Putins Krieg mit Ansage

von Christoph Becker, Liberale Moderne

18.3.2020

Putins Ankündigung

Putins Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat die deutsche Politik kalt erwischt. Die meisten wollten bis zuletzt nicht glauben, dass der monatelange Aufmarsch russischer Armeen entlang der ukrainischen Grenze mehr als eine Drohgebärde Putins darstellen könnte. Das Kriegsverbrechen einer kaltschnäuzigen Invasion hielten viele für kaum vorstellbar. In Kommentaren hieß es nach der Invasion, man Putin habe völlig falsch eingeschätzt. Bundeskanzler Scholz sprach in seiner Regierungserklärung am 27. Februar 2022 von einer Zeitenwende.

Tatsächlich aber hat Putin sein Vorgehen offen angekündigt. Nur haben wir diese Ankündigungen nicht ernst nehmen wollen, weil wir unsere politischen Vorstellungen vom Primat des Dialogs, von den zu wahrenden gegenseitigen (Wirtschafts-)Interessen und von der Gewalt als eher antiquierter Ultima Ratio auf den Herrscher im Kreml projiziert haben. Um nicht der nächsten Fehleinschätzung Putins zu erliegen, lohnt ein Blick zurück. Der zeigt, dass nicht davon auszugehen ist, Putin würde sich mit einer Eroberung oder Zerschlagung der Ukraine zufrieden geben. Sich hier Illusionen hinzugeben, dürfte für die Zukunft der NATO, der EU und der Freiheit in Europa gravierende Folgen haben. Auf einem anderen Blatt steht freilich, ob Putin über ausreichend Ressourcen verfügt, seine hochtrabenden Ansprüche zu verwirklichen. Die „gute“ Nachricht lautet: Hier können wir ihm zusätzlich einen entscheidenden Strich durch die Rechnung machen.

Dem Angriff auf die Ukraine ging Putins faktische Kriegserklärung in seiner Rede vom 21. Februar 2022 voraus. Diese Ansprache wurde vor allem wegen seiner eigenwilligen Geschichtsdarstellungen zur Ukraine als bizarr empfunden. Putin stellte die Ukraine als künstliches Produkt dar, das die Bolschewiken zur Befriedung ukrainischer Nationalisten geschaffen hätten. Dabei seien die Ukrainer in Wahrheit Russen und von diesen ununterscheidbar. Aufgrund dieser Feststellungen meinte Putin, der Ukraine jegliche Existenzberechtigung absprechen zu können. Er sprach von einer „Entkommunisierung der Ukraine“, die nicht auf halbem Wege stehen bleiben und es lediglich beim Sturz von Leninstatuen belassen solle. Eine „vollständige Entkommunisierung“ meint im Sinne Putins die Abschaffung der von den Kommunisten „künstlich“ geschaffenen Ukraine. Der historische Teil von Putins Kriegserklärung folgt im Wesentlichen seinem „Essay zu den historischen Beziehungen zwischen Russen und Ukrainern“ vom 12. Juli 2021. Der Essay wurde jedoch zuvor nur von einer Fachöffentlichkeit wahrgenommen, aber von diesen als das verstanden, was er war: Eine „unverhüllte Drohung an die Ukraine“.

Es bleibt bloße Spekulation und daher müßig zu erörtern, ob Putin seiner eigenen Geschichtspolitik glaubt und einem großrussischen Nationalismus verfallen ist oder ob diese Geschichtspolitik lediglich Propaganda zur Legitimation seiner Aggression gegen die Ukraine darstellt. Vieles spricht dafür, dass er sich mit seinen Reden vor allem an eine russische Öffentlichkeit wendet. Wie in anderen Gesellschaften, die unter postimperialen Phantomschmerzen leiden, scheinen auch in Russland Viele für Ideen eines Wiederaufstiegs als neues Imperium empfänglich. Propagandafiguren von der angeblichen Demütigung Russlands (weil ehemalige Satellitenstaaten ihr Schicksal und die Bündniszugehörigkeit selbst entscheiden), vorgeblich gebrochen Versprechungen oder der Einkreisung durch die NATO und der Vorstellung, sich nun wieder „von den Knien zu erheben“, treffen hier auf einen gewissen Resonanzboden in der Gesellschaft.

Muskelspiele Russlands in der Ära Putin

Alexander Baunow, Chefredakteur des Moskauer Carnegie Center, versuchte eine Deutung, was der von Moskau öffentlich den USA und der NATO unterbreitete „Abkommensentwurf“ von Mitte Dezember bedeutet haben könnte. Putin hatte darin einen neutralen Status der Ukraine und einen Rückzug der Nato aus Mittelosteuropa gefordert. In einem Facebookpost vom 18. Dezember 2021 schrieb Baunowr, die darin enthaltenen Forderungen seien „für das Russland, das wir seit dem Ende der 1980er Jahre kennen, unmöglich, unerfüllbar, überhöht … Für ein Zeitalter der Konfrontation von Supermächten sind sie jedoch durchaus denkbar. Was veranlasst Russland wie eine Supermacht zu handeln? Wladimir Putin verweist immer nachdrücklicher auf die Ergebnisse seiner Regierungszeit, der sogenannten Putinära, für die russische Geschichte. In dieser Gesamtschau ist nicht nur der Status Quo der Ukraine, sondern auch der auf der Weltbühne nicht hinnehmbar. Wir stecken in einer globalen Perspektive fest, in der das postsowjetische Russland eines Gorbatschow und Jelzin als Norm gilt, Putins Russland hingegen als Abweichung, als Anomalie. Doch Putin ist schon länger an der Macht als Gorbatschow und Jelzin zusammen, und wird es (auch im Hinblick auf die Präsidentschaftswahl 2024) vielleicht noch länger bleiben. Der schlichte Vergleich der historischen Zeiträume (sogar ohne Berücksichtigung der wirtschaftlichen Entwicklung, der Modernisierung des Militärs und so weiter) erlaubt ihm, seine Regierungszeit als Norm und jene seiner Vorgänger als kurze Abweichung in der Geschichte Russlands zu betrachten, als eine Seite im Geschichtsbuch, die es möglichst schnell umzublättern gilt. Innerhalb dieses Koordinatensystems sind die Ergebnisse der 1980er und 1990er Jahre nicht unumkehrbar. Neben den oben genannten Forderungen enthält der Entwurf für das Abkommen erstmals eine öffentliche Forderung der russischen Regierung, die gesamten Ergebnisse der 1980er und 1990er Jahre neu zu bewerten, nicht nur bestimmte Details.“

In den Tagen seit Kriegsbeginn wurde vielfach darauf hingewiesen, dass Putins Krieg gegen die Ukraine eine lange Vorgeschichte hat, die spätestens mit seiner aggressiven antiwestlichen Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 begann. Er hatte damals massiv die Ostausdehnung der Nato kritisiert und der „monopolaren Weltherrschaft“ der USA den Kampf angesagt. Putins Auftritt ließ westliche Beobachter weitgehend ratlos zurück. Niemand wollte sich vorstellen, dass Putin eine Rückkehr zum Kalten Krieg anstrebte. Spätestens seit diesem Moment verschloss man im Westen systematische die Augen vor dem, womit man es im Kreml zu tun hatte. Trotz des folgenden Georgienkriegs, der Bombardierung Aleppos in Syrien, des Einsatzes von Söldnern der sogenannten Wagner-Truppen in Libyen, in der Zentralafrikanischen Republik und in Mali, der Annexion der Krim und des Kriegs im Donbas pflegte man insbesondere in Deutschland die Vorstellung, mit gegenseitigen Abhängigkeiten und Verflechtungen ein friedliches Verhältnis mit Russland bewahren zu können. Die Rede war davon, dass Sicherheit in Europa nur mit und nicht gegen Russland möglich sei. Ein Satz, der heute mehr als schal wirkt.

Wladimir Putin nutzte seine 22-jährige Amtszeit als Präsident und Regierungschef und die reichlichen Einnahmen aus dem Verkauf von Öl und Gas nicht für eine Modernisierung der russischen Wirtschaft, die international konkurrenzfähig wäre. Vielmehr beschränkte er sich darauf, die Rohstoffindustrien unter Kontrolle des Kreml zu bringen und vorrangig in militärische Aufrüstung zu investieren. Bis heute wird der russische Staatshaushalt zum weit überwiegenden Teil aus dem Export von Öl und Gas finanziert.

Putins militärisches Potential

Beim Aufbau militärischer Fähigkeiten orientierte sich der Kreml offensichtlich an der einstigen sowjetischen Größe. 2007 begann eine Reihe von Großmanövern, die es seit dem Ende der Sowjetunion nicht mehr gegeben hatte und die teilweise mehrfach jährlich 70.000 bis zu weit über 100.000 Soldaten aller Waffengattungen einschließlich des Zivilschutzes, usw. zu Übungen der Einsatzbereitschaft mobilisierten. Regelmäßig wurde hierbei der Angriff auf NATO-Gebiet einschließlich z.B. eines Atomschlags auf Warschau geübt. Bei Manövern im europäischen Teil Russlands wurde durch falsche Angaben zur Größe des Manövers, die Größenordnung regelmäßig unterlaufen, die zur Einladung westlicher Beobachter gemäß des Wiener Dokuments verpflichtet hätte. Mit derartigen Manövern erwarb sich die russische Armee wieder die Fähigkeit für große Kriegseinsätze. Zusammenhänge der Manöver mit den Einsätzen in Georgien, Syrien und in der Ukraine sind erkennbar. Diese Kriegseinsätze wurden wiederum als „unbezahlbare Kampferfahrungen“ geschätzt.

2010 beschloss Russland ein erstes zehnjähriges Rüstungsprogramm für den Zeitraum 2011 bis 2020 zur Modernisierung der Armee. 2018 wurde ein neues Rüstungsprogramm für die folgenden zehn Jahre beschlossen, das 270 Mrd. Euro kosten sollte. Laut Carnegie-Stiftung war es das Ziel, bis 2027 die Fähigkeit zu haben, zwei große Krieg gleichzeitig führen zu können. Teil des Rüstungsprogramm war die Modernisierung des Atomwaffenarsenals, insbesondere der Interkontinentalraketen und der atomar bestückten U-Boote. Ende 2021 wurde der Weltöffentlichkeit eine neue Hyperschallrakete präsentiert.

Gleichzeitig entwickelte Russland auf Basis sogenannter Iskander-Raketen unter Bruch des INF-Vertrags neue nuklear bestückbare Mittelstreckenraketen, was zum Ausstieg der USA aus dem Abkommen führte. Zwar bestreitet Russland, derartige Raketen entwickelt zu haben. Man muss aber davon ausgehen, dass Russland in Wirklichkeit inzwischen die Fähigkeit hat mit derartigen Geschossen den gesamten europäischen Kontinent bis auf Portugal erreichen zu können. In Kaliningrad sind seit 2017 nuklear bestückbare Iskander-Raketen stationiert, die mit ihrer Reichweite von 500 Kilometern Berlin erreichen könnten. Seit 2014 führt Russland in seiner Militärdoktrin die NATO als feindliches Bündnis.

Putin hat sich also bereits sehr früh dafür entschieden, den eigenen Weltmachtanspruch nicht durch wirtschaftliche Entwicklung wie China oder durch verantwortliche Politik als Vetomacht im UN-Sicherheitsrat, sondern allein durch militärische Machtpolitik zu verwirklichen. In diesem Bestreben hat der Westen ihn zusätzlich durch regelmäßiges Nichtstun ermuntert. Der Schriftsteller Jonathan Littell zählt in seinem Essay die Gelegenheiten auf, in denen der Westen regelmäßig Protest „murmelte“, um möglichst schnell zum Business as usual zurückzukehren: Georgienkrieg 2008, Krimannexion und Krieg im Donbas 2014. „Putin begann mit der Ermordung seiner Gegner im In- wie im Ausland. Als es hier passierte, gab es einen kleinen Aufschrei, aber nichts darüber hinaus. Als Obama 2013 seine eigene ‚rote Linie‘ in Syrien kalt ignorierte und sich weigerte, nach Assads Giftgasangriff auf ein ziviles Viertel in Damaskus einzugreifen, wurde [Putin...] aufmerksam. Im Jahr 2015 schickte er seine eigenen Streitkräfte nach Syrien, […] Im Januar 2018 begann er, die westlichen Mächte in der Zentralafrikanischen Republik direkt zu konfrontieren, indem er seine Wagner-Söldner dorthin schickte. Derselbe Prozess ist derzeit in Mali im Gange, wo die Militärjunta mit russischer Unterstützung gerade die französische Anti-ISIS-Mission aus dem Land vertrieben hat. Russland ist auch in Libyen aktiv, [...] Jedes Mal haben wir protestiert, wir haben die Fäuste geballt und, genau, nichts getan. Und jedes Mal hat er es wohlwollend zur Kenntnis genommen. Die Ukraine verkörpert den Moment, in dem er sich endlich entschlossen hat, seine Karten offen auf den Tisch zu legen. Er glaubt eindeutig, dass er stark genug ist, um dem Westen zu trotzen, indem er ohne jegliche Provokation die erste Invasion eines souveränen Staates in Europa seit 1945 startet. Und er glaubt es, weil alles, was wir in den letzten 22 Jahren getan oder, vielmehr, nicht getan haben, ihn gelehrt hat, dass wir schwach sind,“ schreibt Littell.

Die Invasion in der Ukraine- Putins Fehlkalkulation?

Wer derzeit in die Ukraine blickt, mag den Eindruck gewinnen, dass Russlands militärische Möglichkeiten weit hinter den Ambition Putins zurück bleiben. Die Rede ist von demotivierten Soldaten und Wehrdienstleistenden, die nach nur wenigen Tagen Ausbildung in den Krieg geschickt wurden, von Logistikproblemen, usw.. In jedem Fall scheint der offensichtliche Plan, mit einem schnellen Vorstoß auf Kiew, die ukrainische Regierung binnen wenigen Tagen zu entmachten und eine Marionettenregierung zu installieren, nicht aufgegangen zu sein. Jonathan Littell vertritt die These, Putin sei ein genialer Taktiker aber ein schlechter Stratege. Dies könnte ihn zu strategischen Fehleinschätzungen bewogen haben, etwas was die Widerstandsbereitschaft der ukrainischen Bevölkerung und Armee gegen eine russische Invasion oder die Reaktion des Westens und der NATO auf den Angriff angeht.

Tatsächlich stellt sich die Frage, wie Putin sich nach einer möglichen militärischen Eroberung die Beherrschung des zweitgrößten europäischen Flächenstaats mit 44 Mio. Einwohnern vorstellt, wo durch seinen Angriff selbst die „pro-russischen“ Kräfte zu ukrainischen Patrioten geworden sind.

Allerdings spricht die Geschichte der militärischen Aufrüstung seit 2007 durchaus für ein strategisches Vorgehen der russischen Führung. Die französische Russlandexpertin Francoise Thom zitiert in ihrer Analyse des russischen „Abkommensvorschlag“ an USA und NATO den russischen Think Tank Russtrat, um zu zeigen, wie Russland sich auf eine Konfrontation mit dem Westen gezielt vorbereitet hat: „In den nächsten anderthalb Jahren wird Russland das Gleichgewicht der Weltmacht erheblich verändern. [...] Die derzeitige historische Situation Russlands ist einzigartig. Der Staat hat sich auf die großen Herausforderungen vorbereitet, die unter kritischem Druck entstehen können. Es wurden riesige Reserven angehäuft, darunter auch Gold. Nationale Finanz- und Informationsinfrastrukturpläne wurden erstellt und auf den Weg gebracht. Die Digitalisierung hat begonnen, die gesamte Wirtschaft zu erfassen und sie auf ein neues Niveau der Wettbewerbsfähigkeit zu bringen. Der Ausbau unserer eigenen industriellen Basis, auch in hochsensiblen High-Tech-Bereichen, schreitet sprunghaft voran, die ‚Technologielücke‘ schließt sich. Wir haben die kritische Abhängigkeit im Bereich der Ernährungssicherheit überwunden. [...] In den letzten fünf Jahren war die Armee weltweit führend. In diesem Bereich besteht eine 'technologische Kluft' zu unseren Gunsten und wird nur noch größer... Darüber hinaus verursacht die Explosion der planetarischen Inflation eine Energiekrise, die die Europäer größtenteils viel entgegenkommender macht und eine Blockade unserer Energielieferungen ausschließt, was auch immer wir tun.“

Putins einsame Kriegsentscheidung und seine Kriegsziele

Eine Erklärung für die ganze Anzahl an strategische Fehleinschätzung Putins und offensichtlichen Fehler der Kremladministration, etwas was den inzwischen gesperrten Zugriff auf einen Großteil der angehäuften Währungsreserven angeht, könnte in Putins unangefochtener Machtposition innerhalb des Kreml liegen. Im Versuch, den Nationalen Sicherheitsrat dazu zu zwingen, die Invasion in der Ukraine in aller Öffentlichkeit zu unterstützen, wurden erstmals längere, wenngleich geschnittene Passagen, der Sitzung des Gremiums veröffentlicht. Die Aufnahmen sind ein unfreiwilliges Dokument von Putins Despotie, der offensichtlich nur noch von ängstlichen Jasagern umgeben ist. Bezeichnend war, wie sich Putin in der Sitzung über den verunsicherten Chef des Auslandsgeheimdiensts SWR, Sergej Naryschkin, belustigt und ihn öffentlich demütigt. Es ist eher unwahrscheinlich, dass in einem solchen Umfeld Kritik an Putins Vorgehen vorgetragen werden kann. Notwendige Korrektive sind kaum noch möglich. Die Fehleranfälligkeit eines solchen Systems erhöht sich. Zudem steigt die Gefahr, dass niemand wagt, verzerrte Realitätswahrnehmungen zurechtzurücken. Dies erhöht aber auch die Gefährlichkeit des Putin-Regimes, wenn erratische, und möglicherweise durch Realitätsverlust bestimmte Entscheidungen auf keine Gegenwehr mehr treffen und in der Folge für den Westen weniger berechenbar werden.

Die amerikanische Russlandexpertin Fiona Hill sagte im Interview mit Politico, die Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats habe deutlich gemacht, wie wenig Kontrollmechanismen es für Putin gebe: „Er übernahm gewissermaßen die volle Verantwortung für den Krieg, und selbst die Leiter seiner Sicherheits- und Nachrichtendienste sahen so aus, als seien sie von der Schnelligkeit, mit der sich die Dinge entwickelten, überrumpelt worden.“

Die Rückschau zeigt: Die Invasion in der Ukraine ist ein Krieg mit Ansage. Es ist deshalb notwendig, den russischen „Abkommensvorschlag“ an die USA und NATO noch einmal anzusehen. Der Kreml präsentierte hier Forderungen an den Westen, die für diesen offensichtlich unerfüllbar waren. Neben dem Verzicht auf jegliche Erweiterung der Nato verlangte Russland den Abzug der US-amerikanischen Atomwaffen aus Europa und den Rückzug von NATO-Streitkräften hinter die Grenzen von 1997, dem Jahr der ersten NATO-Osterweiterung. Der russische Vorschlag könne „den Amerikanern helfen, sich leise aus Mittel- und Osteuropa zurückzuziehen“, wie Francoise Thom den russischen Think Tank Russtrat zitiert.

Alexander Baunow vom Moskauer Carnegie Center schreibt zurecht, dass man solche Verhandlungsvorschläge nicht öffentlich unterbreitet und auch keine ultimativen Fristen setzt, wenn man ernsthaft an Verhandlungen interessiert ist. Die militärische Eskalation war also vom Kreml angelegt. Dies sollte uns aber nicht dazu verleiten, den Text nicht ernst zu nehmen. Putin ließ die westlichen Staatschefs für Verhandlungen in Moskau antreten, obwohl sein Entschluss zum Angriff auf die Ukraine bereits gefällt war. Er fällte diesen Entschluss offensichtlich, weil er sich hierfür stark genug fühlte und die Reaktion des Westens nicht fürchtete. Der Umgang mit dem Westen ist auch eine Machtdemonstration. Den Forderungskatalog an den Westen sollten wir deshalb nicht erneut als taktisches Manöver abtun, wie wir es mit Putins geschichtspolitischen Betrachtungen taten.

Mit der Forderung nach einem Rückzug der NATO-Streitkräfte hinter die Bündnisgrenzen von 1997 verlangt der Kreml nicht ausdrücklich, dass die östlichen Mitgliedstaaten wieder aus dem Verteidigungsbündnis austreten sollten. Zusammen mit der Forderung nach einem Abzug des amerikanischen Nuklearschutzschirms würde dies aber die östlichen Bündnismitglieder schutzlos zurücklassen. Die NATO könnte sie im Bündnisfall nicht wirksam verteidigen, was einem Austritt faktisch gleichkommt. Es besteht auch ein qualitativer Unterschied der russischen Forderung zur Selbstverpflichtung der NATO, die sich in der NATO-Russland-Akte verpflichtete, keine nennenswerten Truppen (von mehr als 1000 Mann) dauerhaft in den neuen Mitgliedstaaten zu stationieren, solange sich die Sicherheitslage sich nicht ändert.

Wenn wir Putin beim Wort nehmen, fordert er faktisch eine Rückkehr zum Status quo ante 1997. Die faktische Forderung nach einem NATO-freien Sicherheitskorridor bis zur Oder entspricht der bündnispolitischen Lage direkt nach der deutschen Wiedervereinigung 1990, als der Warschauer Pakt noch bestand. Die imperialen Aspirationen Putins sind also größer als ein Großrussland, mit dem er die ehemaligen Sowjetrepubliken heimholen will. Ihm geht es um die Wiederherstellung der kolonialen Machtanspruchs aus der Sowjetzeit,als Moskau auch über die Satelliten auf dem Territorium des ehemaligen Warschauer Pakts verfügte. Fiona Hill sagt: „Es geht darum, die russische Vorherrschaft in dem Gebiet wiederherzustellen, das Russland als russisches ‚Imperium‘ betrachtet. Ich sage das ganz bewusst, weil die Länder der Sowjetunion nicht alle Gebiete umfassten, die einst Teil des russischen Imperiums waren. Das sollte uns nachdenklich stimmen.“ Auch wenn Putin sich weniger auf die Sowjetunion und stärker auf das zaristische Russische Reich beziehen sollte, wäre mit Blick auf die polnische Teilung im 18. Jahrhundert z.B. Polen konkret durch Putins imperiale Ansprüche bedroht.

Putin geht noch darüber hinaus. Mit der Forderung nach einem Abzug der US-Amerikaner aus Europa strebt er eine Hegemonie der russischen Atommacht über den europäischen Kontinent an. Diese Pläne sind nicht neu. Sie sind eine nunmehr militärische gestützte Wiederholung der diplomatischen Bemühungen Moskaus der letzten 20 Jahre, die OSZE in Rahmen einer „Reform“ zu einem gemeinsamen eurasischen Sicherheitsraum „von Lissabon bis Wladiwostok“ umzubauen – unter Moskauer Führung, versteht sich. Die nordamerikanischen Teilnehmerstaaten wären damit aus der OSZE gedrängt worden. Die Idee von einem geeinten Eurasien unter Moskauer Führung ist eine Grundfigur im Denken des antiliberalen russischen Vordenkers Alexander Dugin, der in russischen Staatsmedien regelmäßig seine antiwestlichen Theorien von der Vormachtstellung des russischen Volkes verbreiten kann.

Fazit

Im Ukrainekrieg geht es um mehr als um die Ukraine. Indem Putin in seiner faktischen Kriegserklärung der Ukraine jegliches Existenzrecht absprach und eine vollständige „Entkommunisierung“ der Ukraine ankündigte, machte er deutlich, dass er das zweitgrößte Land Europas von den Landkarten streichen will. Angesichts des Widerstandswillens und Nationalbewusstseins der Ukrainer kann er das im Falle eines militärischen Siegs nur durch eine antiukrainischen Vernichtungspolitik vollziehen, die alles Ukrainische von der Sprache über die Kultur bis zu den Eliten unterdrückt, wenn nicht auszurotten versucht. Er müsste dies auch tun, um den Beweis für seine These anzutreten, dass Ukrainer in Wahrheit Russen seien. Putin hat nach Kriegsbeginn den Ton noch einmal verschärft und spricht nun vermehrt von einem „Anti-Russland“, das es auszumerzen gelte, – ein Begriff, die bereits in seinem Geschichtsessay aus dem Juli 2021 vorkommt.

Der Plan zur Auslöschung eines ganzen Staates ist ein ungeheuerlicher Vorgang. Er bedeute wie schon die Krimannexion einen gravierenden Bruch der völkerrechtlichen Prinzipien vom Schutz staatlicher Souveränität und territorialer Integrität sowie des Gewaltverzichts, wie sie auch in der Helsinki-Schlussakte von 1975, der Charter von Paris von 1990 und der NATO-Russland-Akte von 1997 als grundlegende Prinzipien der europäischen Sicherheitsarchitektur festgehalten sind. Wenn der Westen bereit ist, dies für ein Appeasement mit Putin hinzunehmen, öffnet er endgültig die Büchse der Pandora. Er würde Moskau einladen, die durch Gewaltanwendung erwirkte Grenzverschiebung andernorts zu wiederholen – nicht nur im postsowjetischen Raum, dem er in seiner Kriegserklärung an die Ukraine das Recht auf staatliche Eigenständigkeit gleich mitabsprach.

Der Ukrainekrieg zeigt, dass Putin den genannten Völkerrechtsprinzipien keinerlei Wert zumisst. Laut Fiona Hill habe Putin „wiederholt gesagt, dass sich die russischen und europäischen Grenzen viele Male geändert haben. […] Putin ist der Ansicht, dass sich Grenzen ändern, und so sind die Grenzen des alten russischen Imperiums auch heute noch für Moskau im Spiel, um heute wieder Herrschaft auszuüben.“

So wenig, wie wir uns vorher einen unvermittelten Angriff auf die Ukraine vorstellen konnten, erscheint uns heute ein russischer Angriff auf die NATO denkbar. Das sollte uns nachdenklich stimmen. Hinzu kommt, dass NATO und Bundeswehr auf eine solche Auseinandersetzung nicht wirklich vorbereitet sind. Zwar gibt es seit 2014 Bemühungen, die militärische Präsenz an der Ostflanke zu verstärken. Die kurzfristig verfügbaren Kräfte sind aber deutlich kleiner als die russischen Truppen, die aktuell in der Ukraine im Einsatz sind. Am Tag des Kriegsbeginns zeigte sich der oberste General der Landstreitkräfte der Bundeswehr Alfons Mais zerknirscht. Man sei bei der Politik nicht durchgedrungen, „die Folgerungen aus der Krim-Annexion zu ziehen und umzusetzen“, schrieb er auf LinkedIn. „Die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht [heute] mehr oder weniger blank da“. Wir müssten uns neu aufstellen, „sonst werden wir unseren verfassungsmäßigen Auftrag und unsere Bündnisverpflichtungen nicht mit Aussicht auf Erfolg umsetzen können.“

Die Äußerungen Putins sprechen eher dafür, dass er einen Angriff auf die NATO wagen würde, wenn er sich dazu militärisch in der Lage sieht. Das Baltikum scheint aus seiner Warte geradezu prädestiniert, um das Bündnis als Papiertiger vorzuführen. Von dem faktisch okkupierten Belarus aus könnte er die 65 Kilometer weite Lücke von Suwalki zur Enklave von Kaliningrad schließen und das Baltikum vom NATO-Territorium abtrennen. Anlässe gäbe es genug, von historischen Gebietsansprüchen, über angebliche terroristische Gefährdungen bis hin zur russischsprachigen Minderheit in Lettland und Estland, die dort 30 Prozent der Bevölkerung stellt und die Moskau vorgeben könnte, vor „Russophobie“ schützen zu wollen. Die NATO wäre dann in der heiklen Lage, entscheiden zu müssen, entweder einen konventionellen Gegenschlag zu wagen, auf den sie nach derzeitigem Stand kurzfristig nicht ausreichend vorbereitet wäre, in eine nukleare Konfrontation mit Russland einzutreten oder die Bündnisverpflichtung nicht zu erfüllen.

Es ist also entscheidend, die hochtrabenden Pläne Putins jetzt in der Ukraine auszubremsen. Wenn wir ihn nicht jetzt stoppen können, laufen wir Gefahr, in absehbarer Zeit in eine direkte Konfrontation mit der russischen Armee zu geraten. Die Schlussfolgerungen sind erstens, die Ukraine bei ihrer Verteidigung gegen den russischen Aggressor bestmöglich mit Waffenlieferung zu helfen und zwar auch mit schwerem und modernem Gerät. Für Putin muss dieser Krieg zum Misserfolg werden. Gleichzeitig sollten zweitens die bereits sehr schmerzhaften Wirtschaftssanktionen gegen Russland weiter verschärft werden, um den Krieg zu verkürzen und eine erneute Aufrüstung Russlands zu erschweren. China stellt für Russland keine ökonomische Ausweichmöglichkeit dar, weil für China die USA und der Westen als Absatzmärkte weit wichtiger sind, als ein massiv geschrumpfter russischer Markt. Und drittens muss die NATO an ihrer Ostflanke soweit die Abschreckungskapazitäten verstärken, dass Putin einen direkten Angriff als zu riskant einschätzt. Das Einzige, was Putin in seinen militärischen Ambitionen wirksam stoppen kann, ist die militärische Überlegenheit des Gegners.