biowaffenlaboren, die angeblich erst in Georgien und dann in der Ukraine skandalisiert werden.
Auf der Dringlichkeitssitzung des Sicherheitsrates am 11. März 2022 griff der russische UNO-Botschafter eine weitere alte Desinformationsthese Moskaus wieder auf. Er sprach von der Entwicklung sogenannter »ethnischen Waffen« durch das Pentagon. Darunter sind Biowaffen zu verstehen, die dank dem Wunder der modernen Gentechnik angeblich nur bestimmte Volksgruppen nach ihrem Erbgut infizieren und töten würden. Laut der Version des Botschafters hätte das Pentagon entsprechende Biowaffen gegen die »slawische Ethnie« durch die frühere Sammlung von Blutproben von COVID-19 Patient*innen in der Ukraine entwickeln können.
Schon in den 1980er Jahren hatte Moskau eine ähnliche Desinformationskampagne durchgeführt, laut der die USA alleine oder in Zusammenarbeit mit Israel und Südafrika solche Waffen zur Tötung von Afrikanern und Arabern hätten einsetzen wollen. Diese aktiven Maßnahmen zu »ethnischen Waffen« liefen seinerzeit parallel zu der AIDS-Desinformationskampagne des KGB (Stasi-Deckname: Operation »Denver«) bzw. überschnitten sich zeitlich mit dieser. Für die damalige Kampagne verbreitete der sowjetische Geheimdienst mithilfe der Stasi die These rund um den Globus, dass der Humane Immundefizienz Virus (HIV), der AIDS verursacht, in einem Forschungslabor des Pentagons in Fort Detrick, Maryland, als potenzielle Biowaffe erstellt worden sei. Diese AIDS-Desinformationskampagne, die erst 1985 begann, baute auf den schon erwähnten Artikel in dem »Patriot« von 1983 auf. In manchen Veröffentlichungen, die offenbar auf den Einfluss Moskaus zurückgingen, galt die »AIDS-Biowaffe« der USA als eine dieser »ethnischen Waffen«.
Die Erwähnung von COVID-19 durch den russischen UN-Botschafter am 11. März dürfte also kein Zufall sein. Russland nutzt die COVID-19-Pandemie schon seit einiger Zeit für das Recyceln seiner alten Desinformationsthesen zu HIV/AIDS aus. Seit dem Anfang der Epidemie heißt es in der russischen Desinformationssphäre im Internet, dass COVID-19 durch die US-Regierung als Biowaffe in Fort Detrick sei entwickelt worden. Sogenannte faktisch staatlich beeinflusste russische »Nachrichten«-Plattformen wie RT (früher: »Russia Today«) und »Sputnik-News« hatten schon frühere Epidemien – z.B. Ebola (2013-2016) in Afrika, die Vogelgrippe (2013) und Zika (2013-2015) – ausgenutzt, um verschiedene Versionen derselben Desinformationsthese zu verbreiten. Was immer der epidemische oder pandemische Virus sein mochte, musste er, so Moskau, aus den Biowaffenlaboren des Pentagons stammen.
Im Falle der »COVID-19-aus-Fort-Detrick-These« trug eigentlich China noch mehr zu ihrer Verbreitung im Internet und in der Presse als Moskau bei. Das muss keine Überraschung sein, da China damit auf Vorwürfe aus Washington antwortete – insbesondere von Donald Trump und seinen nächsten Anhängern –, dass COVID-19 aus einem biologischen Forschungslabor in Wuhan in China entwichen oder sogar da mittels Gentechnik systematisch entwickelt worden sei. Dieser laufende Propagandafeldzug Beijings erklärt mindestens zum Teil, warum auch China jetzt die neue Desinformation Moskaus über die angeblichen US-amerikanischen Biowaffenlabore in der Ukraine unterstützt und sogar selbstständig weiterverbreitet.
Natürlich hat Moskau es heute zum Teil leichter mit seiner Desinformation als damals, während des Kalten Krieges. Es war das oberste Ziel von aktiven Maßnahmen, dass sich eine Desinformationsthese verselbstständigte und ohne geheimdienstliche Hilfe weiterverbreitete. Im Falle der AIDS-Desinformationskampagne entstand ein Zyklus der Des- und Falschinformation zwischen dem KGB und verschiedenen Verschwörungstheoretikern, insbesondere in den USA. Die Letzteren griffen Thesen des KGB auf und setzten sie zu ihren eigenen Zwecken ein. Der KGB nutzte und zitierte wiederum die Arbeiten solcher Verschwörungstheoretiker für seine aktive Maßnahmen. Es konnte aber Wochen oder sogar Monate dauern, bevor eine neue Veröffentlichung oder Sendung entsprechend den Zwecken Moskaus erschien bzw. ausgestrahlt wurde. Im Falle der Desinformation Moskaus zu der angeblichen Biowaffenlaboren in der Ukraine sowie zu COVID-19 werden ihre Thesen praktisch sofort von verschiedenen Milieus – z. B. von Verschwörungstheorieanhängern von Q-Anon und Querdenkern – aufgenommen und in vor allem in sozialen Medien nach dem Schneeballsystem zig-tausendfach weiterverbreitet. Bestimmte Sender und Publikationen im Westen – wie z.B. »Fox News« in den USA oder das »COMPACT«-Magazin in Deutschland – tendieren offenbar dazu, relativ zeitnah dazu derartige Themen an ihre Zuhörer bzw. ihre Leser weiterzugeben. In den 1980er Jahren hätten KGB- und Stasi-Offiziere von solchen Möglichkeiten nur träumen können.