Alte Männer

Putin wirkt wie ein Anti-Brzezinski, doch die Zeit der Großmachtspiele sollte vorbei sein.

Über großrussisches neototalitäres und unipolares Denken

von Christian Booß

Stand 29.3.2022

Obamas Regionalmacht-Schmähung war kein Ausrutscher

Der US-Amerikanische Präsident Barack Obama spottete 2014 nach der Krim-Annexion, Russland sei nur eine Regionalmacht, „a regional power“, die einige ihrer Nachbarn bedrohe, dies aber nicht aus Stärke heraus, sondern aus Schwäche.1  Über derart selbstbewusste Worte freuten sich einige, andere fanden das eher undiplomatisch. Kaum einer der politischen Beobachter entdeckte die wirkliche Dimension hinter diesen Worten. Obamas Worte waren kein verbaler Ausrutscher, sondern eine strategische Überlegung, wie sie von einem bedeutendsten Sicherheitstheoretiker in den USA vorgedacht war; von Zbigeniev Brzezinski, einem gebürtigen Polen, der in Harvard mit an der Weiterentwicklung der Totalitarismustheorie gearbeitet hatte, unter dem demokratischen Präsidenten Jimmy Carter als dessen Sicherheitsbeauftragter fungierte und schließlich an einer New Yorker Universität und in einem amerikanischen Think Tank tätig war. Er starb 2017. Sehr vereinfacht, war er so etwas wie der Henry Kissinger im demokratischen Lager.

 

Brzezinski hat Ende der 1990er Jahre (wie andere in dieser Zeit auch) die Vision einer unipolaren Welt entwickelt, die von den USA dominiert sei. Sie seien die „erste und die einzig wirkliche Weltmacht“2 in der Geschichte mit einer weltweiten Militärpräsenz, als wirtschaftliche Lokomotive und auf Grund ihrer technologischen Innovationsfähigkeit. Dies verleihe ihnen eine „politische Schlagkraft, mit der es kein anderer Staat auch nur annähernd aufnehmen könnte“.3 Man muss Brzezinski sicher zubilligen, dass sein archimedischer Punkt kein rein imperialer Anspruch war, er hielt den american way of life, in seiner Verbindung von wirtschaftlicher Entwicklung und Demokratie für vorbildhaft.4 Aber seine geradezu euphorische Bestandsaufnahme ging an einigen Sündenfällen der US-Außenpolitik nonchalant vorbei und bagatellisierte auch die Optik Dritter. Selbst Schachspiele- „The grand Chessboard“ war amerikanische Titel seines Buches in 1997- werden nicht nur von einem gespielt und wenn das einer für sich in Anspruch nimmt, gilt er als Spielverderber, wenn nicht Schlimmeres.

Immerhin war Brzezinski realistisch genug, festzuhalten, dass selbst die Macht der USA allein für eine Beherrschung der Weltordnung dauerhaft nicht ausreichen würde. Es ging ihm also darum, starke Verbündete auszumachen und potentielle Feinde zu schwächen. Dies deklinierte der weltläufige Wissenschaftler für jeden Kontinent durch. Die Analyse wurde in diesen Teilen freililch mehr zur programmatischen Kampfschrift. Für Europa identifizierte er Deutschland und Frankreich als Sachwalter der US-Interessen, die über EU und die NATO ausgeübt würden. Deren Einflussgebiet Richtung Osten auszudehnen hielt er für wünschenswert, um der von ihm angestrebten Weltordnung Einfluss auf dem wichtigen Eurasischen Kontinent zu verleihen.5 Zu schwächen sei dagegen der russischen Einfluss. Entscheidend für das Kräfteverhältnis in Europa sei das größte Land aus der zerfallenen Sowjetunion: die Ukraine. Mit dem Verlust der Ukraine sei es Russland unmöglich, „die Führung eines selbstbewussten eurasischen Reiches“6 anzustreben. Ein derart geschwächtes Russland könne sich entweder Asien zuwenden, oder aber -da liegt die Priorität Brzezinskis- sich dem Westen zuwenden. Obamas Worte von 2014 gleichen an dieser Stelle fast wörtlich denen des bedeutenden Sicherheitstheoretikers. Obama zeigte sich in der Ukraine-Krise überzeugt, dass Russland in Wirklichkeit geschwächt sei, es aber einsehen müsse, dass die USA die „ most powerful nation in the world“7, die mächtigste Macht der Welt sei. Obama ging offenbar davon aus, dass die damaligen Sanktionen Russland dies deutlich machen und es zur Vernunft bekehren würden. Eine folgenschwere Bagatellisierung des Krimkonfliktes, wie sich heute zeigt.

Brezinskis Überlegungen lagen vier Fehlweinschätzungen zugrunde, bzw. ging die Zeit über sie hinweg.1. Setzte der schnelle und machtvoll Aufstieg Chinas unipolaren Phantasien Grenzen. 2. Wurden die Konsolidierungsmöglichkeiten des russischen Staates unterschätzt. 3. Wurde das atomare Potential Russlands nicht ernst genug genommen, weniger weil es als veraltet galt, sondern eher weil man nach Jahrzehnten des atomaren Patt offenbar der Auffassung war, dass der Konsens, Atomwaffen seien nur um den Preis der Selbstvernichtung einsetzbar, dieses Drohpotential gleichsam auf Null gestellt hatte.  4. Waren gerade einen geostrategischen Denker wie Brzezinski die großrussischen Ambitionen mancher im ehemaligen Sowjetrussland bekannt, gerade deswegen strebte er an, sie einzudämmen. Gleichzeitig scheint er ihr Weiterwirken und ihre Wirkungsmächtigkeit in den staatlichen Eliten und breiten Teilen der Gesellschaft unterschätzt zu haben. Wie anders ist es zu erklären, das Brzezinski offenbar lange meinte, das neue Russland würde sich mit dem Status einer Regionalmacht zufrieden geben.

Kontiutät großrussischen Denkens

Aus heutiger Perspektive scheint gerade der letzte Punkt wichtig. Putins Wende zu neoimperialistischen Strategien wollten viele lange, teilweise bis zum 24.2. nicht wahrhaben. Gerade im Gorbatschoff-verliebten Deutschland hat man eher den Wandel im postkommunistischen Russland hervorgehoben, weniger die Kontinuität gesehen. Die Bereitschaft Gorbatschoffs auf Gewalt gegenüber Satellitenstaaten auszuüben, das Kassieren der Breshnev-Doktrin 1989, die Zustimmung zur deutschen Einheit 1990, Jelzins Aufkündigung der Sowjet-Union 1991, scheinen diese Sichtweise rechtzufertigen. Allerdings kommt darüber zu kurz, dass es in der russischen Sicherheitsphilosophie immer zwei eher taktische Varianten gab, die allerdings beide dem Ziel dienten, Russland zu sichern und stark zu machen. Die eine Variante wollte eine möglichst große Einflusszone um das Kernland schaffen, angefangen von Lenins Revolutionsexport bis zu Stalins eisernem Vorhang. Die andere Richtung verwies auf die politischen und wirtschaftlichen Kosten und war bereit, sich auf einen kleinere unmittelbaren Herrschaftsbereich zurückzuziehen. Dies allerdings in der Hoffnung, dass Russland dann zumindest in Europa eine gewichtige Rolle spielen würde.

Selbst der scheinbar liberalste außenpolitische Berater Gorbatschoffs, Wjatscheslaw Daschitschew, strebte das europäische Haus an. Das war auch im Westen populär. Aber offenbar ging es auch Datschitschew letztlich darum, Europa von den USA zu entfremden und stärker unter russischen Einfluss zu bringen. Als Vordenker der deutschen Einheit wurde er von den deutsche Medien hofiert, als er in den 1990er Jahren den nach wie vor großen Einfluss Amerikas immer schärfer kritisierte, fand er nur noch Beifall bei der deutschen Rechten. Auch wenn Daschitschew weiterhin einer Anlehnung Russlands an Europa den Vorzug gab, näherte er sich faktisch immer stärker dem Kurs Putins an, der Amerikas Vorherrschaft ein starkes Russland entgegen setzen wollte. Auch der langjährige Sicherheitsberater von Jelzin, der General Alexander Lebedew wurde im Westen eher als kompromissbereit angesehen, da er im ersten Tscheschenienkrieg und bei den Auseinandersetzungen um die Unabhängigkeit Moldawiens den Ausgleich suchte. Aber in Moldawien war es gerade Lebed, der darauf bestand, dass russischer Truppen weiterhin im separatistischen Transnistrien stationiert sein sollten. Da stehen sie noch heute, bereit sich vom Westen mit der Invasionsarmee Putins in der Ukraine zu vereinen. Auch wenn Lebed wie Jelzin letztlich dem Vertrag 1997 zustimmten, der eine Natoosterweiterung vorsah, blieb auch Lebed wohl eher ein Anhänger, das Reich im Kern zusammenzuhalten. Kurzum hat der Westen eher das betont, was er sehen wollte, die Kontinuität des imperialen Denken in Russland übersehen bzw. kleingeredet.

Gorbatschoffs war 1990 bereit, die DDR gegen gewissen Sicherheitsgarantien aufzugeben und die anderen besetzen Staaten freizugeben, da die Kosten der Besatzung zu hoch waren und diese ein Hindernis auf dem Weg zu einem kooperativen Verhältnis mit Europa waren. Doch selbst die Liberalität Gorbatschoffs hatte Grenzen. Bekanntlich versuchte er noch 1991, das Baltikum mit der Waffengewalt von Luftlandetruppen von der Unabhängigkeit abzuhalten. Auch in dem Konflikt zwischen Modawien und seinem östlichen Teil Transnistrien hielt, wie erwähnt, die sowjetische, später die russische Seite an ihrem Militärstützpunkt in Transnistrien fest, was ein wesentlicher Faktor für die Spaltung von Moldawien war. Als Gorbatschoff einen neuen föderativeren Union auf den Weg brachte, putschten prompt 1991 die Führer der zentralen Allunionsapparate, die im Falle einer stärkeren Dezentralisierung des Sowjetreiches entmachtet worden wären. Man kann sich fragen, ob die Ende 1991 folgende Auflösung des Unionsverbundes durch Jelzin und Co im Jahre 1991 wirklich sicherheitspolitisch durchdacht war, oder eher eine Folge innenpolitischer Versuche, sich von der Umklammerung durch die kommunistische Partei zu befreien. Aber selbst Jelzins angedachter Staatenverbund, die GUS, war zunächst noch stark auf Moskau ausgerichtet. Trotz der zwei Strömungen in Russlands Sicherheits politik- die eine war imperialer die andere kooperativer- unterschieden sie sich in einem kaum. Die Sicherheitsinteressen Russlands standen im Vordergrund. Und das Kernreich stand eigentlich nicht wirklich nicht zur Disposition.

Die Sicherheitspolitik der heutigen russischen Militär- und Herrschaftseliten, die bis heute immer noch mit einem Bein in der sowjetischen Vergangenheit stehen, in der ihre Karrieren begannen, stehen genau für diese Kontinuität: Von der Intervention in Vilnius 1991 über Transnistrien, Tschechenien, Georgien bis zur Krim und jetzigen Invasion gibt es eine Linie, das Kernimperium möglichst zusammenzuhalten bzw. wiederzuerrichten. Dass Jelzins GUS immer mehr auseinanderdriftete und wie im Inneren Russlands unter Jelzin keinerlei Ordnungsrahmen mehr zu bestehen schien, rief die Vertreter alter Denkschulen auf den Plan. Hier rächte sich, dass Jelzin keinen wirklichen Reformplan hatte und die Machtapparate bis hin zum KGB nur oberflächlich modifiziert aber nicht aufgelöst wurden und sich bald restituieren konnten. Diese Konstellation war die Stunde des Wladimir Putin, der also mit seinem imperialen Denken an einer breiten Tradition des sicherheitspolitischen Denkens in seinem Land anknüpfen konnte. Dass Putin diese Ziele historisierend aufheizt, ist einerseits sein persönlicher Stil, andererseits bedient er damit den durchaus verbreiteten russischen Nationalismus in der Bevölkerung.

Fehleinschätzung des Westens

Die Unterschätzung der Selbsterholungskräfte der russischen Machtapparate und die Beharrung imperialer Mentalitäten hatten weiterreichende Folgen. Entweder hätte der Westen andernfalls über eine stärkere Einbindung Russlands nachdenken müssen oder selbst eine Stärke gewinnen müssen, die Russland trotzen kann. Diese Annahme einer dauerhafte Schwäche Russlands wie noch in Brzezinskis Schachstrategien sah nur die Alternative, dass Russland schmollend regional Richtung Asien ausweichen oder dem Westen anpassen müsse. Das Russland es wagen könne, der Welt die Stirn zu bieten, kam in dieser Strategie nicht vor. Das Ergebnis dieser Fehlkalkulation Rechnung liegt spätestens seit dem 24.2. auf dem Tisch.

In Deutschland wurde Brzezinskis Buch nach der Jahrtausendwende zwar übersetzt und verkauft, aber relativ wenig bekannt. Es ist allerdings davon auszugehen, dass das in Russlands Sicherheitskreisen anders war. Brzezinskis Überlegungen wirken aus der Optik eines Moskauer Ex-Apparatschiks mit sowjetischen Wurzeln wie der Schlüssel zu vielen Ereignissen. Die orangene Revolution in der Ukraine von 2004 und der Maidan von 2004, wirkten auf sie wie Versuche der USA, die Ukraine auf die Seite des Westens zu ziehen. Die radikalen Kräfte des Maidan seien vom Westen unterstützt worden. Die amerikanische Botschaft in Kiev hätte eine Million Dollar pro Tag in diesen Aufstand gepumpt, so Putin in seiner Rede vor dem Einmarsch 2022.8 Inzwischen definiert Putin die Ukraine als antirussisch, womit er seine Intervention legitimiert.9 Dass der Westen ukrainische NGOs, insbesondere vor der orangenen Revolution, gesponsert hat, ist kaum zu bestreiten. Ob eine Handvoll Dollar und Euro allerdings ausreichen, die Richtung eines über 40 Millionen Einwohner zählenden Großflächenstaates um 180 Grad zu drehen, ist indes zu bezweifeln. So denken nur Verschwörungstheoretiker, gerade kommunistisch geschulte Geheimdienstler dürften eher nicht so differenziert denken. Darauf getrimmt, permanent feindliche Angriffe gegen die eigene Interessenssphäre aufzuspüren, sind sie prädisponiert, Indizien auf fremde Einflüsse als kohärente Bedrohungsstrategie überzuinterpretieren. Putins Schriften und Reden sprechen dafür, dass er vieles, was nach 1991 im ehemaligen Einflussbereich der Sowjetunion geschehen ist, lediglich als Folge einer solchen US/Nato-gelenkten Eindämmungsstrategie interpretiert.10 Insofern hat ihm Brzezinski einen Gefallen getan, da hier wie in ähnlichen Schriften eine Nato-Ausdehnungsstrategie zu Lasten Russland vorgedacht ist, quasi als Beweis für russische Ängste. Putins Antwort, Russland militärisch zu stärken, und vor allem seine interventionistische Politik in der Ukraine von 2014 und 2022 wirken auf diese Weise wie der Gegenentwurf zu Brzezinski: Wir halten die Ukraine um jeden Preis fest, weil wir eine Großmacht sind und bleiben wollen und sein werden!

Abschied vom alten Denken

Aus heutiger Sicht zeigen beide Ansätze Denkfehler: Unterschätzt wurde der Phantomschmerz über die verlorene Macht bei dem Teil der russischen Eilten, die in der Sowjetzeit sozialisiert wurden und die ebenso von einem Grossmachtdenken beherrscht sind, wie keineswegs marginale intellektuelle Kreise und Teile der Bevölkerung, die einem historisch-mythischen großrussischen Nationalismus zuneigen. Unterschätzt wurde, dass Russland immer noch die von der Zahl der Sprengköpfe größte Atommacht ist. Aus der Perspektive, dass Atomwaffen rational nicht einsetzbar sind, wird von einem Putin offenbar anders gesehen, wie wir spätestens, seit seinen Drohgebährden nach dem 24. Februar. Aus dem Verfall der russischen Wirtschaft und Staatlichkeit, der Unfähigkeit die eigene Wirtschaft zu modernisieren und zu entwickeln, der Ausplünderung der Ressourcen durch korrupte Eliten und Oligarchen, dem langsamen Dahinrotten von Atom U-Booten in Murmansk wurde offenbar auch die (dauerhafte) Schwäche Russlands geschlossen. Das immer noch mächtige Potential an Menschen, Wirtschaft und Bodenschätzen wurde offenbar ebenso in den Einschätzungen vernachlässigt, wie Putins Bemühungen, den Staatsapparat und dessen Sicherheitsorgane zu konsolidieren. Spätestens das internationale Auftreten Russlands in Syrien, Nordafrika, Mali hätte eine deutliche Warnung sein können. Brzezinski, das sei zu seiner akademischen Ehrenrettung gesagt, hat noch vor seinem Tod 2015 davor gewarnt, damit sich aus „dem Kalten Krieg kein heißer Krieg entwickelt“.11

Putins Denke wiederum blendet systematisch alles aus, was seiner Überzeugung von einer gradlinigen westlichen Strategie zum Nachteil Russland entgegensteht: Die ethnischen Konflikte in Es-Jugoslawien; das Machtvakuum nach dem von Russlands Führer Jelzin mitverursachen Auseinanderfallen der Sowjetunion und die damit wachsenden Sicherheitsbedürfnisse kleinerer Staaten, in dieser Vergangenheit immer wieder Spielball von Großmachtinteressen geworden waren; last but not least die gesellschaftliche Dynamik von offenen Gesellschaften, die eine neuen Mittel-Schicht von wendigen, weltläufigen besser ausgebildeten und informierten Menschen hervorbringt, die selbstbewusster und sind und demokratische Ansprüche stellen. Putin scheint in all dem kein Potential für Neues, fü+r eine Chance Russlands zu sehen, sondern nur Gefahren, die man deckeln muss, notfalls mit allen Machtmitteln, die der Staat nach innen und nach außen hat. Putins System ist immer autoritärer geworden. „Neues Denken“, wie noch unter Gorbatschoff gefragt, scheint Putin, der die 1990er Jahre nur als „Katastrophe“ empfand,12 fremd. Jedenfalls scheint er sich- enttäuscht dass der Westen Russland nicht als gleichberechtigte Großmacht ansieht- zunehmend einem teilweise aus sowjetischen Versatzstücken und teilweise aus einem mythisch zusammengesetzten großrussischen Denken angenähert zu haben, was eher rückwärtsgewandt ist.

Quo vadis? Frieden mit einem neo-totalitären Herrscher?

Beide, Putin wie Brezinzki, der eine Jahrgang 1928, der andere 1952, haben allerdings etwas gemein. Sie wurden geprägt durch den Kalten Krieg, sie sind alte Männer des 20. Jahrhunderts. Eine Welt, wo mehrere Länder in Europa im Prinzip gleichberechtigt nebeneinander und zum gegenseitigen Vorteil miteinander existieren, kommt in ihrer beider Perzeption nicht vor.

Die Naivität, dass man autoritären Herrschern mit nur Freundlichkeit beeindrucken könne, hat Putin den Europäern binnen weniger Stunden im Februar ausgetrieben. Doch Aufrüstung allein ist nicht nur teuer, sondern auch nicht wirklich klug und stabil. Auch wenn es angesichts des Bombardements gegen die ukrainische Zivilbevölkerung nicht als der richtige Zeitpunkt erscheint, wird Putins schrecklicher Krieg irgendwann einmal vorbei sein. Aber mit dem soll er wie beendet werden?

Zweifelsohne entwickelt sich Russland unter Putin von einem softautoritären zu einem neo-totalitären System. Auch wenn alle aufschreien, die meinen man könne diese Herrschaftsform auf keinen Fall mit dem NS vergleichen, weist Putins Macht inzwischen alle klassischen typologischen Merkmale eines Totalitarismus auf. Die Macht ist bei Putin konzentriert, er baut demokratische und rechtsstaatliche Regeln ab, bzw. unterläuft er sie maßnamenstaatlich durch willkürliche Beschränkungen von Demonstrations-, Vereinigungs-, Presse- und Meinungsfreiheit; willkürliche Durchsuchungen und Festnahmen nehmen zumindest in den besetzten Gebieten in der Ukraine terroristische Züge an; die Aggression und der gewaltsame Expansionismus liegen auf der Hand; was vorher nicht so erkennbar war, aber durch die Siegesfeiern zum 8. Jahrestag der Annexion der Krim, durch die Medienmanipulation und die Drohungen gegen Abweichler wird aber zunehmen deutlich, dass Putin seiner Bevölkerung einen aggressiven Nationalismus nach innen und außen aufzwingt bzw. ihn bedient, so dass er- auch klassisch- seine Herrschaft ideologisiert und plebiszitär absichert. Im Unterschied zum NS und Faschismus benötigte Putin keine Parteiformationen wie die SA zur Einschüchterung seiner Gegner, weil es sich auf die Sicherheitsapparate stützten kann, die sich nur oberflächlich vom Stalinismus emanzipiert hatten und zunehmend in alte, wenn auch modernisierte Praktiken zurückfallen. Neo-totalitär ist das System insofern weil es genau so viele Brüche wie Kontinuitäten zu früheren Zeiten aufweist.

Kann man mit so einem Gebilde und seinem Herrscher Verhandlungen führen, gar einen Kompromiss eingehen? Wenn es dem Töten wirklich ein Ende setzen würde, würde man wohl kaum drumrumkommen. Derzeit ist es allerdings durchaus verständlich, wenn manche Überlegungen Richtung Revanche gehen.13 Bis zu Ende durchdacht, scheint das nicht. Zum einen ist der Westen gar keine Kriegspartei, also bisher auch keine Verhandlungspartei, kann also Russland kaum wirklich etwas vorschreiben, auch und gerade bei Friedensverhandlungen nicht. Zum zweiten muss es darum gehen, eine Alternative zum System Putin attraktiv zu machen. Mit demütigenden Friedensbedingungen a la Versaille wird man jedoch kaum neue Partner in Russland jenseits von Pution gewinnen können, auch nicht unter der Bevölkerung. Im Gegenteil würde dadurch einer Dolchstoß- Wagenburg der Weg bereitet. Dafür müsste man angesichts der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert gerade in unserem Land durchaus Verständnis haben. Zum dritten bleiben Russland die Atomwaffen und es bleibt der flächen- und bevölkerungsmäßig größte Staat in Europa. Man sollte sich also nicht überschätzen, wenn es darum geht, die Zeit nach Putin zu bedenken. Es muss also letztlich um eine europäischen Sicherheitsarchitektur gehen, die zumindest als Möglichkeit auch Russland als Partner einbezieht. Wenn es in Russland nach Putin eine Führungsschicht geben soll, die anders denkt, als die alten Männer aus den Tagen des kalten Krieges, müsste ihnen ein konkretes Angebot vor Augen stehen, wie sich die Beziehungen in Europa künftig zum gegenseitigen Vorteil anders gestalten lassen.

Anmerkungen:

1Pressekonferenz in Den Haag am 25.3.2014

https://obamawhitehouse.archives.gov/the-press-office/2014/03/25/press-conference-president-obama-and-prime-minister-rutte-netherlands (19.3.2022)

2 Brezinski; Zbigeniev. Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Frankfurt/Main 2004, 8. Auflage S. 26

3 Brzezinski, S. 44.

4 Brzezinski, S. 48.

5 Brzezinski, S. 123 ff.

6 Brzezinski, S. 137

8 Putins Rede am 21.2.2022 vor dem Einmarsch in die Ukraine. Original mit deutscher overvoice Übersetzung. https://www.youtube.com/watch?v=YTro6S9gCeM (19.3.2022)

9 Putins Rede am 16.3.2022. HuG???

10 Putins Rede am 21.2.2022 vor dem Einmarsch in die Ukraine. Original mit deutscher overvoice Übersetzung. https://www.youtube.com/watch?v=YTro6S9gCeM (19.3.2022)

11 Die Welt 29.6.2015 https://www.welt.de/politik/ausland/article143275321/Wir-haben-einen-neuen-Kalten-Krieg.html (18.3.2022). Seine Schlussfolgerung, der Westen und Moskau müssten ernsthaft miteinander verhandeln, um eine Kompromissformel zu finden, führte möglilcherweise zu Obamas relativ schwachen Reaktion auf die Ukraine-Invasion von 2014. Brzezinski hatte ursprünglich durchaus auf eine Einbindung Russlands gehofft, wollte aber immer vermeiden, dass Russland dabei zuviel Einfluss auf Europa bekäme. Hier könnte auch ein Schlüssel dafür liegen, dass Bill Clinton, wie Putin am 21.2. behauptet hat, ihn bei der Frage nach einer Nato-Mitgliedschaft kühl abblitzen ließ.

12 Christian Neef. In: Der Spiegel

13 Jan C. Behrends. https://russlandverstehen.eu/author/jan-claas-behrends/ (Zugriff 26.3.2022)