Anmerkungen zum vertrauten Wasserglas deutscher Debatten

Was wir jetzt tun können und müssen

 von Anna Leszczynska

22.3.2022

In der Zeit vom 18.3. empört sich Adam Soboczynski über Schriftsteller und „Schwarmgeister“ wie Karl Schlögel oder Katja Petrowskaja, welche die Forderung des ukrainischen Präsidenten Zelensky unterstützen, der Zerstörung ukrainischer Städte durch eine Flugverbotszone Einhalt zu gebieten. Als würden sie -laut Soboczynski- der poetischen Formel „close the sky“ erliegen, ohne mit kühlen Verstand zu begreifen, dass dies der Beginn einer verheerenden Ausweitung des Krieges wäre. Und mit vor Empörung bebender Brust fordern die ehemaligen Präsidenten des deutschen PEN ihren im Oktober gewählten Präsidenten Deniz Yücel zum Rücktritt auf, weil er mit einer Bemerkung auf der lit.cologne zum Ausdruck gebracht hat, dass er eine von der NATO durchgesetzte Flugverbotszone für „eine gute Idee hielte“. Er wird des Verrats an den Idealen des PEN bezichtigt, für ein friedliches Zusammenleben zu einzutreten, ganz so, als würde er den Frieden bedrohen und nicht Putin, der ohne jeden Anlass einen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine entfesselt hat.

 

Das Erschrecken über mögliche Konsequenzen eines direkteren Eingreifens der NATO (indirekt greift sie über Waffenlieferungen ja bereits ein) ist verständlich und vermutlich auch vernünftig; und angesichts der strikten Ablehnung der NATO auch nur einen Schritt zu tun, der als direktes Eingreifen von Russland ausgelegt werden könnte, auch nicht zu befürchten. Dennoch bleibt das Dilemma, dass keiner nach Lage der Dinge sicher sein kann, welche Entscheidung am besten geeignet wäre, Putins aggressiven Expansionismus einzuhegen, der nicht nur auf die Ukraine zielt, sondern auf andere Staaten, die einst Teil des Sowjetimperiums waren. Soviel Bescheidenheit sollten die „Vernünftigen“ schon haben, sich nicht über die intellektuellen „Schwarmgeister“ zu erheben, denn deren Einschätzung von Putin war über Jahre um vieles realistischer und hellsichtiger gewesen als die von allen Vertretern einer angeblich politischen Vernunft zusammengenommen. Eine Mischung aus kalter Interessenpolitik, durchzogen von Korruption, flankiert von verquerer Entspannungsromantik und moralischer Hybris, die für jede politische Blindheit oder Komplizenschaft gegenüber Russland „die Lehren aus der deutschen Geschichte“ bemühte, hat zur Stärkung Putins und seiner Kriegskasse beigetragen, und dazu noch Deutschlands Ansehen in Europa und in der Welt ungeheuer geschadet.

 

Es ist völlig unproduktiv und nützt vor allem der bedrohten Ukraine nichts, wenn jetzt in den Feuilletons eine „Debatte“ vom Zaum gebrochen wird über eine Forderung, der die NATO eine unerschütterliche Absage erteilt hat. Es lenkt nur die Kräfte der Empörung in die falsche Richtung, bindet sie im vertrauten Wasserglas deutscher Debatten, anstatt sie für die Durchsetzung von Forderungen zu nutzen, die nicht die Angst vor einer atomaren Apokalypse heraufbeschwören, aber trotzdem effektiv den Preis für die weitere russische Kriegsführung hochtreiben würden.

 

In einer scharfen Kritik der deutschen Energiepolitik wirft Justyna Schulz, Direktorin des „West-Instituts“ in Posen, Deutschland vor, sich allen Unkenrufen zum Trotz für eine energiepolitische Strategie entschieden zu haben, die Putins Russland zum Angriff auf die Ukraine verholfen habe. Aber jetzt weigere sich Deutschland, so Schulz, einen Teil der Kosten dieser Fehlentscheidung zu tragen, indem es ein gemeinsames Embargo auf Gas- und Öllieferungen aus Russland ablehne. Inzwischen wird diese Fehlentwicklung in der deutschen Energiepolitik auch in Deutschland eingestanden, wenn auch die von Justyna Schulz geforderte Aufarbeitung der Ursachen und Verwicklungen, die dazu geführt haben, bei weitem nicht stattgefunden hat. Auf Dauer wird es nicht reichen, sich schleunigst die Gazprom Trikots auszuziehen, wie Schalke 04 es getan hat, um dann mit Unschuldsmiene Solidarität mit der Ukraine zu verkünden, oder Schröder die Ehrenbürgerschaften abzuerkennen, ohne sich daran zu erinnern, wie man diesen hochbezahlten Putin-Agenten taktvoll als „Gas-Lobbyist“ titulierte, und sich mit ihm durchaus bei Wahlkampf-Veranstaltungen zeigte. Aber zur Zeit steht Dringlicheres an. Wenn man sich nun aber schon in diese missliche Lage einer zu starken Energieabhängigkeit von Russland gebracht hat, wirkt es nicht gerade sympathisch, wenn man sich gegen ein Energie-Embargo mit dem Verweis auf die eigenen Wirtschaftsinteressen sträubt. Müsste nicht die sonst so gerne bemühte „besondere Verantwortung Deutschlands“ in diesem Fall zu mehr Bereitschaft führen, mit einem Energieembargo Putins Kriegskasse auszutrocknen?

 

Allerdings würden Schuldgefühle aufgrund politischer Fehleinschätzungen vermutlich eine solche Bereitschaft nicht fördern, denn sie lösen eher Trotz und Abwehr aus. Eine fruchtbarere Quelle wäre die enorme politische Mobilisierung in der Gesellschaft in Solidarität mit der Ukraine, auch unter jungen Leuten. Für sie bedeutete der Überfall Putins auf die Ukraine den Verlust einer Welt, die sie für sich als gegeben glaubten – einer Welt ohne Krieg, in der sie im sicheren Rahmen einer liberalen Demokratie ihre Zukunftspläne und ihr Engagement für die Gesellschaft entwickeln können. Sie merken, dass sie jetzt existentieller gefordert sind, als sie es bis dahin für möglich hielten, und ihre Bereitschaft, sich dieser Herausforderung zu stellen, ist meines Erachtens groß. So könnte die Regierung, wenn sie beherztere Schritte in Richtung eines Energieembargos unternehmen würde, auf eine breite gesellschaftliche Unterstützung zählen, sofern sie bereit wäre, die Gesellschaft entsprechend zu mobilisieren. Es müssen nicht gleich die Churchill’schen „Blut, Schweiß und Tränen“ sein, aber ein Aufruf zum Energiesparen und vorübergehendem Konsumverzicht fände breiten Widerhall. Es müsste klar kommuniziert werden, dass die Kosten, die das mit sich bringt, unserem Schutz dienen und nicht nur der Solidarität mit der Ukraine.

Denn die Kosten der durch den Krieg provozierten Flüchtlingsströme sowie der drohenden Ernteausfälle sind bereits jetzt enorm, und würden um ein Vielfaches höher, wenn Putin in diesem Krieg obsiegt. Deshalb ist es absolut das falsche Signal, auf Preissteigerungen auf dem Energiemarkt schleunigst mit finanziellen Abfederungen zu reagieren, und sich dann noch weiterhin einem Tempolimit zu verweigern. Anstatt die gesellschaftliche Mobilisierung zu nutzen und die mündigen Bürger für schmerzhafte Schritte zu gewinnen, die nötig sind, wenn unsere Demokratie und Friedensordnung auf Dauer gesichert werden sollen, werden sie wie unmündige Kinder behandelt, die man einlullen muss mit dem illusionären Versprechen dafür zu sorgen, dass ihnen nichts weh tun wird.

 

Ein weiterer Punkt, an dem gesellschaftlicher Druck aufgebaut werden sollte, um die Regierung zu konsequenterem Handeln zu bewegen, betrifft ein generelles Handelsembargo und mehr Durchschlagskraft bei den Sanktionen. In Polen blockieren zur Zeit immer wieder ukrainische und polnische Aktivisten den Warenverkehr an der Grenze zur Belarus, über die dutzende Lastwagen nach Russland rollen. Sie fordern ein vollständiges Handelsembargo für alle Waren aus der EU nach Belarus und Russland mit dem Argument, dass alle Waren, die Russland erreichen, auch zur Versorgung des Militärs dienen können. Die Forderung nach Schließung der europäischen Häfen für russische Schiffe betrifft auch wieder die Probleme der Energielieferungen, denn Öl und Kohle werden zum größten Teil mit Schiffen nach Deutschland transportiert. Auch hier ist deshalb ein Ansatzpunkt, um die Frage eines Handelsembargos mit der deutschen Energiepolitik zu verbinden und mit entsprechendem Druck in die Öffentlichkeit zu tragen.

 

Am 19. März brachte die BILD-Zeitung die Nachricht, dass hinter der Briefkastenfirma, die als Eigner des Luxushotels Sofitel am Opernplatz in Frankfurt (Main) fungiert, die Oligarchen Rotenberg stecken, Putins treueste Freunde, die sogar Strohmänner für Putin persönlich sein könnten. Also Putin als Besitzer eines Luxushotels in Frankfurt? Vielleicht eine Ente, aber möglicherweise eine brisante Information, denn schon 2016 gab es in Zusammenhang mit den Panama-Papers großes Rätselraten um die Besitzverhältnisse dieses Hotels. Und was geschieht? Erstmal nichts. Die Bild-Zeitung treibt schon die nächsten Säue durchs Dorf, der seriöse Journalismus scheint die Information nicht aufzugreifen, und die Stadt reagiert auch auf Anfrage nicht. Das mag alles auf die bekannte Unseriosität der Bild-Zeitung zurückzuführen sein, aber möglicherweise steckt hier ein größeres Problem dahinter. Denn hier geht es nicht nur darum, Vermögenswerte russischer Kleptokraten im Westen aufzuspüren, sondern den verschachtelten Finanzkonstruktionen nachzugehen, von denen eine ganze Service-Industrie westlicher Anwälte und Notare lebt. Sie handeln legal, weil westliche Politik das ermöglicht. Weder russische Giftmorde oder Mordversuche auf dem Boden des stolzen Britanniens, noch der Tiergartenmord in Deutschland haben das Anlageklima für russische Oligarchen in London, München oder am Tegernsee eingetrübt. Folgt der Spur des Geldes! fordert Justyna Schulz. Und nimmt man das bizarre Bild der ehemaligen österreichischen Außenministerin Karin Kneissl, die als ältliche Braut mit ihrem Ehrengast Putin tanzt, als symbolische Verdichtung der korruptiven Unwiderstehlichkeit Wladimir Putins auf die westeuropäischen Eliten, wird deutlich, warum bei den Vermögens-Sanktionen manches schleppend verläuft. Die Aufdeckung und Delegalisierung verschachtelter Transaktionssysteme, die es den Kleptokraten aus aller Welt ermöglichen, sich Filetstücke des ach so verfaulten Westens als Anlageobjekte zu sichern und seine Eliten zu korrumpieren, ist nötig, um auf Dauer eine größere Widerständigkeit westlicher Demokratien zu gewährleisten.

 

Wir sind liberal, aber wir sind keine Idioten, schreibt der polnische Soziologe Maciej Gdula in einem Beitrag für die polnische Zeitschrift „Krytyka Polityczna“ unter dem Titel „Alles, was sich jetzt ändern muss“. Es geht ihm dabei um die Stärkung der Fähigkeit westlicher Demokratien, dem Netz von Einflussagenten und Organisationen, mit dem Russland Westeuropa und die USA in den letzten Jahren überzogen hat, um destruktive Propaganda zu verbreiten, Aufklärung und Wehrhaftigkeit entgegenzusetzen. Die demokratische Wachsamkeit in Deutschland muss sich lösen von der Begrifflichkeit, die um die deutsche Vergangenheit kreist und meint, es sei damit getan, Feinde der Demokratie immer wieder als Nazis oder Antisemiten zu entlarven. Nicht alle, die sich als Propagandisten und Verehrer von Putin betätigen – ob nun als bezahlte Einflussagenten oder aus eigener verquerer Überzeugung – sind Nazis oder Antisemiten. Aber sie sind alle gefährliche Feinde der Demokratie, die mit viel russischem Geld und mit Hilfe russischer Manipulationen im Internet gefördert und aufgebaut werden. Wie sehr die „Querdenker“ mit ihrer verheerenden Unterminierung der Pandemiebekämpfung nicht nur aus rein einheimischen Quellen der Irrationalität schöpften, wird angesichts ihres Nachbetens der russischen Propaganda über den Krieg gegen die Ukraine mehr als deutlich. Wenn dann die AfD im Bundestag plötzlich wie die Speerspitze des deutschen Pazifismus klingt, und wiederum in Polen die faschistischen Jungs, die Kaczynski sich gerne als Schlägertrupps gegen die demokratische Opposition gehalten hat, plötzlich Kundgebungen unter Putins „Z“ abhalten und gegen die ukrainischen Flüchtlinge wettern, die den Polen die Haare vom Kopf fressen, wird erkennbar, wie breit gestreut und ideologisch wenig gebunden die Netze waren, die Putin ausgeworfen hat, um die westlichen Demokratien zu destabilisieren. Nicht nur der Verfassungsschutz muss sich besser auf diese Art von Kriegsführung einstellen, sondern auch die kritische Öffentlichkeit muss realisieren, dass entgegen allen Sehnsüchten nach einem guten Einvernehmen mit Russland, wir es im Moment mit einer feindlichen, antidemokratischen Macht zu tun haben, deren Vorgehen aufgedeckt und angeprangert werden muss.