Werner Schulz

Zur letzten Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/die Grünen lag ein Dringlichkeitsantrag zur Waffenlieferung an die Ukraine vor. Er wurde von vielen aus unserer Partei unterzeichnet, aber auf Drängen des Bundesvorstandes vom Antragsteller zurückgenommen. Die Begründung war, dass eine Befürwortung oder eine Ablehnung unsere Außenministerin in Schwierigkeiten bringen könnte. Demnach würde eine Zustimmung zu einem Konflikt mit unseren Koalitionspartnern führen, während eine Ablehnung ihre Handlungsfähigkeit einschränkt.

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Mich hat das stark an unseren Vereinigungsparteitag 1993 in Leipzig erinnert. Damals wollte die Bundestagsgruppe das Thema Blauhelmeinsatz in Bosnien diskutieren. Der designierte Parteivorstand bat aber darum die Regie und Harmonie der Veranstaltung nicht zu gefährden und das Thema auf den nächsten Länderrat zu verschieben. Das geschah und es folgten der Sonderparteitag 1993 in Bonn und jahrelange Auseinandersetzungen bis hin zum Farbbeutelanschlag auf dem Sonderparteitag 1999 in Bielefeld, wo die deutsche Beteiligung an einem Nato- Einsatz im Kosovo Konflikt beschlossen wurde. Diese leidenschaftlichen Debatten um Deutschlands Rolle in der Welt, die wir, wie uns bescheinigt wurde, stellvertretend für die Gesellschaft führten, hatten uns verändert und in der Regierungsverantwortung pragmatisch reifen lassen. Mit anderen Worten: wie waren schon mal weiter. Zumal heute nicht nur reden, sondern handeln gefragt ist.

Letzten Samstag fand in Berlin und anderen Städten ein Europäischer Tag der Solidarität mit der Ukraine statt. Außer Rebecca Harms, Eva Quistorp und etlichen Bürgerrechtlern von Bündnis 90 waren keine offiziellen Vertreter*innen von Bündnis 90/Die Grünen anwesend. Ich hoffe, das hat keine symbolische Bedeutung und eher andere Erklärungsgründe. Da ihr meine Rede nicht gehört habt, möchte ich euch hiermit meine Überlegungen zur Kenntnis und zum Nachdenken geben.

Seit Wochen wird das Thema der drohenden russischen Aggression gegen die Ukraine in allen Medien und Talkshows rauf und runter diskutiert. Nur nicht in unserer Partei. Außer das die militärische Drohkulisse inakzeptabel ist und ein Angriff auf die Ukraine einen hohen Preis hätte, ist nichts Konkretes zu hören. Das mag taktische Gründe haben. Scheint aber Präsident Putin nicht sonderlich abzuschrecken.

Sicher die Diplomatie muss weiter gehen. Aber es fehlt nicht am Dialog, an Gesprächsformaten. Doch Reden ersetzt keine Sicherheitspolitik. Sie sind so unergiebig und hinauszögernd lang wie der weiße Tisch im Kreml. Meist sind es Gespräche mit Gehörlosen. Putin geniest süffisant diese Pendeldiplomatie, wie sich die westlichen Politiker die Klinke in die Hand geben und sein Telefon belegen, um ihn zu beruhigen und Kompromisse auszuloten, während er alle verschaukelt und den Druck erhöht. Erreicht hat er bereits, dass sich die Welt um ihn dreht und die Mächtigen ihm Respekt erweisen. Auch wenn sie wie Bittsteller am Zarenhof wirken. Doch statt der erhofften Entspannung hat Präsident Putin mit der Anerkennung der okkupierten Separatistengebiete als unabhängige Staaten und der Entsendung weiteren Militäreinheiten die Eskalation auf die Spitze getrieben. Erneut hat dieser unberechenbare Autokrat, während der Westen noch dabei war ein Sanktionspaket auszutarieren, alle überrascht.

„Meinst du, die Russen wollen Krieg“ – heißt ein berühmtes Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko. Sicherlich wollen sie das nicht. Aber ihr Präsident führt Krieg und droht unverhohlen damit ihn auszuweiten. Noch wird darüber gerätselt, was er tatsächlich vorhat. Ob er nur blufft, um seine politischen Forderungen durchzusetzen oder ob das Einsammeln russischer Erde weitergeht? Es ist ein Nervenkrieg. Eine Art Russisch Roulet an der Schläfe der Ukraine. Niemand weiß genau, ob und wann er abdrückt und ob es knallt. Klar ist nur, die Waffe ist geladen.

Wie lange wollen wir dieser gefährlichen Provokation und dem fortwährenden Bruch des Völkerrechts durch den russischen Präsident Putin noch zuschauen?

Die politischen und finanziell-wirtschaftlichen Sanktionen haben bisher wenig Wirkung gebracht und den Kreml nicht umstimmen können. Im Gegenteil, sie haben den Propagandamythos einer von Feinden umzingelten und unbezwingbaren Nation gestärkt und die wirtschaftlichen Beziehungen zu China vertieft.

Die Unsicherheit die Putin verbreitet wird erst durch unsere eigene Schwäche zur wirklichen Gefahr. Durch ständige Zugeständnisse. Wobei sich ein Nachgeben gegenüber gewaltbereiten Machthabern in der Geschichte oft als folgenschwerer Fehler erwiesen hat. Der angedroht hohe Preis ist längst in Putins Überlegungen einkalkuliert. Er hätte allerdings auch einschneidende Auswirkungen auf unserer Seite, über die niemand gern redet. GAZ-Putin hat einen langen Arm. Denn was ist schon die Nato-Osterweiterung gegen die Westausdehnung von GAZPROM und die von Gerhard Schröder eingebrockte Energieabhängigkeit.

Anstatt den Ereignissen hinterher zu laufen, müssen wir der Westen, die Nato, die EU endlich vom Reagieren zum Agieren übergehen.

  1. Rückkehr zum Völkerrecht

Mit der Annexion der Krim, der verdeckt geführten Aggression in Donbass, dem dort seit acht Jahren geführten Krieg und dem Bruch des Minsker Abkommens hat Russland mehrfach das Völkerrecht gebrochen. Vor allem die „Pariser Charta“ von 1990, in der die 35 Unterzeichnerstaaten sich verpflichteten, sich jeder gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete Androhung oder Anwendung von Gewalt zu enthalten. Auch die von Russland unterzeichnete UNO-Charta und das darin verbriefte Kriegsverhütungsrecht wurde verletzt, das nach den schlimmen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts sowohl die Gewaltanwendung als auch die Androhung von Gewalt gegen andere Staaten untersagt. Dort steht in Artikel 2, Punkt 4.:

Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.

Der ungeheure und beängstigende Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze, das zusätzliche Manöver mit strategischen Nuklearwaffen und die Betonung eines Erstschlagrechtes stehen dazu im krassen Widerspruch. Auch die demonstrativ geschaffenen Voraussetzungen, jederzeit und ohne Vorwarnungen die Ukraine angreifen zu können. In diesem Zusammenhang steht auch die unverschämte Drohung, dass es eine „militärisch-technische“ Antwort darauf geben werde, wenn die USA die Kernforderungen Russlands nicht erfüllen. Präsident Putin hat die Ukraine in Geiselhaft genommen, um seine riskanten Ziele durchzusetzen. Was die russische Seite in den letzten Wochen inszeniert hat, stammt aus dem Drehbuch des modernen Krieges: massive Truppenaufmärsche, Kriegspropaganda und Desinformationen im Staatsfernsehen und im Internet, ein angeblich von der Ukraine geplanter „Genozid“, Cyberattacken und diplomatische Täuschungsmanöver – alles Bestandteile einer hybriden Kriegsführung.

Anstatt Putin mit einzigartigen und unvergleichbaren Wirtschaftssanktionen zu drohen, sollten wir ihm besser vor Augen führen was es für ihn und sein Land bedeutet, wenn er sich nicht mehr an das Völkerrecht hält und wir ihm eine Lektion erteilen. Dazu gibt uns der Vertrag von Montreux eine wirksame Handhabe. Er wurde 1936 neben Frankreich, Großbritannien, Griechenland und der Türkei auch von der Sowjetunion unterzeichnet und regelt noch heute die Durchfahrt von Kriegsschiffen durch den Bosporus. Doch die Sowjetunion gibt es nicht mehr, weswegen dieser Schiffsverkehr mit Russland neu verhandelt werden sollte. Bis zum Abschluss eines neuen Vertrages sollte die Nato die Durchfahrt von Kriegsschiffen verhindern. Damit wäre die Schwarzmeerflotte blockiert und die Verlegung weiterer Truppen und Kriegswaffen durch Landungsschiffe auf die Krim gestoppt. Gleichzeitig und damit verbunden sollte die Rückgabe der Krim, mit ihrem Sonderstatus in der Ukraine, die vertragsgemäße Stationierung der Schwarzmeerflotte und der Rückzug russischer Truppen aus dem Donbass verhandelt werden. Allein das ist die Sprache, die Putin versteht.

  1. Einhaltung des Budapester Memorandums

Präsident Putin verlangt Sicherheitsgarantien für sein Land und ist seit Jahren dabei die Sicherheitsarchitektur Europas zu zerstören. Seine ultimativen Forderungen ignorieren das Selbstbestimmungsrecht souveräner Staaten und haben das Ziel Einflusssphären unter russischer Hegemonie zu schaffen und Europa neu aufzuteilen. Doch die angestrebte Eurasische Union lässt sich nicht durch Gewalt schaffen und zusammenhalten, so wie es die Sowjetunion mit ihren „Bruderstaaten“ getan hat. Bevor die von ihm aufgeworfenen Fragen auf einer möglicherweise KSZE Folgekonferenz, einem Helsinki II, geklärt werden können, ist es an Russland durch die Rückkehr zum Budapester Memorandum von 1994 wieder Vertrauen zu schaffen.

Damals war die Ukraine die dritt größte Atommacht der Welt. Freiwillig hat sie diese Waffen zur Vernichtung abgegeben. Dieser Verzicht war und ist bisher eine historisch einzigartige Abrüstungsleistung. Im Gegenzug garantierten die USA, Großbritannien und Russland der Ukraine die volle Souveränität und territoriale Integrität. Der Bruch dieser Garantien durch Russland hätte schon längst Konsequenzen haben müssen. Die Nachgiebigkeit der anderen Signatarstaaten hat Putin ermuntert seine Aggression fortzusetzen.

Es gibt keinen Konflikt, den die Ukraine mit Russland hat. Sondern es gibt einen Krieg, den Russland seit acht Jahren gegen die Ukraine führt. Anfangs verdeckt, wie die Invasion auf der Krim. Mittlerweile als verheerenden Stellungskrieg mit ständigen Scharmützeln. Wer kürzlich im Donbass war bekommt den Eindruck der 2. Weltkrieg sei noch nicht zu Ende. Unheimlich viel Zerstörung und Leid. 14 Tausend Tote und über zwei Millionen Geflüchtete. Erneut wurde das Minsker Abkommen gebrochen, um einen Vorwand für den weiteren Vorstoß russischer Kampftruppen zu schaffen. Ohnehin ist es ein fragwürdiges Abkommen, das von der Ukraine mit der Pistole auf der Brust erpresst wurde und die territoriale Abtrennung des Donbass zum Ziel hatte.

  1. Waffenlieferungen an die Ukraine

„Wir liefern keine Waffen in Krisengebiete; wir liefern keine letalen Waffen an die Ukraine“ lautet das Mantra der Bundesregierung. Aber mit 5000 Helmen und Paintball Guns, womit man die Aggressoren farblich markieren kann, ist der Ukraine nicht geholfen. Die Ablehnung von Waffenlieferungen ist nicht ehrlich und auch nicht überzeugend. Wahr ist: Wir liefern Waffen in den Nahen Osten, an Ägypten, an Saudi-Arabien. Wir haben die kurdischen Peschmerga mit Waffen und der Ausbildung an diesen Waffen im Kampf gegen den IS unterstützt. Wir würden Waffenlieferungen an Israel nie verweigern. An einen Staat, in dem die Überlebenden und Nachkommen der Shoa leben und dessen Existenzrecht deutsche Staatsräson ist.

Aber was ist das für eine Geschichtsvergessenheit? Wie können wir übersehen, dass der Holocaust auf dem Territorium der heutigen Ukraine stattfand. Das Massaker von Babyj Jar und andere Vernichtungsaktionen. Von den 2,7 Millionen ukrainischen Juden fielen während des 2. Weltkrieges 1,5 Millionen dem Holocaust zum Opfer. Ein Land, das durch diesen Krieg fast die Hälfte seiner Bevölkerung verloren hat. Ein Opferland, ein Bloodland, das aus verbrannter Erde wieder auferstanden ist. Meine Generation, die Generation unserer Kinder trägt daran keine Schuld, aber wir haben verdammt nochmal die historische Verpflichtung, das Existenzrecht dieses geschundenen Landes ebenfalls zu sichern. Notfalls auch mit Waffen zur Selbstverteidigung.

Der Hilferuf von Meir Stambler, dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinden in der Ukraine, dass die Juden Waffen zur Selbstverteidigung brauchen, hat mich an ein Gespräch mit Marek Edelmann erinnert, den letzten überlebenden Kommandanten des Aufstandes im Warschauer Getto. Mitte der 90er Jahre, als wir bei den Bündnisgrünen heftige Debatten zum Blauhelmeinsatz in Bosnien hatten, sprach ich mit ihm und er sagte mir: „Wir jungen Juden wollten uns nicht widerstandslos in die Gaskammern von Auschwitz deportieren lassen. Dass Einzige, worum wir damals gefleht haben, waren Waffen zur Selbstverteidigung. Doch weder die Alliierten noch die polnische Untergrundarmee haben uns diese gegeben. Dennoch haben sich meine Brüder und Schwestern mit allem was sie hatten gewehrt.“

Es geht um Selbstverteidigung. Und es wäre gut, wenn unsere Regierung ihre politischen Grundsätze für den Waffenexport kennen würde. Dort steht nämlich unter römisch II Punkt 7: „die Lieferung von Waffen werden nicht in Länder genehmigt, die in bewaffnete Auseinandersetzungen verwickelt sind oder wo solche drohen… Sofern nicht ein Fall des Artikels 51 der UN-Charta vorliegt.“

Genau das ist der Fall. Dieser Artikel 51 gibt jedem UN-Mitgliedstaat das Selbstverteidigungsrecht gegen einen bewaffneten Angriff. Wir hätten also längst Abwehrwaffen liefern müssen und können nur hoffen, dass wir damit nicht zu spät kommen. Militärisch können und wollen wir nicht eingreifen. Doch wenn wertegeleitete Außenpolitik sich beweisen muss, dann sollte sie hier und jetzt zum Tragen kommen. Die Ukraine bittet uns um Abwehrwaffen. Wir dürfen sie ihnen nicht verwehren. Es wäre unterlassene Hilfeleistung.

  1. Widerlegung der Schimäre des gebrochenen Nato-Versprechens

Angeblich würde sich Russland von der Nato-Osterweiterung bedroht fühlen, behauptet Präsident Putin. Doch die Nato ist ein Verteidigungsbündnis und keine Bedrohung für Russland. Wie oft wurde dieser Satz schon gesagt. Das Zentrum für politische Schönheit sollte ihn in goldenen Lettern aus Russischbrot an die Kremlmauer kleben und den Putinverstehern von Gauland bis Wagenknecht ins Stammbuch schreiben.

Als Putin 2001 im Deutschen Bundestag sprach hatte er dieses Bedrohungsgefühl noch nicht. Da hat er den Kalten Krieg für beendet erklärt. 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz hat er ihn in einer Brandrede wieder eröffnet und das alte Feindbild Nato aufpoliert. Die Nato hätte ihr Versprechen gebrochen sich nicht nach Osten auszudehnen.

Doch das ist eine Schimäre, eine russische Propagandalüge, die leider auch immer wieder durch unser Land wabert. Es gab nie eine solche Abmachung oder Vereinbarung. Das hat Michael Gorbatschow mehrfach bestätigt. Ihm wurde vorgeworfen, dass er die Beteuerungen von US-Außenminister Baker und Außenminister Genscher nicht vertraglich fixiert hat. Es sei kein Thema gewesen, sagt Gorbatschow. Im Rahmen der 2 + 4 Verhandlungen ging es allein um die Nato- Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands, dessen Ostgrenze noch nicht völkerrechtlich ratifiziert war. Noch gab es die sozialistischen Staaten und den Warschauer Pakt. Erst Jahre später war es der dringende Wunsch der souveränen ost- und mitteleuropäischen Staaten der Nato und EU beizutreten.

Auch Russland wurde diese Mitgliedschaft angeboten. Doch Präsident Jelzin hielt diesen Schritt noch nicht für reif. Zur Vertrauensbildung wurde darum 1997 die Nato- Russland Grundakte über gemeinsame Sicherheit beschlossen. Darin hat Russland die Ausweitung der Nato anerkannt. Zur Vertrauensbildung bekam Russland einen Sitz und Dauerzutritt zum Nato-Hauptquartier und richtete dort einen militärischen und diplomatischen Stab ein. Es wurde der Nato-Russland-Rat geschaffen und Russland wurde zu allen relevanten sicherheitspolitischen Fragen und Entscheidungen konsultiert. Die Nato sicherte zu weder Atomwaffen noch Truppen in die neuen Beitrittsländer zu verlegen. Das heute Truppenteile ins Baltikum entsandt werden hängt allein mit Russlands aggressiver Politik und der Annexion der Krim zusammen und dass diese Nato-Mitgliedsstaaten dringend darum gebeten haben, weil sie sich bedroht sehen. Manche halten diese Ängste für übertrieben. Aber wer bedroht hier eigentlich wem? Schaut man auf die Landkarte, grenzt die Nato im Norden Norwegens und entlang der wenig gesicherten Staatsgrenze von Estland und Lettland an Russland. Andererseits besitzt Russland mit Kaliningrad eine hochgerüstete Enklave inmitten der EU, wo bereits moderne Mittelstreckenraketen aufgestellt wurden.

Die ersten Nato-Beitritte erfolgten 1999 - Polen, Tschechien, Ungarn. Die baltischen Staaten folgten 2004. Alle in der Zeit der rot-grünen Regierung. Doch nie hat man zu der Zeit aus der Männerfreundschaft Schröder-Putin irgendwelche Klagen gehört.

Die letzte große Osterweiterung der Nato ist quasi 18 Jahre her. Warum Russland ausgerechnet jetzt deren Rückzug aus Osteuropa fordert ist nicht nachvollziehbar.

Aus Rücksicht auf russische Einwände haben Frankreich und Deutschland 2008 dafür gesorgt, dass die Annäherung der Ukraine und Georgiens an die Nato aufgeschoben wurde. Das war ein großer Fehler. Denn danach gab es militärische Angriffe auf Georgien und die Ukraine. 2012 legte die Nato sogar ihre Pläne für eine gemeinsame mit Russland betriebene Raketenabwehr auf Eis, weil Russland darin eine Beeinträchtigung seiner Abschreckungsfähigkeit sah. Putin fürchtet nicht die Nato. Das ist ein konstruierter Vorwand für seine aggressive Politik.

  1. Was Putin wirklich fürchtet

Putin fürchtet die Demokratie und den Rechtsstaat. Daran würde sein autokratisches System und die permanente Kleptokratie zerbrechen. Es ist sein Dresdner Trauma. Als er als KGB-Agent staunend erleben musste, wie die friedliche Revolution ein felsenfest sicher geglaubtes und bis an die Zähne bewaffnetes Regime zum Einsturz brachte. Ein Trauma, dass sich mit den Farbrevolutionen in den Postsowjetstaaten wiederholte und er 2004 die Gefahr sah, dass die orangene Maidan-Revolution auf den Roten Platz in Moskau überschwappen könnte. Von da ab und mit dem Erstarken der russischen Zivilgesellschaft hat er versucht die innenpolitischen Probleme durch eine angebliche Bedrohung Russlands zu kaschieren. Nach der gefälschten Duma-Wahl 2011 und dem Zwischenspiel mit seinem Platzhalter Medwedjew und den daraufhin enormen Protesten im gesamten Land hat er schrittweise bis hin zur physischen Liquidierung die Opposition ausgeschaltet. Das geht so weit, dass selbst die von Andre Sacharow gegründete und hoch anerkannte Menschenrechtsorganisation „Memorial“, welche die Verbrechen der Stalinzeit aufklärt, unlängst verboten wurde.

  1. Eindämmung des gefährlichen völkischen Nationalismus

Überall, wo Russen wohnen, sei Russland behauptet Putin. Um das auszuweiten, wurden auf der Krim und in der Ostukraine russische Pässe ausgeben. Allein 720 Tausend im Donbass. Neu Russland, wie die Putin-Anhänger sagen, die jetzt in der Duma dafür gestimmt haben, dass die Separatistengebiete Lugansk und Donezk als staatliche Gebilde anerkannt werden. Eine weitere gewaltsame Landnahme. Das Hilfeersuchen der Rebellenführer hat den faden Geschmack von Prag 1968 oder Afghanistan 1979. In einem unlängst erschienenen Artikel behauptet Putin, die Ukraine sei ein gescheitertes Land ohne Geschichte, das sich zu fügen hat. Darin äußert sich ein aggressiver völkischer Nationalismus. Ideen aus vergangenen Jahrhunderten, die seine Expansionspolitik im 21. Jahrhundert begründen sollen. Ein gefährlicher Irredentismus, der die Zusammenführung aller Russen in einem Staat

beabsichtigt, und in der Vergangenheit zu blutigen Eroberungskriegen geführt hat. Dimitri Medwedew, Putins Mann für alle Zwecke und momentan Stellvertreter im Sicherheitsrat, begründet die gewaltsame Abtrennung des Donbass damit, dass er von der Ukraine nicht gebraucht würde und das Gebiet seit Jahren vernachlässigt worden sei. Dabei kam der geflüchtete Ex-Präsident Janukowitsch von da. Und sofern das Geld nicht in seine eigenen Taschen geflossen ist, wurde es zumindest dort investiert, wo er mit der Partei der Regionen auch seine Machtbasis hatte.

Die aus dem Deutschen geliehene Behauptung und das angemahnte Verständnis:

„Wir sind ein Volk“ ist falsch. Im Gegensatz zur deutschen Wiedervereinigung gibt es in der Ukraine, außer der Bereitschaft zu friedlicher und kooperativer Nachtbarschaft, keinen politischen Willen, sich mit Russland zu vereinigen. Im Gegenteil, Putins Agieren hat eher zu Befremden und Abstand geführt sowie den Zusammenhalt der ukrainischen Nation und den Wunsch nach Aufnahme in die Nato verstärkt.

Präsident Putins Antrieb ist der Traum von einem neuen Imperium. Einer Großmacht, die so auch behandelt werden möchte, Geopolitik betreibt und Sonderrechte besitzt. Eine Erwiderung auf die empfundene Demütigung durch US-Präsident Obama, dass Russland nur eine Regionalmacht sei. Jetzt sind Putins Militär und Söldnertruppen weltweit im Einsatz. Zudem hat der Krieg in Syrien und das Bombardement der russischen Luftwaffe zu Fluchtbewegungen geführt, welche die EU erreichen und hier zu Problemen führen. Eine zunehmende Flucht aus der Ukraine würde diese Destabilisierungsabsicht noch verstärken. Neben dem Zurückdrängen der USA aus Europa ein weiteres Ziel seiner Politik. Längst ist er der Schirmherr reaktionärer restaurativer Kräfte in Europa.

Bei all diesen Angriffen und Gefahren für die europäische Friedensordnung dürfen wir uns nichts vormachen und darauf hoffen, dass wir einen zum Äußersten entschlossenen Aggressor mit guten Worten und notfalls harten Konsequenzen zum Einlenken bringen können. Es ist höchste Zeit diesem aggressiven und expansiven Treiben ein Ende zu setzen und völkerrechtlich begründete rote Linien zu ziehen.

Werner S c h u l z ehemaliges MdB und MdEP

Der Text war ursprünglich als Offener Brief an den Bundesvorstand und die Regierungsmitglieder von Bündnis 90/Die Grünen verfasst.