Mein Lieblingsbuch, wenn das in diesem Zusammenhang gestattet ist, ist „Putins Netz“.[1] Die Autorin arbeitete als Korrespondentin der Financial Times bis 2013 in Moskau. Damit sind schon die Stärken und Schwächen des Buches angedeutet. Um bei letzterem anzufangen, sind die 606 Seiten der deutschen Ausgabe so detailreich und spezialistisch, dass die Leser ähnlich wie der Laie beim Wirtschaftsteil der FAZ gelegentlich den Faden verlieren dürfte, manchmal scheint das sogar ein Problem der Autorin selbst. Dennoch, das Gesamtnarrativ ist stark. Catherine Belton zeichnet den Aufstieg einer Schicht nach, die in den Umbruchsjahren der Sowjetunion/Russlands alles zu verlieren drohte, dann aber gerade die Wirrnisse zu nutzen wusste, um skrupellos, mit durch teilweise fragwürdigen Geldgeschäften, alten Beziehungen und altem Know-how aus kommunistischen, ja oft KGB-istischen Zeiten, sich einen neuen Status zu erarbeiten. Wladimir Wladimirowitch war zunächst nur einer und eher ein „Kleiner“, als er in seiner Heimatstadt St. Petersburg als Vertreter für Außenwirtschaftsfragen des bekannten Bürgermeisters Anatoli Alexandrowitsch Sobtschak Gewerbeansiedlungen und Deals von ausländischen Geschäftsleuten relativ freihändig genehmigen konnte, sozusagen an der Quelle saß. Seine Karriere als ehemaliger KGB-Offizier schien ihn zunächst ins Abseits zu führen, obwohl bis heute umstritten ist, ob er damals überhaupt ausgeschieden war. Doch verfügte der gelernte Jurist mit den Finessen fürs operative Geschäft, Personen gewogen oder gefügig zu machen, und als Wirtschafts- und Finanzspezialist in Dresden mit dem Wissen über vorteilhafte Geschäfte mit dem Westen ausgestattet, über das nötige Know-how für einen - im nach hinein betrachtet - unhaltbaren Aufstieg. Menschen, die er in St. Petersburg „eingesammelt“ hatte, streng genommen entstammen die ersten noch seinen DDR-Tagen, umgeben ihn noch heute. Aus dieser Melange von KGB-istischem Petersburger Milieu mit Neureichtum entstammen jene „Silowiki“, die die heutige Elite Russland rund um den Kreml-Chef stellen. Ob er von Anfang an der Spielmacher war, oder nicht eher die Charaktermaske dieser Gruppe, ist auch für Belton nicht ganz ausgemacht. Doch nachdem Putin 2000 die Nachfolge von Boris Jelzin als Präsident angetreten hatte, eroberte diese Gruppierung nicht nur den Staatsapparat, sondern auch Putin selbst emanzipierte sich wie der Zauberlehrling vom Meister, so dass er heute als scheinbar unumschränkter Herrscher gilt. Beltons Buch wirft zwangsläufig die Frage auf, warum der Westen so lange diese Zeit nach 1990 frohlockend nur unter dem  Aspekt der Schwäche gesehen hat, das wirtschaftliche Chaos für die Dämmerung einer liberalen Wirtschaftsverfassung hielt und offenbar darauf vertraute, dass die Demokratie dann schon folgen wurde. Nein, die Fehlentwicklung begann nicht erst, wie es heute oft dargestellt wird, mit dem zweiten Tschetschenienkrieg, sie war viel früher angelegt, so legt Beltons Buch nahe.

Für alle die, die diese Entwicklung verschlafen hatten und im Februar 2022 anlässlich von Putins Invasion in der Ukraine verwirrt aufschreckten, nimmt eine zweite ehemalige Moskau-Korrespondentin uns,  das Publikum, mit „Die Ukraine und wir“ an die Hand.[2] Sozusagen eine schnelle Handreichung für Menschen mit schlechtem Gedächtnis oder Wahrnehmungsblockaden. Das schnell nach dem schockierenden Februar-Datum vom Christoph Links Verlag (jetzt bei Aufbau) herausgegebene Buch erfüllt in diesem Sinne durchaus seinen Zweck. Aber es wurden offenbar Versatzstücke alter Texte der Rundfunkreporterin auf die Schnelle mit zuweilen tagesaktuellem, heute schon wieder überholtem Wissen collagiert. Oft hat es auch den Anschein, dass die Autorin Sabine Adler, die auch in einschlägigen Talkshows viel unterwegs ist, und die ihr journalistisches Handwerk noch in der Leipziger Journalistik Sektion („rotes Kloster“) gelernt hat, mit dem Eifer schreibt, der klassischer Weise Renegaten anhaftet. Analytisch springt sie, die „Lehren für die Zukunft“ formulieren will, oft zu schnell - inhaltliche Lücken klaffen sichtbar. Bei der Frage der Nato-Mitgliedschaft (sie sieht Merkels Nein kritisch), fehlt einer der wichtigsten Namen: Der schwergewichtige US-amerikanische Sicherheitsexperte Zbigniew Brzezinski hatte schon Ende der 1990er Jahre die unipolare amerikanische Weltherrschaft, die freedom and democracy garantierte, propagiert. In seinem großen Schachspiel, war es essentiell, dass Russland zugunsten der Westeuropäer seinen Einfluss auf die Ukraine verliere. Schon lange vor Barack Obama wollte er damit die einstige Großmacht in den Status einer eurasischen Mittelmacht verbannen. Das ist sicher keine Rechtfertigung für Putins völkerrechtswidrigen Angriff auf den südlichen Nachbarstaat, aber zum Verständnis der Mentalität der russischen Führung unverzichtbar. Auch das Verständnis – nur ein weiteres Beispiel für relevante analytische Lücken – der Russland-Versteher unter den Sozialdemokraten, von Egon Bahr bis Gerhard Schröder, bleibt merkwürdig unvollständig. Des Letzteren Amtszeit als Kanzler endete bekanntlich 2005. Namen von wichtigen Sozialdemokraten, die danach noch in der Politik prägend waren, sucht man vergeblich. Etwa Matthias Platzeck, kurzzeitig immerhin SPD-Vorsitzender, der als langjähriger Vorsitzender des Deutschrussischen Forums in Wort und Schrift[3] gebetsmühlenartig und ohne viel kritisches Hinsehen, den Dialog mit Russland beschwor. Oder Frank-Walter Steinmeier, erst Außenminister nun Hausherr im Bellevue. An den Aktivitäten des damaligen Außenministers lässt ein weiteres Buch, „Moskau Connection“ allerdings kaum ein gutes Haar.[4] Sein Slogan „Annäherung durch Verflechtung“, eine eher verballhornte Fortschreibung von Bahrs/Brands Formel „Wandel durch Annäherung“ und sein Engagement für die Nordseepipelines habe, wie das anderer Sozialdemokraten, in die verhängnisvolle Abhängigkeit geführt, die Putin glauben machte, er könne gefahrlos in Europa einen Krieg vom Zaun brechen. Das Bändchen enthält viele lesenswerte Details über sozialdemokratische Ostinitiativen – bis hin zu dieser dümmlichen deutsch-russischen Stiftung in Mecklenburg-Vorpommern, die, als hätte es nie einen KOKO-Untersuchungsausschuss über die Gefahr solcher Konstruktionen mit Personen gegeben, ihr Handwerk in kommunistischen Geheimdiensten erlernten. Irgendwie ist das Buch auch nebenher ein gut zu lesendes Sittengemälde einer (überwiegend) Männerclique oft niedersächsischen Ursprungs, bei denen sich Nachsicht gegenüber dem Kommunismus aus Juso-Tagen mit kleinbürgerlichem-provinziellen Stolz auf einmal in der Weltpolitik mitzumischen zu dürfen, mit Eitelkeit, am neuen Moskauer Hof etwas zu gelten, paarten. Dann hört der Spaß freilich auf.  Die Moskau Connection. „Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit“ – Untertitel und Hauptthese des Buches zugleich, verkürzt stark. Wie hieß doch gleich die Kanzlerin von 2002 bis 2021 und welcher Partei gehörte sie an, möchte man die beiden Autoren, die als Journalisten für die FAZ schreiben, rhetorisch fragen. Ohnehin darf bei diesem Thema nicht übersehen werden, dass die Überzeugung, freie wirtschaftliche Betätigung führe zur Freiheit, bereits seit Immanuel Kant, und wiederholt seit den Modernisierungstheorien der 1960er Jahre, zu einem deutschen Mainstream gehörte, der auch die Politik gegenüber Russland prägte – bis zum bösen Erwachen. So einfach ist das alles nicht mit Russland. Deswegen ist ein „Nachdenken über Russland“ lesenswert.[5] Auch wenn nicht alles neue Gedanken und neue Texte sind und es um die Jahreswende 2022/23  veröffentlicht wurde. Was seinen Reiz ausmacht ist, dass der kundige Autor, der eine Zeitlang der maoistischen Altlinken der Bundesrepublik angehörte, die nie mit Moskau etwas am Hut hatte, der Versuchung widersteht, im „Widerschein des Krieges“, so der eigentliche Titel, einfach drauf zuhauen. Das ist Gerd Koenens Sache nicht. Eher im essayistischen Stil und sehr kundig, sucht der Politologe und Publizist nach Erklärungen, wie es zu dem jetzigen verheerenden Schlamassel kommen konnte. In Russland wie auch in Deutschland. Mit geschliffenen wie differenzierenden Formulierungen wie „Abschied vom (deutschen) Russland-Komplex“ oder „Narzissmus der Unverstanden“ (in den russischen Eliten) macht Koenen geistreiche Erklärungsangebote, anstatt scheinbare Gewissheiten auszuposaunen. Wie auch? Wie die letzten 21 Monate gezeigt haben, werden uns weitere bittere Erkenntnisse möglicherweise nicht erspart bleiben.

Die Bücher


[1] Catherine Belton: Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste. Deutsche Ausgabe, Hamburg 2022 (Engl. Erstausgabe 2020) „Putins people“.

[2] Sabine Adler: Die Ukraine und wir. Deutschlands Versagen und die Lehren für die Zukunft. Ch. Links Verlag, Berlin 2022.

[3] Matthias Platzeck: Wir brauchen eine neue Ostpolitik: Russland als Partner. Berlin 2020.

[4] Reinhard Bingener, Markus Wehner: Die Moskau Connection. Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Abhängigkeit. München 2023.

[5] Gerd Koenen: Im Widerschein des Krieges: Nachdenken über Russland. München 2023.