Von verhafteten Generalen, entlassenen Ministern und Geschichte als Influencer

Das gespaltene Verhältnis zwischen Bulgarien und Russland

von Christopher Nehring

Dieser Text ist ein aktualisierte und erweitere Version eines Artikels, die der Verfasser unter dem Titel „Bulgariens gespaltenes Verhältnis zu Russland“ am 3.3.2022 in der Deutschen Welle veröffentlichte (https://p.dw.com/p/47w0Q).

Am 3. März feiert Bulgarien traditionell den "Tag der Befreiung". Er markiert die Gründung des ersten bulgarischen Staates nach rund 500 Jahren osmanischer Fremdherrschaft am 3. März 1878. Die Unabhängigkeit als Folge des russisch-osmanischen Kriegs von 1877/78 ist für viele Bulgaren immer noch ein Ausdruck für die historisch engen Verbindungen zwischen der damals antiosmanischen Kriegspartei Russland und ihrem eigenen Land. In diesem Jahr stand der 3. März in Bulgarien jedoch ganz im Zeichen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Doch die Reaktionen sind gespalten.

 

Als Premierminister Kiril Petkow am Mittag des 3. März die Stufen zum "Denkmal der Freiheit" am Berg Schipka hinaufstieg, erwartete ihn ein frostiger Empfang. Das hatte nicht nur mit den eiskalten Schneeböen zu tun, sondern mit einer Delegation von Nationalisten der Partei "Wiedergeburt", die Petkow mit Schneebällen, russischen Fahnen und "Verräter"-Rufen empfingen. Petkow, ein in Harvard studierter Unternehmer, der seit Dezember eine reformorientierte Vier-Parteien-Koalition leitet, steht nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine an der Seite von NATO und EU.

 

Nur einen Tag zuvor, am 2. März, legte die russische Botschafterin Eleonora Mitrofanowa ebenfalls einen Kranz an dem "Denkmal der Freiheit" nieder. Sie wusste genau, was sie tat. Bereits Anfang Februar sprach Mitrofanowa im bulgarischen TV von der "gemeinsamen russisch-bulgarischen Geschichte als wichtigstem Influencer in den unseren Beziehungen". Am 3. März dann legte Mitrofanowa nach und verglich den "Tag der Befreiung" in Bulgarien mit Putins Einmarsch in die Ukraine, der, so Mitrofanowa, auch dort die Freiheit bringen solle. Wie in anderen Ländern auch, instrumentalisiert Moskaus Außenpolitik in Sofia historische Ereignisse, um das Land zu spalten. Und wie in anderen Ländern auch, sind es in Bulgarien vor allem die Ex-Kommunisten und die Nationalisten, die offen für Russland und Putin Partei ergreifen.

 

Dass Mitrofanowa bereits am 2. März ihren Besuch am Berg Schipka inszenierte, hatte jedoch auch einen anderen Hintergrund: Nicht nur, dass sie auf der offiziellen Feier am 3. März nicht erwünscht war, sondern sie entging so auch einem unangenehmen Termin. Denn am Nachmittag des 2. März klickten in der Hauptstadt Sofia die Handschellen. Ein bulgarischer General wurde wegen Spionage für Russland verhaftet. Angeleitet hatten ihn Agenten aus Mitrofanowas Botschaft, weswegen das bulgarische Außenministerium umgehend Moskaus Gesandte in Sofia einbestellte.

 

An diesem 3. März 2022 war das bulgarisch-russische Verhältnis gespalten wie zu kaum einem anderen Zeitpunkt seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Ebenfalls am 2. März hatte Premierminister Kiril Petkow nämlich seinen Verteidigungsminister wegen pro-russischen Äußerungen entlassen müssen. Darüber hinaus verhaftete die Polizei in Bulagariens Hauptstadt Sofia pro-ukrainische Demonstranten und in der Bevölkerung scheint die Stimmung zu kippen. Das NATO- und EU-Mitglied Bulgarien, im Kalten Krieg ein als "16. Sowjetrepublik" verschriener treuer Vasall Moskaus, steht vor einer Zerreißprobe.

 

 

 

 

Der Abgang des Verteidigungsministers

 

"Kein Minister hat das Recht auf eine eigene Außenpolitik über Facebook, kein Minister darf eine Belastung der Koalitionsregierung sein und kein Minister kann die Ereignisse in der Ukraine anders nennen als 'Krieg'." Mit diesen Worten erklärte der bulgarische Premier Kiril Petkow am Dienstag, dem 1. März, im Parlament die Entlassung von Verteidigungsminister Stefan Janew. Dieser hatte am Wochenende in einem Facebook-Post von einer "russischen Operation" - nicht von Krieg - in der Ukraine gesprochen. Dabei bezog er sich explizit auf Wladimir Putins Sprachregelung. Bereits im Dezember hatte sich Janew - ebenfalls auf Facebook - gegen eine Stationierung von NATO-Truppen in Bulgarien ausgesprochen; und im Januar hatte er in einer Ansprache im bulgarischen Parlament vor der "ausländischen Presse" gewarnt. Diese würde die Bevölkerung dazu verleiten, den russisch-ukrainischen Konflikt nicht aus dem Blickwinkel des "nationalen Interesses" zu betrachten. Auch nach seiner Entlassung zeigte sich Janew wenig zum Umdenken bereit und rechtfertigte sich - wiederum auf Facebook - damit, dass er alleine einem nicht weiter definierten "nationalen Interesse" diene. Sowohl die Regierung als auch bulgarische Expertenkreise sind sich darin einig, dass Janew damit implizit forderte, Bulgarien solle sich aus dem Konflikt heraushalten und nicht - wie EU- und NATO-Verpflichtungen bedingen - der klaren Position des Westens gegen Putins Krieg anschließen. Gleichzeitig kündigte er an, mit einem eigenen "politischen Projekt" zurückkehren zu wollen.

 

Symbolisch steht der Fall Janew für die innere Zerrissenheit der erst im Dezember angetretenen Regierung. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine wird es für Petkow immer schwerer, die Spannungen zwischen den pro-russischen Sozialisten und pro-westlichen Reformen zu moderieren. In letzter Sekunde musste der bevorzugte Kandidat für die Nachfolge Janews, Todor Tagarew, durch den für die Sozialisten annehmbaren Dragomir Zakow ausgetauscht werden. Unterdessen stimmten die Abgeordneten der bulgarischen Sozialisten sowohl im bulgarischen, als auch im EU-Parlament gegen Russland-Sanktionen und gegen das Verbot der russischen Propagandasender RT und Sputnik. "In ihrer Rhetorik verurteilen die bulgarischen Sozialisten die russische Invasion der Ukraine, aber sie stellt sich sowohl gegen Sanktionen als auch gegen Militärhilfe für Kiew. Ihre grundsätzlich pro-russische Orientierung unterscheidet sie von den anderen Regierungsparteien", schätzt Dr. Rumena Filipowa, Direktorin des Institute for Global Analysis in Sofia, ein. "Dieser Konflikt hat das Potential, die Regierung zu sprengen, sollten sich die Bulgarischen Sozialisten aus der Regierungskoalition zurückziehen", so Filipowa weiter.

 

Ein rotes Tuch für die Sozialisten könnten Waffenlieferungen Bulgariens an die Ukraine sein. Die Frage nach der Lieferung militärischen Geräts an Kiew führte bereits zu hitzigen Diskussionen. Angefangen hatten diese nach den Aussagen von EU-Außenkommissar Josep Borell, wonach die EU versuchen wolle, der Ukraine Kampfflugzeuge des Typs „MIG“ zu liefern. Diese Altbestände aus Sowjetzeiten sind nur noch in wenigen NATO-Ländern im Einsatz. Bulgarien ist eines davon. Doch Premierminister Petkow dementierte vehement jegliche Gerüchte über Waffenlieferung, unter anderem mit der Begründung, dass das Land selbst zu wenig der hoffnungslos veralteten MIGs habe, um sie anderen Ländern zu überlassen. So wird der bulgarische Luftraum unterdessen hauptsächlich durch spanische NATO-Einheiten überwacht, die im Februar aus Torrejon auf den Stützpunkt Graf Ignatiewo 150 Kilometer westlich von Sofia verlegt worden waren.

 

Widerstand gegen den transatlantischen Kurs der Regierung Petkow kommt auch von der ultra-nationalistischen Partei "Wiedergeburt". "Ihre extremen Positionen bei der Abschaffung aller Covid-Maßnahmen, der Blockade des EU-Beitritts Nordmazedoniens und ihre pro-russische Haltung stoßen auf breite gesellschaftliche Zustimmung. Damit setzen sie die Regierung unter Druck, die ihnen gegenüber Konzessionen macht", sagt Filipowa. Die Schneebälle, mit denen Anhänger von "Wiedergeburt" am 3. März auf dem Berg Schipka begrüßten, dürften nur ein Vorgeschmack auf das gewesen sein, was sie im Falle bulgarischer Militärlieferungen für Kiew planen.

 

Bulgarischer General als russischer Spion?

 

Zurück nach Sofia. Dort war der neue Verteidigungsminister kaum vereidigt, da sorgte am 2. März bereits der nächste Skandal für Aufsehen. Ein bulgarischer General, bei dem es sich nach übereinstimmenden bulgarischen Medienberichten um den General der Reserve und stellvertretenden Vorsitzenden der Vereinigung des bulgarischen Heeres, Walentin Tsankow, handeln soll, wurde wegen Spionage für Russland verhaftet. Das bulgarische Außenministerium bestellte die russische Botschafterin ein und kündigte die Ausweisung von zwei russischen Diplomaten an. Wie schon vor einem Jahr, als bulgarische Sicherheitsbehörden einen Spionagering im bulgarischen Verteidigungsministerium und dem militärischen Geheimdienst aufdeckten, sollen als Diplomaten getarnte Agenten in der russischen Botschaft die Kontaktleute des bulgarischen Spions gewesen sein. Diese haben Bulgarien bereits verlassen.

 

General Tsankow ist dabei kein Unbekannter. 2011 musste er als Militärattaché aus Washington abberufen werden, nachdem die bulgarische Kommission für die Stasi-Unterlagen bekannt gab, dass Tsankow in den 1980er Jahren Mitarbeiter des kommunistischen Militärgeheimdienstes war und in Moskau ausgebildet wurde. Bewahrheiten sich die Anschuldigungen gegen Tsankow, dem vorgeworfen wird, bereits seit 2016 für Russland zu spionieren, wäre der Fall ein erneuter Beweis für die seit dem Kalten Krieg anhaltende russische Unterwanderung bulgarischer Sicherheitsbehörden. "Teile der bulgarischen Armee und der Generalität haben schon des Öfteren mit ihren pro-russischen Äußerungen für Irritationen gesorgt und ihre Loyalität gegenüber der NATO ist fragwürdig", schätzt die Expertin Rumena Filipowa ein.

 

Für Irritationen sorgte auch, dass der umstrittene Generalstaatsanwalt Iwan Geschew die Verhaftung Tsankows am Morgen des 2. März über Twitter bekannt gemacht hatte. Geschew steht seit Jahren unter heftiger Kritik der bulgarischen Opposition und des EU-Parlamentes, die ihn für die grassierende politische Korruption verantwortlichen machen. Seine Abberufung ist eine der höchsten Prioritäten der Reformregierung Petkows, deren Justizministerin Nadeschda Jordanowa just am selben Tag ein Amtsenthebungsverfahren gegen Geschew im Parlament einleitete. In seiner Twitter-Nachricht verwies Geschew ausdrücklich darauf, dass der Fall des verhafteten Generals erneut zeige, wie wichtig seine Arbeit sei. Geschews Gegner, wie zum Beispiel der Co-Vorsitzender der Regierungspartei "Demokratisches Bulgarien", Atanas Atanasow, warf Geschew vor, einen "alten Spionagefall aufzuwärmen", um im Angesicht des russischen Angriffes auf die Ukraine gut dazustehen.

 

Kippt die öffentliche Meinung?

 

Nicht nur Sozialisten, Nationalisten und der Sicherheitsapparat sind in Bulgarien traditionell russlandfreundlich. Auch in der Bevölkerung gibt es traditionell große Sympathien für Russland und Wladimir Putin. Nach Umfragen des Sofioter Meinungsforschungsinstitut Alfa Research hatten rund 50 Prozent der bulgarischen Bevölkerung Anfang des Jahres 2022 eine positive Meinung von Wladimir Putin. Im Sommer 2021 waren es gar 58 Prozent. Anfang Februar sahen hingegen nur 40 Prozent Bulgariens NATO-Mitgliedschaft als positiv und nur 28 Prozent sahen angesichts des aufziehenden Kriegs ein größeres NATO-Engagement als Garant für die Sicherheit des Landes.

 

Doch Russlands Angriff auf die Ukraine scheint die Sympathien in der Bevölkerung zu verschieben: Vier Tage nach dem russischen Überfall sanken einer Umfrage von Alfa Research zufolge die Sympathiewerte Putins auf 32 Prozent. "Der Krieg ändert die öffentliche Meinung drastisch", bewerteten die Analysten von Alfa Research. Doch 32 Prozent sind im europäischen Maßstab immer noch erstaunlich viel. Ob es sich um einen echten Meinungsumschwung handelt oder nur um leichte Verschiebungen, wird erst die Zukunft zeigen.

 

Der Gegensatz zwischen "Russophilen" und "Russophoben", wie die pro- und anti-russischen Lager in der bulgarischen Gesellschaft genannt werden, zeigt sich unterdessen auch an einem alten, hochgradig symbolischen Streit um das Denkmal für die Sowjetische Armee im Zentrum Sofias. Für Russland-Sympathisanten ist es ein Symbol der Befreiung vom Faschismus, pro-westliche Bulgaren hingegen sehen es als Symbol der jahrzehntelangen Unterdrückung durch die Sowjetunion. Seit 1993 soll es versetzt werden, was sich aber nicht zuletzt dank zahlreicher Fürsprecher immer wieder verzögert. Vor allem das Relief des Denkmals wurde immer wieder Ziel von Protest- und Kunstaktionen. Für weltweite Schlagzeilen sorgte zum Beispiel der Aktion des Künstlerkollektivs "Creative Destruction". Sie sprühten Soldaten des Reliefs nach der russischen Besetzung der Krim an und machten sie ironisch zu Superhelden aus dem Marvel-Comic-Universum.

 

Am ersten Wochenende nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine kam es hier auch zu zahlreichen Demonstrationen gegen den russischen Angriff. Einige besprühten das Relief des Denkmals in den ukrainischen Nationalfarben Blau und Gelb und brachten Schriftzüge wie "Ehre der Ukraine!" und "Putler - raus aus der Ukraine!" an. In jeder Nacht seit Beginn des Krieges musste das Denkmal wieder gereinigt und die Polizeipräsenz erhöht werden. Drei Demonstranten, die "Save Ukraine" auf das Denkmal gesprüht hatten, wurden gar verhaftet, wie der bulgarische Innenminister Boyko Raschkow am 2. März bekanntgab. Als "verstörend" und "unerträglich" bezeichnete Raschkow das Vorgehen der Polizisten, die die drei Minderjährigen über Nacht festgehalten hatten, ohne ihre Eltern oder Anwälte zu informieren. Mindestens einer der beteiligten Polizisten wurde daraufhin entlassen.

 

Quo vadis Bulgarien?

 

Ohne in den russischen Krieg direkt involviert zu sein, kostete Bulgarien alleine die erste Kriegswoche einen Minister, einen General, viel gesellschaftlichen Zusammenhalt und einiges an internationalem Ansehen. Wohin sich das Land entwickeln wird, ist derzeit offen. Die Regierung bekennt sich zu EU und NATO, steht zuhause jedoch unter dem massiven Druck einflussreicher pro-russischer Kräfte. Am diesjährigen "Tag der Befreiung" am 3. März ist das bulgarische Verhältnis zu Russland ambivalenter als je zuvor. Der russische Einmarsch in der Ukraine bringt das ganze Ausmaß der inneren und äußeren Spaltung Bulgariens zum Vorschein.