Freiheitsfuror statt Freiheitsschock[1]

Anmerkungen zu dem neuesten Buch von Ilko-Sascha Kowalczuk[2]

Kurzweilig muss es sein, dann klappt es vielleicht sogar mit der andersdenkenden Nachbarin.

Von Gerold Hildebrand

Ilko-Sascha Kowalczuk ist von einem fundamentalen Freiheitsfuror beseelt und hat einen 220-seitigen Essay über einen aktuell bedrohlich erscheinenden Konflikt geschrieben: Wie erklärt sich das Phänomen des autoritaristischen Wahlverhaltens in den ostdeutschen Bundesländern?

Für seinen Analyseansatz nutzen dem Autor mehrerer Werke über die Geschichte der SED-Diktatur und ihre Widersacher dessen langjährige historische Forschungen.

Er scheut sich im „Freiheitsschock“ auch nicht, geschichtliche Lehren negierende Mitverursacher und Beförderer der ostdeutschtümelnden, autoritären Mentalitätslage namentlich zu nennen. Da bekommen die neuen Ostwilden wie Hoyer, Oschmann, Morina, Erpenbeck, Hüller und einschlägige SED-Chargen ihr Fett weg und der Autor erklärt nachvollziehbar, warum. Eine Streitschrift halt, so wie es sich für einen guten Essay gehört.

Es überwiegen in den neuen Bundesländern zurückgebliebene immobile ostalgische gleichheitssüchtige beratungsresistente böse alte weiße rassistische Männer. Eingeimpft wurden ihnen von den Marxisten-Leninisten ein aggressiver Antiamerikanismus und „Antiwesternismus“ (gemeint ist offenbar das Antiwestliche, Antikapitalistische und Antidemokratische; besser vielleicht „Antiwestenismus“ genannt, was aber auch unscharf und missdeutungsanfällig daherkommt: auch im Osten trägt man Westen) sowie ein verlogener „Antifaschismus“. Und sie sind auch anderweitig diktatursozialisiert, autoritär, uneigenständig abhängigkeitsgewohnt und gefolgschaftsbeflissen zugerichtet. Sie bleiben ihren erlebten und phantasierten Erfahrungsräumen verhaftet, auch wenn diese längst verschwunden sind.

Und sie sind das Hauptproblem in der freiheitlichen Demokratie mit der sie bisher nicht klargekommen sind. Befangen in illiberalem Denken und in mit Rassismus einhergehendem Nationalismus. Das ist Kowalczuks Befund.

Aber was ist mit den Jungwählern, die ebenfalls zunehmend auf Widersacher der herkömmlichen Volksparteien setzen? Kowalczuk macht hier den „Abendbrottisch“ als Sozialisationsinstanz Nummer Eins aus. Doch erklärt das tatsächlich schon alles?

Sind nicht die neuen „sozialen“ Medien ein wirkmächtiger Verstärker und gibt es nicht auch Überforderungen und Zumutungen durch zum Teil verfehltes Regierungshandeln? Und reicht die Kategorie jüngere Wähler nicht sogar bis zu den 59jährigen in Bezug auf die Spitzenposition der AfD?

Abstiegsängste spielen für die Älteren eine immense Rolle. Trotz aller Verwerfungen haben sie sich einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet und sehen den nun gefährdet durch Steuerlast, Inflation, Wirtschaftsflaute und investitionsinvestive Zuwanderung. Die Jungen scheinen eher Zukunftsängste zu plagen. Generation Notwehr? Kinder sind vor diesem Hintergrund eher ein Risiko. Was bedeutet das für die demographische Entwicklung? Die islamistische - keinesfalls antiautoritär zu nennende - clangesteuerte Parallelgesellschaft wird immer sichtbarer. Woher kommt der zunehmende Antisemitismus und Israelhass? In diesem Milieu spielt nicht nur der „Abendbrottisch“ sondern mindestens auch der Frühstücks- und Mittagstisch eine Rolle bei der Weitergabe von demokratieuntauglichen Werten.

Die überhastete Stilllegung von Atom- und Kohlekraftwerken ohne hinreichenden Ersatz trug ebenfalls zur Frustanhäufung bei. Die Bürger fragen sich: Sollen wir uns künftig nur von Wind und Sonne ernähren? Das ist doch nur was für Aussteiger mit ihren geringen Lebenshaltungskosten und ihrem bewusstem Verzicht. Dazu sind wir nicht bereit. So sehen das viele.

Auf diese Problemlagen geht der Autor wie auf die mit Verwerfungen und exzessiven Verboten und Gängelungen verbandelte Corona-Politik nur am Rande ein. Auf den militanten politischen Islam gar nicht. Die ungeregelte Zuwanderung habe weder eine Krise noch Folgekosten erzeugt, die offenkundig Politikfelder wie beispielsweise Wohnen, Gesundheitsfürsorge, Sicherheit, Integration oder Bildung betreffen. Er nimmt eher die durch die Transformation nach 1990 erzeugten Schockwellen in den Blick und arbeitet die so entstandenen Ost-West-Konflikte heraus: Das Erbe der kommunistischen Misswirtschaft plus Globalisierung und rasantem Umbau von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Das ist ja nicht falsch - aber eben nur einer der Aspekte. Ostdeutschland als Labor und Milking Point. Ausgemolken, verarscht und vergessen - das ist die Gefühlslage der in Rede stehenden Ostdeutschen, wiewohl es dafür keine in dem häufig beschworenen Ausmaß realen Gründe gibt.

Auf ein nicht unwesentliches Problem des deutschen Einigungsprozesses weist Kowalczuk dezidiert hin: „Altschulden“ wurden neuen Investoren aus dem Westen, die Betriebe von der Treuhand übereignet bekamen, erlassen, den ostdeutschen Alteigentümern und auch den ostdeutschen Neukäufern jedoch nicht: Eine nicht zu unterschätzende Quelle anhaltenden Unmuts. In dem Zusammenhang erinnert der Autor einen interessanten Zusammenstoß mit dem damaligen Finanzminister Theo Waigel.

Kowalczuk benennt eingangs seine eigene Position und ihn prägende Freiheits- und Demokratietheoretiker. Mill, Popper und Dahrendorf sind nicht die schlechtesten Lehrmeister. Und natürlich der große zeitgenössische Demokratielehrer Gauck, der aber nur spärlich namentlich genannt wird, obwohl viele im Buch formulierte Positionen und Erkenntnisse von ihm schon vor Längerem formuliert worden sind.

Eine Grundbildung in Demokratie-und Freiheitsgeschichte sowie praktische Ausbildungen im Bereich von (Klein-)Unternehmertum, Betriebswirtschaft und Recht hätte mit Sicherheit einigen Ossis geholfen, ihren neuen Weg zu finden nach 1990. Angebote bestanden. Aber dazu hatten sie keine Zeit, stets im Hamsterrad der ABM- und Ein-Euro-Job-Maßnahmen. Auch wenn die Bundesrepublik nun kein Maßnahmestaat oder gar ein Maßregelstaat wie die DDR wurde. Vor allem fehlte nach der SED-Diktatur eine adäquate Re-Education, wie der Autor beklagt.

Uwe Johnson kommt mit seinem Urteil über Ex-DDRler später im Buch immer wieder vor, erst einmal aber Egon Olsen, das Sinnbild des DDR-Menschen, was die Beliebtheit der dänischen Serie erklären mag, wie der Autor vorträgt. Uwe Johnson brachte bereits 1970 das ambivalente infantile Gebundensein der DDR-Verhafteten auf den Punkt. Sie sehnten sich auch nach 1990 zurück in das betreute Gefängnis DDR, ein Phänomen, wie es Hans Fallada beschrieb in „Wer einmal aus dem Blechnapf frisst“. Doch trägt dieser Erklärungsansatz tatsächlich oder trifft er nur für einen Teil der „Ostdeutschtümelnden“ zu? Mentalitätsgeschichte kommt nicht ohne Deutungen aus, die zwar erhellend sein mögen, aber auch nicht generell zutreffend sind. Denn ist nicht gerade der als Gängelung empfundene Politikstil ein Grund für abweichendes Wahlverhalten? Das spräche gegen das Primat der Stockholm-Syndrom- und der Blechnapf-These. Fakt aber bleibt hierbei: DDR-Insassen haben Freiheitsgestaltung nie gelernt.

Ein anderer Punkt ist die Sensibilisierung für Lügen und unwahrhaftige Politik.  Dem Großteil der Ost-Gesellschaft wurde zwar erst im Zuge der Friedlichen Revolution deutlich, dass sie von den Kommunisten jahrzehntelang belogen wurden (von der systematischen Wahlfälschung bis hin zu Korruption und Amtsmissbrauch), aber diese Erfahrung wirkte um so nachhaltiger, da es für die mitlaufende Mehrheit schlichtweg eine böse Überraschung war. Vorher hatten sie alles nur geträumt, sich angepasst und weggeschaut.

Deutlich arbeitet Kowalczuk heraus, dass bezüglich der Friedlichen Revolution ein verklärendes Bild verbreitet wurde und wird: „Alle“ Ostdeutschen waren mal wieder die Sieger der Geschichte, so als ob ausnahmslos alle aktiv dabei gewesen wären, SED und Stasi zu entmachten. Dabei war es nur eine Minderheit und noch einmal eine viel kleinere Minderheit, die die Verhältnisse zum Tanzen brachte (Wahlfälschungsnachweis, Demonstrationsversuche, Flucht, Gründung von Bürgerbewegungsvereinen und nochmalige Demonstrationsversuche). Doch undifferenziert alle Ost-Einwohner wurden nun als „Helden“ gefeiert, obwohl die Masse abwartend erst demonstrierte, als es nicht mehr gefährlich war. 70.000 sind eben viel weniger als 12 Millionen Erwachsene. Und zwei Millionen waren ja noch in der SED und den angeschlossenen Blockparteien.

Auf welche historischen Prägungen und ideologischen Einwirkungen AfD und BSW aufbauen konnten, legt der Autor umfassend dar. Er arbeitet auch heraus, was die beiden extremistischen Parteien eint und gegenseitig auswechselbar macht. Vor allem ihre Affinität zum KGB-Diktator Putin und ihre Verstärkerfunktion für russländische Propaganda. Da schaut der Enkel eines ukrainischen Freiheitskämpfers genau hin.

Doch erklärt das jahrzehntelange Leben unter Diktaturen und die dabei erfahrene ideologische Zurichtung tatsächlich schon alles? Warum finden dann rechtspopulistische bis rechtsradikale Parteien Zuspruch in Ländern mit langen demokratischen Traditionen wie beispielsweise Frankreich, Niederlande, Finnland, Österreich, Schweiz oder Italien? Unterscheiden sie sich grundlegend von AfD und BSW? Immerhin sind sie zumindest nicht so Putin-affin.

Spielen nicht beispielsweise ungeregelte Zuwanderung, eine Zunahme von Kriminalität sowie der übereilte Atomenergieausstieg mit den klimavorsorgebegründeten Preissteigerungen eine entscheidende Rolle, auch wenn es teilweise gefühlte überbordernde Ängste sein mögen? Ging vieles nicht einfach zu schnell (was der Autor nicht  bestreitet) und waren das nicht häufig politische Entscheidungen über die Köpfe der Bürger hinweg? Und was ist mit der kaum kommunizierten und diskutierten bürokratischen Überregulierung durch die EU? Diese Einflussfaktoren auf das erschreckende Wahlverhalten diskutiert Kowalczuk jedoch nicht einmal ansatzweise.

Hinzu kommen linkswoke demagogische Ausgrenzungen und Zuschreibungen - Widerspruch wird zunehmend als „rechts“ klassifiziert, um nicht argumentativ diskutieren zu müssen. Bei linkspopulistischen Aufmärschen wird zugleich eine Gleichsetzung von rechts und rechtsextrem vollzogen, um Andersdenkende diffamieren zu können. Da kann es doch nicht wirklich verwundern, dass das Pendel in die Gegenrichtung ausschlägt und es trotzig heißt: „Dann bin ich eben Nazi!“

Ein starker Kohl, da fühlten sich viele wohl. Ein windiger Schröder fand durchaus seine Wähler. Merkel am Ende nur abwehrende Hände. Ein schwacher Scholz - und schon grollt’s. Das ist aber zu einfach jetzt, auch wenn es sich so schön reimt.

Obwohl er kein Zukunftsforscher sondern Historiker ist, wagte der Autor eine nicht schwer zu formulierende Prognose: Die Grünen werden bei den kommenden Landtagswahlen abstürzen, womit er recht behielt.

Dann benennt er noch die Handvoll Politiker der Linkspartei, die für SPD-kompatibel zu halten wären. Vermutlich erleben wir noch vor der Bundestagswahl entsprechende Übertritte. Diesmal keine Zwangs- sondern eine Notvereinigung in umgekehrter Richtung.

Die kurze Abhandlung könnte durchaus alljenen bei der Entscheidungsfindung helfen, die nicht so recht wissen, ob sie nun AfD oder BSW wählen sollen.

Für fast alle anderen werden mitunter überraschende Ergebnisse vorgehalten, nicht nur durch die immer wieder eingestreuten Anekdoten.

Greifen Sie zu! Die fünfte Auflage ist vorrätig.

Flüssig geschrieben ist das alles - bis auf die vielen störenden genderistischen Sternchens oder die versuchte Umschiffung des generischen Maskulins durch Formulierungen wie „Freiheitseuphorikerinnen und Freiheitsskeptiker“ bzw. „Freiheitsignorantinnen und Freiheitsgegner“ (S. 52). Wer sich vor Rechtschreibregeln geniert genderiert?

Ja, ich kenne das Argument von der „Sichtbarmachung“, aber sollten in dieser Konsequenz nicht auch Ostler „sichtbar“ gemacht werden, indem neben dem Sternchen noch jedesmal ein O steht, zum Beispiel „Vergewaltiger*Oinnen“? Keinen Deut besser wäre das und eine Gleichberechtigung oder stärkere Vertretung Ostdeutscher in den Eliten würde mit solcherlei Sprachmagie ebenfalls nicht erreicht. Und der immer gekünstelt daherkommende woke Sprachgenderismus wird leider gerade diejenigen von der Auseinandersetzung mit den Gedankengängen und Thesen abhalten, die ihre Haltung selbstkritisch reflektieren sollten. Die legen das Buch nach dem dritten Sternchen weg.

Wenige Ungenauigkeiten fielen dem Rezensenten auf. „Für ein freies Land mit freien Menschen“ (S. 44) ist zwar der Titel eines Buches über Oppositionelle in der DDR, die Transparentaufschrift in Leipzig aber lautete „Für ein offnes Land mit freien Menschen“. Das hatten Katrin Hattenhauer und Gesine Oltmanns viel treffender formuliert. Das gemahnte an die für DDR-Insassen verschlossenen Grenzen wie auch an die versagte politische Offenheit für Andersdenkende (Pluralismus, den die Kommunisten bis zu ihrer Entmachtung nicht zuließen), da stand augenscheinlich die Offene Gesellschaft Poppers Pate. Es gab ja auch die „Offene Arbeit“ und die Aufschrift an der Nikolaikirche „Offen für alle“.

Und es gibt ein paar Redundanzen im Traktat, die aber die Vehemenz dessen verdeutlicht, wofür der Autor eintritt: Ohne Freiheit ist alles andere, Frieden eingeschlossen, nichts.

Sympathisch ist, dass der Autor auch eigene Irrungen und Unzulänglichkeiten einflicht. Das ist selten in aktuellen Auseinandersetzungen zu finden.

Der wesentlichste Gedanke in der sozialwissenschaftlich argumentativ unterfütterten Streitschrift ist jedoch, dass es für Ostdeutsche in der bundesdeutschen Demokratie um Anerkennung statt herkunftsvergessenem Anpassungsdruck geht, wobei nicht die Anerkennung von Anpassungsleistungen an das kommunistische System gemeint ist, sondern das wirkliche Interesse für das spezifische So-Geworden-Sein, was Integration und Assimilation befördern könnte.

Und der Essay ist ein aus aufrichtiger Besorgnis geborenes leidenschaftliches Plädoyer für Eigenverantwortung und gegen den grassierenden Freiheitsverrat in der pluralistischen repräsentativen Demokratie.


[1] Erstveröffentlichung in: https://www.weissgerber-freiheit.de/2024/09/29/freiheitsfuror/

[2] Ilko-Sascha Kowalczuk: Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute. München 2024.