Walter Ulbricht, Bd. II

von Christian Booß

Die spannendste Periode von Walter Ulbricht ist die zwischen Mauerbau und seiner Absetzung. Was mag den, der die Entstehung der DDR geprägt hat wie kein anderer geritten, gegen Ende seines politischen Lebens Reformen einzuleiten. In den 1960er Jahren, als Ulbricht nach dem Tode des kommunistischen Präsidenten Wilhelm Piek einen Staatsrat geschaffen hatte, dem er dann selbst vorstand, liess manche Empfehlung aus dem Parteiapparat unbeachtet und hörte statt dessen mehr und mehr auf Experten, die ihm Innovationen in Wirtschaft und Gesellschaft antrugen. Dies kam für alle umso überraschender, als Ulbricht kurz zuvor in Moskau die Mauer durchgesetzt und Ende der 1950er Jahre durch ein Intrigenspiel seine Macht gegen Personen in der eigenen Partei verteidigt hatte, die die Entstalinisierung für Veränderungen hatten nutzen wollen. Ulbricht galt als Hardliner und dann das! Im Grunde genommen muss sich jede Ulbricht-Biographie daran messen lassen, inwieweit sie das Geheimnis des Refomers Ulbricht zu erklären und entschlüsseln vermag. Über die Wirtschaftsreformen ist viel geschrieben worden, über die Justizreform rund um die sogenannten Rechtspflegeerlasse des Staatsrates ab 1960 kaum etwas Substantielles. Insofern konnte man darauf gespannt sein, was Sascha Ilko Kowalcuck zu diesem Thema im zweiten Band seiner voluminösen Biographie zu bieten hat. Das entsprechende Kapitel aber ist eine Enttäuschung. Es liest sich wie ein umgekippter Zettelkasten. Die Fakten zum Thema Justizreform Anfang der 1960er purzeln ungeordnet und wenig reflektiert durcheinander. Ratlos bleibt der Leser zurück. War es nun überhaupt eine Reform oder das Gegenteil? Wesentliche Fakten fehlen: Zur neuen Justizsteuerung durch Konzertierung der Justizorgane unter deutlicher Aufwertung des Obersten Gerichtes als Leitinstitution im Zusammenspiel mit der SED. Diese führte mit Hilfe der sogenannten Leiterberatungen zu einer deutlich stärker normenorierten Ausrichtung, sogar der politischen Justiz.[1] Bei Kowalczuk dazu kein Wort. Andere Fakten führen in die Irre. Die Behauptung, dass die politischen Strafverfahren bald auf dem Niveau vom Ende der 1950er waren, ist deutlich zu kurz gesprungen. Weil Kowalchuk sich auf veraltete Sekundärliteratur verläßt,[2] statt die Fakten eigentständig zu interpretieren, entgeht ihm, dass kurz nach einem Verhaftungshoch nach dem Mauerbau die Zahlen der politischen Gefangenen Mitte der 1960er auf ein Niveau absanken, niedrig, wie nie sonst in der DDR. Die Abschreckung der Mauer, aber auch die Justizreform, die stärker auf individuelle Schuldzumessung und Resozialisierung setzte, griffen in dieser Zeit deutlich. Doch wo Kowalczuk keine Justizreform sieht, muss er auch keinen Reformer Ulbricht erklären. Das ist schon angesichts der vielen ausgebreiteten Fakten die große Enttäsuchung bei der ersten Lektüre des zweiten Bandes. Den Schlüssel zur Persönlichkeit des späten Walter Ulbricht hat der Autor offenbar weder im ersten noch im zweiten Band gefunden.

Rezension zu Teil I s. in H-und-G.info

 


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