Lutz Rathenow „Trotzig lächeln und das Weltall streicheln. Mein Leben in Geschichten“

Lutz Rathenow „Trotzig lächeln und das Weltall streicheln. Mein Leben in Geschichten“, Kanon-Verlag 2022, ISBN 978-3-98568-050-4

Rezension von Rüdiger Rosenthal

Selbstverständlich bin ich „befangen“ - wenn mein langjähriger Freund Lutz Rathenow zu seinem 70. Geburtstag sein Buch „Trotzig lächeln und das Weltall streicheln. Mein Leben in Geschichten“ herausbringt und es im September 2022 vor einem mit hunderten Menschen gefüllten Saal in der Berliner Kulturbrauerei vorstellt. Ein Buch mit fünf Kapiteln, dessen erste vier vor allem in seiner Geburtsstadt Jena und seiner Wahlheimat Ostberlin, und dessen letzte im vereinigten Deutschland spielen. Bei der Buchpremiere waren auf dem Podium dabei der Fotograf Harald Hauswald, der Historiker Ilko Sascha-Kowalczuk, Lutz Rathenow, der Schriftsteller Marko Martin und die Moderatorin Marion Brasch. Marko Martin hat dem Jubilar ein schönes Nachwort geschrieben. Als früheren Physiker überraschte mich beim Lesen von Rathenows Buch, dass immer wieder physikalische Begriffe und Themen in seinen Texten erscheinen. Von Einsteins Relativitätstheorie über die Raumkrümmung bis zur Zeitdilatation, den Urknall, die Heisenbergsche Unschärfe-Theorie oder dies über Jena: „Von mir aus hätte sich damals meine Geburtsstadt in eine Rakete verfrachten und ins Universum schießen können. Trotzig lächeln und das Weltall streicheln“, der zweite Satz wurde dann zum Buchtitel. Länger habe ich versucht, die Wortverbindung „Schwarzes Loch“ zu finden, denn ich erinnere, dass Rathenow mich einmal ausführlich zu diesem tatsächlich schwer erklärbaren Phänomen befragt hatte. Jena wird schließlich ausführlich als spezieller Ort gewürdigt wie in Texten wie „Der letzte Besuch in der ersten Kommune“ oder - noch im Kapitel 1 - unter Möglichkeiten in „Erinnern – Sehnsucht nach Weltall“. Das „Schwarze Loch“ kommt dann mindestens einmal doch noch vor, als der Autor zusammen mit einer Freundin im neuvereinten Berlin am Alexanderplatz einem vermutlich Obdachlosen begegnet: „Gott, ein ruheloser Irrer, der vom Schwarzen Loch zu Schwarzem Loch rast.“ - denkt er laut.
Auch die Literaturgeschichte kommt vor, u.a. die „utopische Literatur“, die jenseits der Elbgrenze „Science Fiction“ hieß. Stanislav Lem wird als Anreger genannt, gesprochen wird auch von Anti-Utopien anderer Autoren - vermutlich eine Würdigung für George Orwell, dessen Buch „1984“ in der DDR verboten war oder auch Aldous Huxlays „Schöne neue Welt“. Der DDR-Schriftsteller Franz Fühmann, der 1984 starb, nannte sein Anti-Utopien-Buch ironisch „Saiäns Fiktschen“ - es war eines seiner letzten. Und das letzte Buch des bekanntesten SED-Renegaten – Robert Havemann – war ebenfalls eine „Anti-Utopie“. Das Buch trug den Titel „Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg. Kritik und reale Utopie“ und erzählt von einer fiktiven Reise in eine Zukunft, in der kommunitäre Gemeinschaften die Kleinfamilien ablösen und in der die Probleme der Energieerzeugung mittels kleiner Atomfusionskraftwerke gelöst werden. Dies sind vermutlich utopistische Vorstellungen, die wir als seine Leser damals - wenn das bis zum Mauerfall nur im Westen erschienene Buch überhaupt von uns gelesen werden konnte - durchaus teilten und auch lebten. Rathenows Liebe zu den Texten von Daniil Charms hatte er mir schon vor vielen Jahren "verraten". Womit wir wieder zurück in Jena wären. Die Stadt galt ja Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts in der "oppositionellen Blase" als heimliche „Hauptstadt der DDR-Opposition“, wo jedoch nicht wie beim astronomischen „Schwarzen Loch“ alles Licht und damit die Energie darin geschluckt wurde, sondern im Gegenteil, von wo aus Lichter der Erkenntnis und oppositionelle Energien austrahlten und die oppositionellen Gruppierungen in anderen Teilen der größten DDR aller Zeiten inspirierten.
Immer wieder lese ich auch Neuigkeiten in Rathenows Buch, so erfahre ich, dass er Janis Joplin oder Jimmy Hendrix mochte. Da waren mir Joe Cocker, Janis Joplin und Leonhard Cohen näher. Und dann der regelmäßig wiederkehrende scheinbare Sprung in die Neuzeit wie im kurzen Text „Der Herrscher“, der seinen Hund zu allen wichtigen Beratungen hinzuzieht und ihm einen eigenen Palast errichten will. Nicht zu vergessen die Befassung mit der – seit dem Ende des 2. Weltkrieges – regelmäßig wiederkehrenden Kriegsgefahr in Texten wie „Ein böses Ende“, „Drei Generäle“ oder "Ausscheren".
Irgendwann dann, Ende der 70er Jahre, zieht Rathenow nach Ost-Berlin...eines seiner Motive dafür findet sich im Text „Das neue Fahrrad“: Zitat; “...als Dichter kann ich nur in Berlin leben“. Dort findet er Ausstellungseröffnungen, Hinterhoffeste, Geburtstagsfeiern „hinter Türen ohne Namensschildern“ – die Prenzlauer-Berg-Künstlerszene eben, so wie sie war. Und überall stößt er auch gegen die Mauer...überwindet sie endlich Ende der 80er, bei einem ersten Besuch im Westen, der eigentlich lediglich für Österreich genehmigt war und dann mit einer Stippvisite in West-Berlin endete. Die Mauer war da für Rathenow bereits seit langem zu einer sehr speziellen Herausforderung geworden. Er spann über viele Jahre über sie hinweg ein Netz von Kontakten und Schmuggelmöglichkeiten für Texte und Materialien, für Informationen und Literatur und er macht dabei vor allem eines: Er monopolisiert diese Kontakte nicht, sondern vermittelt all sein sich stetig erweiterndes Wissen im Networking und die grenzüberwindenden Wege weiter an KollegInnen der schreibenden Zunft, an unzählige Kontakte in der DDR-Opposition und an westliche Journalisten, die in Ostdeutschland arbeiten durften. Nicht mehr lange und die Mauer fällt – auch deshalb. Rathenow schreibt: „Nein, ich schreibe keine Satiren mehr“. Wenig später: „Die Zeitzünderbombe DDR mit Berlin als Zünder ist durch die Grenzöffnung entschärft worden“. „Nun kann ich jederzeit rüber. Nun würde ich gern einen Tunnel graben, allein die Grenze unterwandern...abseits der Massenbewegungen...Die einzig würdige Art, die DDR zu verlassen, war immer die Flucht.“ Und er zitiert einen Polizisten: „Ich habe mir Mühe gegeben, immer ein Mensch zu bleiben. Heute freue ich mich darauf, ein deutscher Beamter zu werden.“Ein Kaleidoskop seines besonderen schriftstellerischen und oppositionellen Seins bieten die Geschichten, Gedichte und feuilletonistischen Texte Rathenows über seine Kindheit, sein Elternhaus, über Jena, Berlin bis hin zu Einblicken in sein 10jähriges Wirken in Dresden als Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasiunterlagen. Sein Witz scheint dabei immer wieder auf, so war er Ende der 70er und in den 80er Jahren beispielsweise einer der fleißigsten Schreiber sogenannter „Eingaben“ an staatliche Behörden (die einzig erlaubte Form vorsichtigen Protestes in der DDR), die ihre Ziele im Übrigen meistens verfehlten. Anfang der 80er erschien sein Erzählband „Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet“ im Ullstein-Verlag. Ohne Genehmigung durch das in der Ostberliner Dorotheenstädtischen Straße installierte sogenannte „Büro für Urheberrechtsfragen“, was ihn zeitgleich mit Frank-Wolf Matthies („Morgen“ bei Rowohlt) und Thomas Erwin („Der Tag will immer Morgen bleiben“ bei Piper) - beide hatten ebenfalls genehmigungslos erste Gedicht-Bücher in der BRD publiziert - ins Gefängnis brachte. Hier wurde dann Rathenows über Jahre geknüpftes Netz von Kontakten zum Westen dann auch für ihn wertvoll: internationale Proteste führten zu seiner/ihrer Freilassung. Matthies und Erwin reisten in den Westen aus, Rathenow blieb in Ostberlin, machte unbeirrt weiter, bis zum Mauerfall und darüber hinaus. Eigentlich wollte er ja immer in der DDR bleiben, dann aber reiste das ganze Land aus in den Westen und nahm ihn einfach mit. Das Nachwort von Marko Martin hat dieser mit „Ein Troublemaker in der Stadt. Notizen zu Lutz Rathenow“ überschrieben und das trifft es ziemlich genau. Ebenso Martins Bemerkung zu Rathenows „...subversiver Lust am am puren Unruhestiften“ - eine Eigenschaft des 70-jährigen Jubilars, ohne die die Mauer wohl nicht so schnell gefallen wäre wie sie dies glücklicherweise ist.