Die Solidarische Kirche als Wegbereiterin der Friedlichen Revolution

Autor Lothar Tautz

Mitteldeutscher Verlag, Halle 2023, ISBN 978-3-96311-658-2

rezensiert von Katharina Kunter

Nach der V. Vollversammlung des „Arbeitskreises Solidarische Kirche (AKSK)“, die Anfang Oktober 1988 in Leipzig stattfand, notierte der Bericht der Stasi zuversichtlich: „Die V. Vollversammlung des AKSK hatte keine Öffentlichkeitswirksamkeit. Teilnehmer aus dem nichtsozialistischen Ausland wurden nicht festgestellt.“[1] Tatsächlich waren die Existenz und die Aktivitäten der Solidarischen Kirche bis Ende der 1990er Jahre, als die Publikationen von Erhard Neubert (1998)[2] und Joachim Goertz (1999)[3] erschienen, einer breiteren, an der DDR-Oppositionsgeschichte interessierten Öffentlichkeit nicht bekannt. Aber bedeutet das Urteil des MfS tatsächlich, dass dieses kirchliche Netzwerk keine öffentliche Wirksamkeit in der DDR entfaltete?

Der Theologe und Mitbegründer der Solidarischen Kirche Lothar Tautz meint nein – und gibt dafür in seinem 2023 erschienenen Buch über die Solidarische Kirche zahlreiche Beispiele. Tautz zeichnet detailliert die Vorgeschichte, die Gründungsinitiative, die Entstehung der Basiserklärung, die sechs Vollversammlungen sowie die Rolle der Solidarischen Kirche in der Friedlichen Revolution aus bislang nicht zusammenführend gesichteten Quellen nach. Dabei konnte er neben den Beständen aus dem Landeskirchenarchiv Magdeburg und den MfS-Akten aus dem Bundesarchiv vor allem auf Dokumente aus Privatarchiven von acht Mitgliedern der Solidarischen Kirche zurückgreifen. Durch sie entsteht nun ein facettenreiches Bild des kirchlichen Arbeitskreises, der weit mehr war als der sperrige Name vermuten lässt.

 

Nicht alles, was Tautz in diesem Band entfaltet, ist neu. Vieles konnte schon durch die Arbeiten von Neubert, Goertz und auch Sachse[4] oder in öffentlichen Zeitzeugeninterviews von Mitgliedern erschlossen werden: die aktive Einbindung und Mitarbeit in diversen oppositionellen Gruppen und Aktionen, die wirkmächtige und aufrichtige Unterstützung kritischer Stimmen und Proteste gegen deren (kirchliche und politische) Ausgrenzung und Diskriminierung und Inhaftierung, die wichtige öffentlich-politische Rolle, die Mitglieder der Solidarischen Kirche bei der Aufdeckung der gefälschten Kommunalwahlen vom Mai 1989 und dann im Herbst 1989 durch ihre Beteiligung in den neuen Bürgerrechtsgruppen und in der SDP spielten. Doch indem Tautz der Entstehungsgeschichte der Solidarischen Kirche breiten Raum in seiner Darstellung einräumt, tritt der kirchliche, emanzipatorische und zugleich basisdemokratische Charakter der Solidarischen Kirche deutlicher als zuvor hervor. Ihre Mitglieder entstammten einer neuen Generation von Theologiestudierenden – sie waren nicht mehr ausnahmslos im an die DDR-Verhältnisse angepassten traditionellen deutschen Protestantismus und seinem hierarchieorientierten Amtsgestus zuhause, sondern suchten als eine ebenbürtige Gemeinschaft aller in der Kirche arbeitenden Menschen nach einem basisorientierten, modernen und authentischen Christuszeugnis. Dazu entwickelten sie im Laufe der Jahre ein alle Regionen der DDR umgreifendes, weitgefächertes kirchliches Netzwerk. Dieses lebte von gegenseitigem Vertrauen, von Kreativität und Diversität sowie von einer starken protestantischen Textorientierung. Die von Tautz ausführlich beschriebenen Gründungsaktivitäten, die sich 1984/85 rund um das Predigerseminar Wittenberg und seine evangelischen Kreise ergaben, und die vielen unterschiedlichen Grundsatztexte, die dort geschrieben, diskutiert und schließlich angenommen wurden, belegen das eindrucksvoll. Da die Mitglieder der Solidarischen Kirche anschließend in der ganzen DDR ihren Dienst taten, entstand im Zusammenspiel von Texten, Diskussionen und diversen regelmäßigen Treffen eine kirchliche Öffentlichkeit, die sich für Solidarität, Demokratie und Verantwortungsübernahme einsetzte, und im Herbst 1989 zu einer politischen Öffentlichkeit wurde. 

In ihren Netzwerkstrukturen glich die Solidarische Kirche in der DDR, auch wenn die politischen Verhältnisse nicht vergleichbar waren, ihren von 1968 inspirierten westdeutschen Brüdern und Schwestern, die im Kontext der Neuen Sozialen Bewegungen in den 1970er Jahren gesellschaftspolitische Reformen durch Netzwerkstrukturen und selbstbestimmte Lebensformen durchzusetzen versuchten. Auch hier waren in verschiedenen landeskirchlichen Zusammenhängen Arbeitsgemeinschaften entstanden, die sich Solidarische Kirche nannten, etwa in Westfalen oder im Rheinland. Sie knüpften an das Erbe der Bekennenden Kirche an, lehnten sich gegen autoritäre Kirchenstrukturen auf, waren aber unkritisch sozialismusaffiner und sehr viel weniger an einer theologischen Vergewisserung ihrer selbst bedacht. Eine der ungeklärten Merkwürdigkeiten besteht darin, dass das MfS die Entstehung der Solidarischen Kirche in der DDR zunächst als einen Ableger dieser westdeutschen Namensvetter deutete (S.74), es aber keine weiteren Berührungspunkte zwischen beiden gab.  

 

Das Buch von Lothar Tautz eröffnet eine weite Perspektive auf das, was theologisch, kirchlich und politisch in den 1980er Jahren in der DDR möglich und nötig war, um evangelische Kirche in einer religionsfeindlichen und autoritären Gesellschaft als einen lebensbejahenden sozialen Alternativraum zu bewahren. Das wäre auch ohne den Herbst 1989 eine bemerkenswerte historische Leistung mutiger und zukunftszugewandter junger evangelischer Menschen in der DDR gewesen. Dass Tautz die Geschichte der Solidarischen Kirche vor allem als eine teleologische, den Herbst 1989 und die Friedliche Revolution vorbereitende Geschichte interpretiert, ist aus seiner Biografie heraus verständlich. Für die damals nicht beteiligten Leser und Leserinnen wirkt es aber normativ, verengend und von heute ausgedeutet. Ebenso haben manche sich wiederholenden Erläuterungen – etwa zu den in der DDR gebräuchlichen Ormig-Druckvorlagen – etwas Belehrendes an sich (die Matrizendrucker gehörten bis Ende der 1980er Jahre zum globalen Standarderlebnis in Schulen, Bildungseinrichtungen und Verwaltungen).

Davon abgesehen ist das Buch sorgfältig lektoriert, flüssig lesbar und enthält neben dem obligaten Abkürzungs-, Literatur- und Quellenverzeichnis ein Glossar, eine Chronik wichtiger Ereignisse der Solidarischen Kirche in der DDR 1983-1989/1990 sowie einige Originaldokumente. Innovativ und weitere Forschungen anregend ist die Verknüpfung von Buch und digitalem Zugriff auf Originaldokumente der Solidarischen Kirche auf der Homepage der Beauftragten des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, auf die man mithilfe eines im Buch enthaltenen QR-Code gelangt. Dieser „Türöffner“ in die schriftlichen Quellen der Solidarischen Kirche leitet die digitale Zukunft von dem ein, was im englischen Sprachraum als „Civic oder Citizen Science“ bezeichnet wird, und was in der Bundesrepublik nur unzureichend mit der Idee der Politischen Bildung erfasst ist. Das Buch von Lothar Tautz ist ein hervorragendes Beispiel dafür. Es ist seinen Lesern und Leserinnen zu wünschen, dass sie sich durch seine Lektüre und ihr eigenes Quellenstudium zur Solidarischen Kirche in der DDR auch in diesen unruhigen Zeiten der 2020er Jahre zu Solidarität, gelebter Demokratie und Mitmenschlichkeit ermutigt fühlen.

 


[1] Vgl. Information Nr. 464/88 vom 2. November 1988 über die V. Vollversammlung des »Arbeitskreises Solidarische Kirche« (AKSK): www.ddr-im-blick.de/jahrgaenge/jahrgang-1988/report/vollversammlung-des-arbeitskreises-solidarische-kirche/

[2] Erhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Berlin 1997 (2. Auflage 1999).

[3] Joachim Goertz (Hg.), Die Solidarische Kirche in der DDR. Erfahrungen, Erinnerungen, Erkenntnisse, Berlin 1999.

[4] Vgl. FN 2 und FN 3 sowie Christian Sachse, Die Rekonstruktion des Politischen. Geschichte und Anspruch des Arbeitskreises Solidarische Kirche, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, Nr. 11, Berlin 2002.