Krieg und Gedächtnispolitik.

Erinnerungen an Diktaturen und an den Zweiten Weltkrieg in Russland in der Auseinandersetzung mit der Ukraine

von Prof. Arnd Bauerkämper


1. Einleitung
Seit der Osterweiterung der Europäischen Union (EU) mit dem Beitritt von Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn am 1. Mai.2004 sowie von Bulgarien und Rumänien am 1. Januar 2007 ist verstärkt über das Verhältnis zwischen den Erinnerungen an faschistische und kommunistische Diktaturen diskutiert und auch gestritten worden. Diese Konflikte sind nachhaltig von gedächtnispolitischen Zielen und Strategien geprägt worden. Im Allgemeinen wird „Gedächtnispolitik“ von spezifischen (in der Regel einflussreichen) Akteuren initiiert und gesteuert. Sie prägen regelrechte Erinnerungsregimes aus, die zwar nicht immer rechtliche Festlegungen beinhalten, aber durchweg jedoch jeweils Normen, Regeln und politischen Maßnahmen vorgeben. Diese verleihen der Gedächtnispolitik ihre Stabilität und Verbindlichkeit, so seinerzeit in den kommunistischen Regimes in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa.1

Der Nationalsozialismus, die Besatzungsherrschaft des „Dritten Reiches“, der Holocaust und die stalinistischen Diktaturen in Europa werden in mehrfacher Hinsicht unterschiedlich oder sogar gegensätzlich erinnert.2 Dabei sind nicht lediglich nationale Unterschiede, sondern auch Gegensätze zwischen den westeuropäischen Ländern und den osteuropäischen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) unübersehbar, in denen das Kriegsende nicht nur als Befreiung, sondern auch als Beginn einer neuen Phase der Okkupation und Repression erinnert wird. Aber auch schon innerhalb des zuvor von der Sowjetunion beherrschten Raumes entstand eine gedächtnispolitische Trennlinie. Im Konflikt zwischen Russland und den bis 1989 von der UdSSR abhängigen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas hat nach dem Ende der Sowjetunion auf beiden Seiten eine selektive Erinnerungspolitik politischen Ansprüchen und Forderungen gedient. Dabei hat sich die russische Machtelite trotz einer gewissen Kontinuität verschwörungstheoretischer Argumente gegenüber dem Westen in den 1990er Jahren zumindest partiell an den neuen transnationalen Bezugsrahmen des Gedenkens angepasst. Das bis zu den Jahren um 2005 noch erkennbare Ziel der russischen Regierung, ihre im Grundsatz nationalistische Gedächtnispolitik mit der Integration in eine europäische Erinnerungskultur zu verbinden, konterkarierte jedoch schon die neue hybride Staatssymbolik, die gleichermaßen auf vorrevolutionäre wie sowjetische Traditionsbezüge zurückgegriffen hat.

In den letzten 15 Jahren hat der russische Staatspräsident Wladimir Putin vollends eine Gedächtnispolitik durchsetzt, in der nationalheroische Narrative eng mit einer zunehmend radikalen Zurückweisung universalistischer Bezüge (beispielsweise auf die Menschenrechte) und einer zumindest partiellen Rehabilitierung der stalinistischen Herrschaft (einschließlich des Hitler-Stalin-Paktes) einhergegangen sind.3 Im Folgenden werden diese Prozesse, die den gegenwärtigen Krieg prägen, im Hinblick auf das Verhältnis zur Ukraine detaillierter nachgezeichnet und erklärt.

 

2. Russland

 

In der Sowjetunion hatten Stalin, Chruschtschow und Breschnew nach dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland die erzwungene Integration der osteuropäischen „Brudervölker“ in die UdSSR, der Feststellung von Schuld und Verantwortung Verdächtigter oder der Rehabilitierung von Opfern der NS-Besatzungspolitik übergeordnet. Eine Diskussion über Verbrechen der sowjetischen Armee und der Geheimdienste wurde rigoros unterdrückt. So verschwiegen die Moskauer Machthaber noch in den 1970er und 1980er Jahren beharrlich die Morde an den polnischen Offizieren in Katyń oder leugneten diese Verbrechen, obgleich z.B. 1959 der Vorsitzende des KGB, Aleksander Šelepin, die Zahl der Ermordeten nachträglich ermittelt hatte. Demgegenüber konstruierte der Nimbus des Sieges im „Volkskrieg“ einen gemeinsamen, heldenhaften Kampf von sowjetischen Partisanenverbänden und Roter Armee unter Führung der Kommunistischen Partei gegen die deutschen Okkupanten.4

Demgegenüber verschwiegen Politiker und Historiker den Hitler-Stalin-Pakt mit dem geheimen Zusatzprotokoll vom 23. August 1939 und die daraus resultierende Aufteilung Polens im sogenannten deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September. Erst 1989 gestand Michail Gorbatschow, der 1985 zum neuen Generalsekretär der KPdSU gewählt worden war, die Authentizität dieser Dokumente offiziell ein. Damit erkannte er die Mitverantwortung der UdSSR für die Aufteilung Polens und der baltischen Staaten an, wo Politiker in Übereinstimmung mit großen Bevölkerungsgruppen in den späten 1980er-Jahren den Austritt aus der Sowjetunion verlangten. Diese Forderung lehnte die russische Minderheit im Baltikum jedoch ab, so dass sich bereits die Konflikte abzeichneten, die 1990/91 in Estland, Lettland und Litauen eskalieren sollten. In der Ukraine traten diese Konflikte zunächst weniger spektakulär hervor, obwohl auch hier im Osten des Landes eine starke russische Minderheit lebte.5

Insgesamt blieb Gorbatschows gedächtnispolitischer Aufbruch widersprüchlich. Einerseits führte er mit seiner Politik der Glasnost eine „intensive Entmythologisierung“ der offiziellen Gedächtnispolitik herbei.6 So konnten über den Kreis der KPdSU und ihrer Anhänger hinaus auch Dissidenten und einzelne ethnische Gruppen ihre Erinnerung öffentlich verbreiten. Zudem wurden die Opfer der stalinistischen Justiz in den frühen 1990er Jahren rehabilitiert. Andererseits zielte Gorbatschow auch weiterhin auf eine Stärkung der Identifikation mit der Sowjetunion, so dass er am Erbe der Oktoberrevolution festhielt und den Mythos vom „Großen Vaterländischen Krieg“ prolongierte. In der Folge trieben die Behörden in Moskau die Fertigstellung des „Siegesparks“ voran, der schon von Chruschtschow geplant worden war und 1993 fertig gestellt wurde. Ergänzt durch eine dem Heiligen Georg geweihte orthodoxe Kirche, eine Moschee, eine Synagoge und ein Holocaust Museum präsentierte sich die Anlage zum 50. Jahrestag des Kriegsendes 1995 als Erinnerungsstätte des sowjetischen Sieges. Nachdem die Sakralisierung des Triumphes in Russland Anfang der 1990er Jahre vorübergehend zurückgetreten war (wie der Verzicht auf Militärparaden in den Jahren von 1991 bis 1994 zeigte), rückte das nationalistische Narrativ vom „ewigen Russland“ in den Mittelpunkt der Gedächtnispolitik. So ließ die russische Regierung Gedenkstätten für die in Afghanistan und in Tschetschenien gefallenen Soldaten oftmals in der Nähe jener Denkmäler errichten, die an die Opfer des Zweiten Weltkriegs erinnerten. Damit diente die Gedächtnispolitik aber letztlich der Legitimation neuer Kriege.7

Nach der Jahrtausendwende hat der neue Staatschef Putin diese Bemühungen verstärkt. Dabei ist der „Große Vaterländische Krieg“ erneut in den Mittelpunkt der Gedächtnispolitik gerückt. Der wirtschaftliche Kollaps Russlands und der machtpolitische Abstieg des Landes hatten in den späten 1990er Jahren den Ruf nach einem starken Staat erneut Auftrieb verliehen, den Nationalisten und frühere Kommunisten gleichermaßen verherrlichten. In dieser Konstellation bemühte sich Putin, nationalheroische Erinnerungsnarrative zur Festigung seiner Herrschaft und zur Rechtfertigung der aggressiven Interventionspolitik gegenüber benachbarten Staaten zu funktionalisieren. Er führte sogar die alte sowjetische Hymne wieder ein, wenngleich der Text geändert wurde.

Insgesamt rehabilitierte Putin schon bis 2010 partiell die Geschichte der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, auch wenn die Erinnerungspolitik gegenüber dem Stalinismus zunächst ambivalent blieb. So nahm Putin bei den Feiern zum 9. Mai, dem sogenannten Tag des Sieges, in Moskau 2005 durchaus internationale Gedenkpraktiken auf, die im vorausgegangenen Jahr in der Zeremonie anlässlich des 50. Jahrestages der Invasion in der Normandie einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hatten. Allerdings lehnten die Präsidenten Estlands und Litauens, Arnold Rüütel und Valdas Adamkus, im Gegensatz zu vielen Staatschefs westlicher Staaten schon im März 2005 die Einladung in die russische Hauptstadt ab. Damit protestierten sie dagegen, dass die russische Regierung die sowjetische Okkupation ihrer Staaten 1940 und 1944 ignorierte. Unbeirrt trat Putin dennoch weiterhin für eine nationalrussische Gedächtnispolitik ein, so 2007 gegenüber Geschichtslehrern, die er aufforderte, ein positives Bild der Entwicklung Russlands zu vermitteln.8

Seit 2008/9 hat sich diese zentralstaatliche und nationalheroische Gedächtnispolitik verfestigt und politisch noch umfassender zur Machtsicherung gegenüber inneren und äußeren „Feinden“ instrumentalisiert worden. So gründete Putins zwischenzeitlicher Nachfolger, Dmitrij Medwedjew, im Mai 2009 eine „Kommission beim Präsidenten der Russischen Föderation zur Verhinderung von Versuchen der Geschichtsfälschung zum Nachteil der Interessen Russlands“. Dem Gremium, das von einem höheren Verwaltungsbeamten geleitet wurde, gehörten außer Politikern Vertreter des Innenministeriums, des Geheimdienstes und des Generalstabes an. Obwohl das Komitee 2014 wieder aufgelöst wurde, trug es maßgeblich dazu bei, dass die nationalheroische Gedächtnispolitik zum Zweiten Weltkrieg nachhaltig festgeschrieben wurde. So ist sie auch in Studiengängen und Schulcurricula zur „patriotischen Geschichte“ verankert worden.9

Anschließend verschärfte Putin fortschreitend den Kampf gegen innenpolitische Gegner unkritischer nationalistischer Narrative des Zweiten Weltkrieges. Die Repression dieser Gruppen hat eine selektive nationalistische Gedächtnispolitik nachhaltig geprägt. So ist die Erinnerungsarbeit der 1989 gegründeten Organisation „Memorial“, die sich der Aufarbeitung politischer Gewaltherrschaft, der Verteidigung der Menschenrechte und der Fürsorge für die Überlebenden des GULag gewidmet hatte, besonders seit 2009 von den Behörden wiederholt eingeschränkt und unterbunden worden. Am 28. Dezember 2021 ordnete das Oberste Gericht Russlands schließlich die Auflösung der Vereinigung an. Innen- und Außenpolitik waren in der aggressiv-nationalistischen Gedächtnispolitik Putins schon lange vor dem Angriff auf die Ukraine eng miteinander verschränkt.10 In einem Essay, der am 12. Juli 2021 auf der Website der russischen Regierung veröffentlicht wurde, bestritt Putin schließlich sogar offen die Existenz einer eigenständigen ukrainischen Nation.11

 

 

3. Ukraine

 

Die Gedächtnispolitik der ukrainischen Regierungen hat seit den 1990er Jahren die Rückbesinnung auf die nationale Unabhängigkeit von 1917 bis 1921/22 und das Gedenken der Opfer der sowjetischen Okkupation und stalinistischen Herrschaft gekennzeichnet. Damit ist sie wiederholt auf den Protest der russischen Minderheit und scharfe Zurückweisung in Moskau getroffen. Während ukrainische Nationalisten um den Präsidenten Wiktor Juschtschenko (2005-2010) den Hungertod von 1932/33 als „Holodomor“ bezeichnet haben, lehnte der russische Präsident Dmitri Medwedew eine Einladung zu einer Gedenkveranstaltung zu diesem Thema in Kiew Ende 2008 ab. Die russische Regierung vertrat gegenüber dem westlichen Nachbarstaat schon in den letzten 15 Jahren vor dem Angriff auf die Ukraine, den Putin mit einem „Genozid“ von Ukrainern an den Russen im Donbass legitimierte, einen Vormachtanspruch, der gedächtnispolitisch fundiert werden sollte. Dazu gehört einerseits die gegen die Ukraine gerichteten Inanspruchnahme des mittelalterlichen Kiewer Rus‘ für einen russischen Gründungsmythos. Zum zweiten wird eine Gedächtnispolitik scharf zurückwiesen, welche die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg als nationalen Befreiungskampf betrachtet, der u. a. von radikal nationalistischen Partisanengruppen wie der Ukrainischen Aufständischen Armee getragen sei.. Dieses Narrativ ist allerdings auf Grund seiner einseitigen Parteinahme selbst innerhalb der Ukraine umstritten.12

Hier bekam ein kommunikatives Gedächtnis Auftrieb, das gegen das sowjetische Narrativ des „Großen Vaterländischen Krieges“ gerichtet war. Es hob auf den Unabhängigkeitskampf des Landes ab und beförderte auch eine Erinnerungskultur, welche die als „Holodomor“ bezeichnete Hungersnot umfasste. Ihr waren 1932/33 Millionen Menschen zum Opfer gefallen, allerdings nicht nur in der Ukraine, so dass die ethnische Motivation der erzwungenen Getreideablieferung – und damit der Ursache des Massensterbens – umstritten geblieben ist. Auch die Aufstände der Nationalisten gegen die sowjetische Fremdherrschaft in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg blieben unvergessen. Allerdings hat die Erinnerungspolitik der neuen Machtelite, die auch bereits 1991 den Ort des Massakers an den Kiiver Juden in Babi Jar als „Symbol jüdischen Märtyrertums“ anerkannte, durchaus variiert. So trat Präsident Leonid Kutschma, der von 1994 bis 2004 amtierte, gegenüber Polen und (weniger deutlich) gegenüber der Sowjetunion für eine Versöhnung ein. Demgegenüber kritisierte sein Nachfolger, Viktor Juschtschenko, die Hungersnot, die in einer Resolution des ukrainischen Parlaments am 28. November 2006 als „Genozid“ verurteilt wurde, ebenso scharf wie die Deportation der Tartaren von der Krim durch die Sowjetunion im Jahr 1943. 2010 ernannte er sogar den antikommunistischen, aber auch antisemitischen Anführer der ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera, der nach der Besetzung 1941 vorübergehend mit den Nationalsozialisten kooperiert hatte, posthum zum „Helden der Sowjetunion“. Diese erinnerungspolitische Intervention richtete sich nicht nur gegen seinen innenpolitischen Rivalen Viktor Janukowitsch, sondern auch gegen die russische Machtelite, welche über die Kollaboration von Russen mit den nationalsozialistischen Besatzern geschwiegen hat. Auf diese transnationale Dimension des Erinnerungskonflikts verweist gleichfalls die Anerkennung der Hungersnot als „Genozid“ durch zehn Staaten (darunter aber nicht Israel und die Bundesrepublik Deutschland).13

Jedoch trafen Juschtschenkos Initiativen, die auf eine Verständigung mit den Nachbarstaaten zielten, wegen seiner Unentschlossenheit, aber auch des Widerstands lokaler und regionaler Eliten nur auf Vorbehalte. Demgegenüber war die Politik des 2009 neu gewählten Präsidenten, Viktor Janukowitsch, eng auf die russische Staatsmacht bezogen, so dass er nunmehr die Klassifikation der Hungersnot als „Genozid“ scharf ablehnte. Zudem stimmte er die Siegesfeier, die am 9. Mai 2010 in Kiew aufwendig inszeniert wurde, eng mit der Führung Russlands und Weißrusslands ab. Insgesamt haben also unterschiedliche Akteure Erinnerungen in der Ukraine jeweils umfassend politisiert und funktionalisiert, gleichermaßen zur innenpolitischen Mobilisierung und zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung in anderen Staaten genutzt. Zudem ist die Erinnerungskultur in der Ukraine gespalten geblieben, denn im Westen des Landes sind die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg so eng mit den Wunden des Unabhängigkeitskampfes verbunden, dass hier offen gefordert worden ist, den „Tag des Sieges“ (9. Mai) als offiziellen Feiertag abzuschaffen.14

 

4. Fazit

 

Wie hier gezeigt, hat die nationalheroische Gedächtnispolitik Russlands unter Wladimir Putin das Verhältnis zur Ukraine unmittelbar beeinflusst. Der russische Angriff auf den westlichen Nachbarstaat am 24. Februar 2022 ist ohne die politische Überformung der Erinnerungskultur zum Zweiten Weltkriegs nicht zu verstehen. Dieser Prozess hat besonders im letzten Jahrzehnt auch zu einer gedächtnispolitischen Rehabilitierung der stalinistischen Diktatur geführt, wie das Verbot der kritischen Organisation „Memorial“ am 28. Dezember 2021 und die Reden Putins in den Monaten vor und nach dem Überfall vollends gezeigt haben. In ihnen hat sich ein ausgeprägter russischer Nationalismus mit einer Wahrnehmung der Erniedrigung und Demütigung verbunden. Auf diese Weise emotional aufgeladen, rechtfertigt die offizielle Gedächtnispolitik den Angriff auf die Ukraine als Präventivkrieg gegen den „Nazismus“, obwohl auch überlebende Opfer des Holocaust derzeit in der Ukraine getötet oder vertrieben werden.15 So hat Putin In seiner Rede am 9. Mai 2022 – wie erwartet – an die (weit über seine Anhänger hinaus verbreitete) Glorifizierung des Sieges im Zweiten Weltkrieges angeknüpft.16 Damit sind in dem überfallenen Staat aber wiederum Erinnerungen an den Terror und die Fremdherrschaft in der stalinistischen Diktatur gestärkt worden. Dabei nimmt der Hungertod, dem 1932/33 besonders in der Ukraine Millionen von Menschen zum Opfer fielen, einen besonders hohen Stellenwert ein. Das Massensterben haben ukrainische Nationalisten ihrerseits als „Holodomor“ bezeichnet und damit gedächtnispolitisch in Dienst genommen. Insgesamt hat sich die russische Gedächtnispolitik aber als weitaus aggressiver erwiesen. Im Krieg gegen die Ukraine ist sie zur Waffe geworden.

Anmerkungen:

1 König, H., Art. „Das Politische des Gedächtnisses“. In C. Gudehus, A. Eichenberg / H. Welzer (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2010, S. 115-125, hier: S. 115, 120-123.

2 Vgl. Cornelißen, C., Zum Wandel der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989/91. Aus Politik und Zeitgeschichte, 72 (2022), Nr. 1-2, S. 48-54, hier: S. 50-52.

3 Hofmann, B./ Wezel, K., Einleitung. Neue nationale und transnationale Perspektiven der Diktaturüberwindung in Europa. In dies. (Hg.), Diktaturüberwindung in Europa. Neue nationale und transnationale Perspektiven. Heidelberg, 2010, S. 18, hier S. 13 f.; Hammerstein, K. ,Europa und seine bedrückende Erbschaft. Europäische Perspektiven auf die Aufarbeitung von Diktaturen. In W. R. Assmann / A. Graf von Kalnein (Hg.): Erinnerung und Gesellschaft. Formen der Aufarbeitung von Diktaturen in Europa. Berlin 2011, S. 43–56, hier: S. 43 f.; Bauerkämper, A., Die Dominanz partikularer gegenüber universalistischen Narrativen. Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg in Südosteuropa im europäischen Kontext. Südosteuropa-Mitteilungen, 61 (2021), Nr. 1-2, S. 49-60.

4 Peters, F., Revolution der Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg in der Geschichtskultur des spätsozialistischen Polen. Berlin 2016, S. 212-273; Urban, T., Katyn 1940. Geschichte eines Verbrechens, München 2015, bes. S. 181-195; Gudkov, l., Die Fesseln des Sieges. Russlands Identität aus der Erinnerung an den Krieg, in: Osteuropa 4-6 (2005), S. 56-73, bes. S. 56, 60-62; 64; Scherbakowa, I., Ein glorifizierter Sieg. Der Zweite Weltkrieg im russischen Gedächtnis. In dies., Zerrissene Erinnerung. Der Umgang mit Stalinismus und Zweitem Weltkrieg im heutigen Russland. Göttingen 2010, S. 7-61, hier: S. 26, 30 f.

5 Rees, A., Managing the History of the Past in the Former Communist States, in: Pakier, M./Stråth, B. (Hg.), A European Memory? Contested Histories and Politics of Remembrance, New York 2010, S. 219-232, hier: S. 220, 222.

6 Langenohl, A., Die Erinnerungsreflexion des Großen Vaterländischen Krieges in Russland zum fünfzigsten und sechzigsten Jahrestag des Sieges (1995 und 2005), in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2005, 68-80, hier: 69, 74; Scherbakowa, Sieg, S. 55.

7 Scherrer, J., Sowjetunion/Rußland. Siegermythos versus Vergangenheitsaufarbeitung, in: Flacke, M. (Hg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Bd. 2., Mainz 2004, S. 619-670, hier: S. 626-655; Makhotina, E., Vergangenheitsdiskurse zur Sowjetzeit in Russland und Litauen, in Assmann/von Kalnein (Hg.), Erinnerung, S. 195-222.

8 Michaleva, G., Vergangenheitsbewältigung als Voraussetzung für die Modernisierung Russlands, in: Kissel, W.S./Liebert, U. (Hg.), Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft. Nationale Narrative und transnationale Dynamiken seit 1989. Münster 2010, S. 47, 50; Gasimov, Z , Russlands staatlicher Umgang mit der Stalinismus-Zeit, in: Jahrbuch für Politik und Gesellschaft (2010), H. 1, S. 87-110.

9 Klaus Gestwa, Putin, der Cliotherapeut. Überdosis an Geschichte und

politisierte Erinnerungskonflikte in Osteuropa, in: Neue Politische Literatur 67 (2022), S. 15-53, hier: S. 24 f.; Michaleva, Vergangenheitsbewältigung, S..54.

10 Zitat in: Polianski, I., Eisbrecher der Geschichte. „Heiße“, „kalte“ und „warme“ Erinnerung in
der postsowjetischen Geschichtskultur, in: Kar, LK./Polianski. I. (Hg.), Geschichtspolitik und
Erinnerungskultur im neuen Russland. Formen der Erinnerung. Göttingen 2009, 65-84; Hedeler, W., „Aushöhlung der verfassungsmäßigen Ordnung und Aufruf zum Sturz der Regierung“. Das drohende Ende der Menschenrechtsorganisation Memorial. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft,70 (2022), S. 161-165; Fein, E., Die Gesellschaft „Memorial“ und die postsowjetische Erinnerungskultur in Russland. In Karl / Polianski (Hg.), Geschichtspolitik, S. 165-186; Gestwa, Putin, S. 23-25.

11 Putin, W., Über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer, übers. von Andrea Huterer. Osteuropa (2021), Nr. 7, S. 51–66; Gestwa, Putin, S. 36 f.

12 Kappeler, A., Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 2. Auflage, München 2022, S. 27-34, 179-181; Scheide, C., Erinnerungsbrüche. Baltische Erfahrungen und Europas Gedächtnis. Osteuropa, 58 (2008), H, 6, S. 117-128, hier. S. 121-123, 126. Vgl. auch Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Nr. 107 / 9. Mai 2022, S. 107. Putins Behauptung eines „Genozids“ nach: FAZ, Nr. 42 / 19. Februar 2022, S. 2.

13 Portnov, A., Post-Soviet Ukraine Dealing with its Controversial Past, in: Journal of Modern European History 8 (2010), H. 2, S. 152-155; Münch, F., Der letzte Kampf um Anerkennung. Die Geschichtspolitik Wiktor Juschtschenkos im Januar 2010 als Spiegelbild seine Amtszeit als Präsident der Ukraine, in: Engel, U./Middell, M./Troebst, S. (Hg.), Erinnerungskulturen in transnationaler Perspektive, Leipzig 2012, S. 199-217; Stryjek, T., Opfer und Helden – vergangenheitspolitische Strategien der ukrainischen Eliten, in: François, E./Kończal, K., Traba, R./Troebst, S. (Hg.), Geschichtspolitik in Europa seit 1989, Göttingen 2013, S. 264-307. Vgl. auch FAZ, Nr. 109 / 11. MaI 2022, S. N 3.

14 Scherrer, J., Ukraine. Konkurrierende Erinnerungen, in: Flacke (Hg.), Mythen, Bd. 2, S. 719-736.

15 Dazu z. B. der Artikel in: Die Zeit, Nr. 16 / 16. April 2022, S. 65.

16 FAZ, Nr. 107 / 9. Mai 2022, S. 8 f.