Putin – zurück in welche Zukunft?

Von Gert Weisskirchen

25. Februar 2022

Der Kreml-Herrscher hat den Vorhang zerrissen. Hinter dem Nebel seiner Wortgebirge taucht in der Fernsehansprache am Morgen des 24. Februar 2022 zur Kriegserklärung als Ziel des Überfalls auf, er antworte auf die Bitte der Rebellen im Osten der Ukraine mit militärischer Hilfe. Menschen seien zu schützen, die mit einem „Genozid“ durch die ukrainische Regierung verfolgt würden. Der Präsident der Russländischen Föderation begegnet dieser selbst konstruierten Behauptung mit dem Satzungetüm: „Dafür streben wir eine Demilitarisierung und Denazifizierung der Ukraine an, außerdem, all jenen den Gerichten zu übergeben, die zahlreiche Verbrechen gegen friedliche Einwohner, darunter auch Bürger der Russischen Föderation begangen haben.“ In die Sitzung des Weltsicherheitsrats platzt die Kriegserklärung wie zum Hohn.

In diesen Stunden greifen Soldaten des russischen „Brudervolks“ Soldaten Kiew an. Das ukrainische „Brudervolk“ leidet. Es wehrt sich gegen den Überfall. Und doch müssen Tausende fliehen. Kollektive Erinnerungen werden wach. Vor einundachtzig Jahren waren die Soldaten der Nazi-Diktatur hier. Sie schlugen fürchterliche Wunden in die Hauptstadt. Ukrainische Landschaften füllten sich mit Blut. Wolodymyr Selenskyi, der russischsprachige jüdische Präsident der Ukraine, kämpft mutig gegen den Kriegsverbrecher Wladimir Putin.

Nach einer offenen Debatte hatten sich die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine in einem Referendum 1991 mit überwältigender Mehrheit für ihre Unabhängigkeit entschieden. Als Beobachter habe ich den Wahlgang begleitet und ihn als fair und getreu der gesetzlichen Bedingungen bewertet. In freier Selbstbestimmung hat die ukrainische Bürgerschaft demokratische Reife bewiesen. Sie hat sich in den einunddreißig Jahren seither für die eigene Demokratie entschieden. Aus ihrer Mitte haben sich lebendige Formen einer selbstbewussten Zivilgesellschaft herausgebildet. Kunst und Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft suchen nach neuen produktiven Lösungen. Gesellschaftliche Konflikte werden nicht unterdrückt. Liberale Journalisten benennen sie und schaffen eine frei diskutierende Öffentlichkeit.

Im Budapester Memorandum von 1994 hat Ukraine auf Atomwaffen verzichtet und Russland hat die Unabhängigkeit der Ukraine anerkannt. Im Vertrag von 1997 haben Russland und Ukraine ihre Freundschaft befestigt. 1997 haben Russland und die Nato ihr Verhältnis zueinander in einer Grundakte gefestigt. Danach werden Atomwaffen in neue Nato-Staaten nicht stationiert. Am 2. April 2004 betonte Wladimir Putin in einer Pressekonferenz mit Gerhard Schröder, die Beziehungen zwischen Russland und der Nato hätten sich „positiv entwickelt“. In einem Treffen mit dem Nato-Generalsekretär erklärte Putin im gleich Jahr 2004, jedes Land hätte ein „Recht seine eigene Sicherheit zu wählen.“ George W. Bush hatte 2008 versucht, Georgien den Weg in die Nato-Mitgliedschaft zu eröffnen. Angela Merkel war es, die diese Entscheidung vereitelte. Auch in den dreiundzwanzig Jahren danach ist allen Beteiligten bis heute klar, dass eine Erweiterung der Nato nicht ansteht. Daran ändert auch der Wunsch Ukraine nichts, auch nicht, obwohl er in die ukrainische Verfassung aufgenommen wurde.

Ein und dreißig Jahre nach ihrer demokratischen Selbstbestimmung benennt Putin die souveräne Ukraine nicht als „Nachbarland“, sondern „untrennbarer Teil unserer eigenen Geschichte und Kultur“. Lenin habe „Ambitionen nationalistischer Eliten befriedigt“ und „willkürlich Sowjetrepubliken auf ethnischer Basis geschaffen“. Er sei „Schöpfer und Architekt“ der Ukraine. Über „Staatlichkeit“ habe sie „nie“ verfügt. Sie kopiere „mechanisch fremde Modelle“, die sie „von ihrer Geschichte entfremden.“ Der russische Präsident verachtet den Aufbau einer eigenständigen ukrainischen Demokratie, die auf einer starken Kultur beruht. Die „Kiewer Rus“ ist älter als die russische kulturelle Tradition.

In welche Zukunft führt Putins Krieg? Von welchen Geschichtsbildern ist sein Denken besessen? Was treibt sein gewalttätiges Handeln an?

Der russische Präsident hat die Schwelle überschritten, die die europäische Friedensordnung trennt von der Barbarei, die spätestens mit der Annahme der Charta von Paris im Jahr 1990 zu einem Ende gekommen schien. Von Helsinki aus begann 1975 mit der Schlussakte ein Weg der wechselseitigen Verständigung. Der Einsatz militärischen Gewalt wurde abgesagt, Streit zwischen den Staaten der KSZE von Vancouver bis Wladiwostok soll friedlich beigelegt werden.

Putins Krieg kündigt die europäische Friedensordnung auf. Mit dem militärischen Angriff auf Kiew will er die ukrainische Demokratie beenden. Die Gewalt des Stärkeren will die Stärke des Rechts umstürzen. Putin verlässt damit die europäischen Werte. Sein Handeln führt zurück in einen imperialen Nationalismus. Putin reißt das „ukrainische Brudervolk“ in den Strudel der Gewalt. Die Ukraine, die sich eigenständig für die Demokratie entschieden hat, soll untergehen. Putin bereitet seinen eigenen Untergang vor.

Die europäischen Demokratien sind aufgerufen, ihre Kraft dem drohenden Untergang entgegenzusetzen. Demokratien sind stärker als jeder Großmachtphantast, stärker als jede autokratische willkürliche Gewalt.