
Rede zur Demokratie 2025
von Nino Haratischwili
Die Rede wurde am 9. Oktober 2025 im Anschluss an das Friedensgebet in der Nikolaikirche Leipzig gehalten.
(Foto: deutschlandfunk.de)
Vor wenigen Monaten nahm ich an einer Podiumsdiskussion in Berlin zum Thema »Demokratie in Osteuropa« teil. Ich saß mit einigen Kollegen aus Serbien, der Ukraine, Polen und der ehemaligen DDR auf der Bühne und wir bemühten uns alle, das uns jeweils zugeschriebene »Stück Osteuropa« zu repräsentieren und von unserem jeweiligen (geografischen) Standpunkt aus über die gegenwärtige politische Lage zu berichten.
Das Angebot, über die Demokratie zu sprechen, habe ich seit der russischen Invasion in der Ukraine nahezu ununterbrochen stets mit großer Freude angenommen und als Ehre empfunden. Zum einen, weil ich die Demokratie für eines der höchsten Errungenschaften der Menschheit halte, zum anderen, weil ich selbst über ihre Fragilität geforscht und geschrieben habe und ebenso selbst erleben musste, was es heißt, wenn sie zerstört bzw. nicht vorhanden ist. Aber an jenem Abend überkam mich ein gewisses Unbehagen, zum ersten Mal fühlte es sich für mich unstimmig an, über dieses große Thema von einem bestimmten geopolitischen Winkel aus zu sprechen. Ich fragte mich, was sich auf einmal verändert hatte, warum ich mich in meiner Rolle so unwohl fühlte, bis ich begriff, dass die Gefahr, der die Demokratie heutzutage ausgesetzt ist, längst eine globale geworden ist.
Natürlich sind die spezifischen Herausforderungen jeweils sehr unterschiedlich und natürlich haben wir hierzulande (noch) das Glück, dass wir nicht, wie aktuell in Georgien oder Serbien, für eben diese Demokratie ununterbrochen auf die Straße gehen oder ins Gefängnis wandern müssen, noch dürfen wir all die Privilegien nutzen, die uns ebendiese Demokratie bietet, aber diese Grenze, die es vielleicht all die Jahre gegeben hat, diese unsichtbare und dennoch so klare Linie zwischen der ersten und der zweiten Welt, zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Rechtsstaat und den korrupten Staatsystemen, zwischen der moralischen Überlegenheit der westlichen und der restlichen Welt – diese Grenze scheint meiner Ansicht nach nicht mehr existent.
Deswegen fühlte es sich auf einmal falsch an, von einer erstklassigen und einer Second-hand-Demokratie zu sprechen, wie ich es, seit ich in Deutschland lebe, gewohnt war. Und als wir bei der Diskussion gefragt wurden, was denn nun der Westen aus der östlichen Perspektive sei, staunte ich selbst nicht schlecht, als ich relativ ad hoc antwortete, dass der Westen für mich unter aktuellen Umständen allem voran eine Wertegemeinschaft sei, die gerade vom Osten verteidigt werde – teilweise mit bloßen Händen, nicht selten unter Lebensgefahr.
Als ich das sagte, staunte ich selbst über meine Definition und musste noch auf dem Nachhauseweg über meine eigene spontane Formulierung nachdenken.
Stimmte das oder war es die Summe der Erschöpfung, gar die Resignation, die aus mir sprach, weil ich in den letzten Monaten schon so viel und so oft über die oftmals falsch gedeuteten Zusammenhänge im Osten gesprochen hatte? Lag es womöglich auch an meinem Frust, den ich in letzter Zeit so oft spüre angesichts der westeuropäischen Lethargie und der Brüsseler Bürokratie?
Die Frage hatte mich zum Grübeln gebracht, denn mein halbes Leben lang, seit ich im sogenannten Westen lebe, werde ich unentwegt aufgefordert, den Osten zu definieren, niemals andersherum. Meist soll ich dieses nebulöse Konglomerat aus – ja aus was eigentlich? – erklären. Soll dieses schwer definierbare Gefüge aus postsozialistischen Ländern mit einer ähnlich schwierigen Geschichte, mit fragilen Demokratien, geografischen Reliefs, auf denen der russische Schatten fällt, diese endlose Weite, wo es meistens schneit – zumindest in der westlichen Vorstellung – und wo schwermütig Wodka getrunken wird und wo oftmals recht ungestüme Temperamente am Werk sind, anschaulich machen.
Erst die Existenz des Westens definiert den Osten. Erst die westliche Deutungshoheit schafft diese Trennlinie, die bis heute, wenn auch unsichtbar und nicht mit Stacheldrahtzäunen und Checkpoints markiert, aber dennoch spürbar und real existiert. Die schmerzlichste Trennlinie zwischen diesen kulturellen oder geografischen Landschaften verläuft für mich jedoch ganz woanders. Nämlich in einer gewissen unsichtbaren und ungeschriebenen Hierarchie, die nach wie vor existiert und die besagt, dass gewisse Dinge, die im Osten zulässig sind, für den Westen nicht denkbar sind und andersherum, als würde man unentwegt mit zweierlei Maß messen. Als gäbe es eine Art First- und Second-hand-Europa. Als wäre die östliche Rolle im Weltgeschehen immerzu die des etwas störrischen und nicht ganz so fähigen kleinen Bruders, der dem erstgeborenen Musterkind nicht das Wasser reichen kann. All das kenne ich, all das lebe ich. Die Hälfte meines Lebens, seit ich in Deutschland bin, bin ich in diesem Spalt gefangen, immerzu genötigt, irgendwas zu übersetzen: von Ost nach West, aus einer Kultur in die andere, aus einem Erfahrungskosmos in den anderen. Als wäre es eine ungeschriebene Pflicht für mich als Künstlerin und als Mensch.
Aber wo genau beginnt »der Osten«? Gibt es ein östliches Narrativ? Ist der Osten nur etwas Geografisches? Was verbindet die osteuropäischen Länder, außer ihrem sozialistischen Erbe? Weisen Sizilien und Georgien nicht viel mehr Gemeinsamkeiten auf als Kasachstan und Georgien oder Armenien und die Ukraine? War nicht sogar der Sozialismus in jedem Land unterschiedlich? Ist mir Ost-Berlin nicht auf eine bestimmte Art fremder als Hamburg? Und überrascht es nicht meine deutschen Freunde, die mich in Tbilissi besuchen kommen, wie südeuropäisch die Stadt und wie westlich die Menschen sind?
Wo verläuft also diese Trennlinie? Wo fängt sie überhaupt an? Und gibt es so etwas wie einen kulturellen Raum, der all diese osteuropäischen Länder zusammenfasst?
Ich befürchte, nicht …
Beim »Westen« verhält es sich anders, denn er ist neben einer Wertegemeinschaft eindeutig auch ein gemeinsamer kultureller Raum: Aristoteles ist nicht nur Grieche, Caravaggio ist nicht nur Italiener, Bach nicht nur Deutscher, Van Gogh nicht nur Niederländer, Cervantes nicht nur Spanier, Shakespeare nicht nur Brite, Freud nicht nur Österreicher, etc. Sie sind alle in erster Linie Europäer, sie sind ein fester Teil der sogenannten »abendländischen Kultur«. Will man das auf Osteuropa übertragen, stößt man sehr schnell an seine Grenzen. Um dies zu gewährleisten, müssten wir genügend lettische, rumänische, moldawische, slowakische Autoren kennen,
georgische und estnische Maler, armenische und ukrainische Musiker. Aber das tun wir nicht. Ein Land, dessen Kultur wir alle kennen und das die unsere gut kennt, ist Russland. Russland ist quasi die »fatale Verbindung« zwischen uns allen. Alles, was wir über einander wissen, wissen wir hauptsächlich aus siebzigjähriger Kolonialperspektive.
Die Tatsache, dass das Wort »Kolonialismus« niemals in Bezug auf die fünfzehn der sogenannten »Unionsrepubliken« der Sowjetunion benutzt wird, zeugt von diesem Abgrund, der so viele Jahre nach dem Zusammenbruch der UdSSR immer noch zwischen uns klafft. Nicht nur zwischen Ost und West, auch zwischen Ost und Ost. Mag sein, dass es unser eigenes Versäumnis ist, dass wir es nicht geschafft haben, aus diesem Schatten zu treten, ein eigenes Narrativ zu schaffen, dass wir unserem Leid niemals die gleiche Bedeutung beigemessen haben wie es der Westen tut, dass wir unsere Pein stets irgendwie als minderwertiger erachteten, weil wir die russische Lektion so wunderbar gelernt, den berühmten Mythos der »russischen Seele« inhaliert haben, der ja besagt, dass man sich nahezu frenetisch seinem Leid ausliefern und ihn klaglos erdulden muss. Mag sein, dass wir alle in den letzten sechsunddreißig Jahren mit dem Überleben beschäftigt waren und die historische Aufarbeitung nicht unbedingt Priorität darstellte, aber nun ja, die Versäumnisse müssen wir leider gerade eigenhändig ausbaden. Aber das ist ein anderes Thema.
Bei allem Leid, bei aller Ungerechtigkeit und allem Frust gab es den musterhaften Erstgeborenen, den Westen, zu dem der Osten aufschauen durfte, ein Ziel, dass es zu erreichen galt: so zu werden wie der große, der makellose Bruder, die Eigenschaften und Qualitäten erlangen, die ihm eigen waren, sichtbar werden, heraustreten aus dem Schatten der eigenen Minderwertigkeit. Es gab diesen, womöglich naiven, Glauben, dass die Lektion, die der ältere Bruder aus seiner totalitären Vergangenheit so bitter gelernt hatte, ihn daran hindern würde, jemals auch nur einen Zentimeter von den heilig beschworenen demokratischen Pfaden abzuweichen. Immerzu schien dieser Bruder eine Art Maßstab für die Demokratie zu sein. Allen voran verkörperte er das »Nie wieder« und den Gegenbeweis zu der ewigen These, dass die Menschheit aus der eigenen Vergangenheit nichts lerne. Der ältere Bruder hatte dazu gelernt, zumindest glaubten das viele, mich eingeschlossen. Wir, die Millionen, die es geschafft hatten, sich unter dem Eisernen Vorhang hindurchzurollen, als er sich einen Spalt hob. Wir glaubten, wir könnten von ihm lernen und das erlernte Wissen wie eine Art olympische Fackel in unsere Länder tragen …
Aber auf dem Nachhauseweg nach jener Diskussion und auch jetzt, diese Rede schreibend, dieser ehrenvollen Aufgabe nachkommend, stelle ich fest, wie sehr ich mit meiner Aufgabe hadere, wie sehr ich über dieses einst so heilige Wort »Demokratie« stolpere, wie stark die Risse sind, die mein felsenfester Glaube in den letzten Jahren bekommen hat.
Ich muss zugeben, dass ich eine noch nie dagewesene Überforderung angesichts dieser Aufgabe spüre. Denn die Illusion des Unanfechtbaren liegt in Schutt und Asche. Der Glaube an das »Nie wieder« ist angekratzt. Die Bedrohung ist omnipräsent geworden und dieser Bedrohung ist nicht mehr nur der kleine minderwertigere Bruder ausgesetzt, bei dem es in den letzten Jahrzehnten nahezu naturgegeben erschien, fragil und wankelmütig zu sein. Nein, die Risse haben auch diese unsichtbare Schutzmauer erreicht. Sie verlaufen mitten in der Deutungshoheit jenes rechtsstaatlichen Narrativs. Die Impfung gegen jene antidemokratische Pandemie scheint bei dem makellosen Bruder nicht länger zu wirken. Und ich frage mich, ob die Erkenntnis, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben den sogenannten »Osten« westlicher finde als den Westen selbst, mit der Tatsache zu tun hat, dass der Osten zum ersten Mal seinem musterhaften Bruder etwas voraus hat. Dass er womöglich viel klarer begreift, in welch einer Lage sich die Demokratie aktuell befindet und dass uns Menschen niemand jemals eine Garantie für ein »Nie wieder« geben kann.
Diese Beste aller bislang existierenden Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens gerinnt zu einer zähen Masse, während überall Scheiterhaufen angezündet werden, auf denen alles landet, was mit menschlicher Vernunft, mit Fakten, mit Empathie, mit Toleranz, mit Nächstenliebe, mit Respekt, mit Frieden zu tun hat. Wie Phönixe aus der Asche erwachen längst überwunden und totgeglaubte Formen der toxischen Maskulinität, des enthemmten Patriarchats, der Gewalt, der Propaganda, der Herrschsucht und allem voran der Imperialismus. Und das alles in einem Tempo, dass man beim bloßen Hinschauen außer Atem gerät.
Alles, was ich noch vor wenigen Jahren an dieser Stelle so voller Inbrunst und tiefster Überzeugung zu sagen gehabt hätte, scheint mir widerlegt, negiert, lächerlich geworden. Ich suche nach Worten, die nicht durch irgendein Ereignis der letzten Jahre an Glaubwürdigkeit verloren hätten, die nicht abgenutzt wirken, und ich hadere, ich ringe mit mir. Dabei bin ich keineswegs ein pessimistischer Mensch. Ich bin niemand, die leicht in Apathie verfällt, und doch stehe ich in letzter Zeit oft ratlos da und frage mich, wie das alles so weit kommen konnte. Und woher ich noch den Glauben an eine Wertegemeinschaft aufbringen soll, der mir noch vor wenigen Jahren unerschütterlich schien.
Ich frage mich, aufgrund welcher Hoffnung ich mich hier hinstellen und behaupten könnte, dass die Demokratie eine Lebensform ist, die es verdient, mit allen Mitteln verteidigt zu werden, wenn genau diese Demokratie es 77,3 Millionen US-amerikanischen Bürgern ermöglicht hat, einen korrupten, misogynen, machtbesessenen Populisten und Kriminellen an die Staatsspitze zu wählen, der im Eiltempo ebendiese Demokratie zerstört und Migranten »Menschen aus Irrenanstalten« nennt. Wie soll ich diese Demokratie verteidigen, wenn genau sie es möglich machte, dass im Oktober letzten Jahres in Georgien eine Partei an die Macht festigen konnte – ja, durchaus mit Fälschungen und Wahlmanipulation, aber dennoch –, die uns eigenhändig ins Putin’sche Großreich zurückführt, obwohl eben dieses Russland uns seit zwei Jahrhunderten ausbluten lässt, zuletzt 2008 Bomben auf uns abgeworfen hat und 20% unseres Territoriums mit Stacheldraht umzäunt hält? Wenn sie es ermöglicht, dass 20,8% der deutschen Bevölkerung eine Partei wählt, deren Mitglieder den Holocaust herbeiwünschen, Erschießungen bestimmter Ethnien gutheißen oder Homosexualität strafbar machen wollen. Und ich frage mich, wie ich meinen beiden Kindern im Grundschulalter erklären soll, dass unzählige Menschen offenbar freiwillig in Knechtschaft und Unterdrückung leben wollen. Ja, dass sie diese Knechtschaft sogar demokratisch wählen!
Aufgrund welcher Überlegenheit soll ich über eine östliche Demokratie von einem westlichen Podest hinunter sprechen, wenn ebendiese Überlegenheit sich in den letzten Jahren als eine Farce entpuppt hat? Wenn die Doppelmoral, einer Seuche gleich hierzulande, alles erfasst hat, was wir angeblich verteidigen, wofür wir angeblich einstehen? Einige von uns verurteilen die Waffenlieferungen in die Ukraine, wollen den geblümten Pazifismus mit allen Mitteln verteidigen, aber hatten über viele Jahre kein Problem damit, der zweitgrößte Waffenlieferant für ein Land zu sein, dessen Regierung gerade ein anderes Volk aushungern lässt. Darüber sprechen soll man nicht, denn die gängige political correctness verbietet das Thema. Am wichtigsten ist, dass wir nicht als Rassisten dastehen, das scheint wichtiger, als dem Hungertod von Kindern zuzusehen. Denn offenbar kann man eine Regierung von seiner Bevölkerung nicht trennen. Als wäre ich, eine vehemente Gegnerin der autokratischen und pro-putinistischen georgischen Regierungspartei »Georgischer Traum« (mittlerweile wohl »Albtraum«) Georgienhasserin, weil ich diese Partei kritisiere und gegen sie auf die Straße gehe. Politische Korrektheit ist inzwischen wichtiger geworden als Menschenleben, sofern die Opfer aus keinem »demokratischen« Land stammen. Was eine Demokratie ist, das bemessen aber die G8-Länder: je nach Kaufkraft, vermute ich. Deren Mitgliedsstaat, die USA, einen Präsidenten hat, der von 1973 bis 2016 mit seinen Unternehmen in über 4.000 Rechtsstreitigkeiten verwickelt war, und der Präsident eines weiteren Mitgliedsstaates, Russland, kürzlich in St. Petersburg hämisch in die Kamera grinsend verlautete, dass »alles Russland sei, wo der russische Soldatenstiefel nun Mal hintrete« und der den Müttern von, in der Ukraine getöteten Soldaten Fleischwölfe zum 8. März schenkt.
Wie kann ich nicht an ihr verzweifeln, wenn sie Menschen in Kategorien einteilt und die Empathie je nach Geografie und Hautfarbe einen ganz anderen Preis hat: mal sehr teuer, mal sehr billig. Bestimmte Menschengruppen scheinen offenbar eine Art Kollateralschaden für den „Frieden“ geworden zu sein. Allesamt Iphigenies, die der König und Vater Agamemnon opfern darf – für guten Segelwind, damit seine Kriegsschiffe nach Troia kommen.
Wir verhängen entrüstet Sanktionen gegen den Aggressor Russland, und doch schauen wir abwesend in die Ferne bei der Nachricht, dass die russischen Gaslieferungen innerhalb des letzten Jahres in der EU wieder zugenommen haben. Wie soll ich an irgendeine Idee oder an irgendein Wertesystem glauben, wenn wir in einer derart aberwitzigen Zeit leben, in der die gesamten europäische Rechte von Russland unterstützt und teilweise (mit)finanziert wird und die europäische Linke – aus Prinzip gegen den Amerikanismus und den Kapitalismus – mit dem Sozialismus kokettiert, ihn mit Russland gleichsetzt und für „friedliche Verhandlungen“ Stimmung macht, nicht begreifend, dass man nicht an einem Tisch sitzen und eine kultivierte Konversation mit Menschenfressern führen kann. Wie soll ich nicht verzweifeln, wenn ich immer und immer wieder an der Tatsache scheitere, dass der Westen sich weigert zu glauben, dass der Zerfall der Sowjetunion keineswegs auch den Zerfall des russischen Imperialismus bedeutet. Dass er niemals verschwunden ist und dass er jetzt in einer hybriden und mutierten Form zurück ist, bestärkt und gewachsen am jahrelangen, höflichen Wegsehen! Dass die Sowjetunion nur ein Symptom war, die Krankheit aber der russische Imperialismus heißt. Wie, wenn die westliche Hegemonie im Denken (allen voran bei den Linken) nie durchbrochen wurde, eine Hegemonie, die bis heute besagt, dass das ultimative Böse der Nationalsozialismus und Hitler waren, während der Kommunismus und Stalin immer noch viel weiter unten im „Ranking“ stehen und dass eine Ideologie bis heute losgelöst von der Geschichte betrachtet werden kann! Ja, ich musste zwanzig Jahre in diesem Land leben, um zu begreifen, dass es sogar eine Hierarchie im Bösen gibt, eine Art Kolonialismus des Grauens!
Dabei wird die reale Geschichte der UdSSR und all der anderen Republiken des sogenannten »Ostblocks«, plus China, Kuba, Vietnam, Kongo, all diese katastrophalen Erfahrungen, die nichts mit der naiven, marxistischen Brüderlichkeit und Gleichheit zu tun haben, ignoriert. Eine Hegemonie, die darüber wacht, dass man im Westen niemals ohne den Holocaust über den Nationalsozialismus spricht, aber aus irgendeinem Grund beim Sozialismus zulässt, über die Vorzüge jener Ideologie zu schwadronieren und den Gulag einfach auszublenden, die Millionen Opfer, die bis heute nicht gezählt sind! Wenn man Anne Frank, Primo Levi, Imre Kertész, Paul Celan liest, aber keineswegs Solschenizyn, Schalamow, Ginsburg, Skarga! Denn dann wüsste man, dass es kein Ranking im Bösen gibt, dass der Kommunismus nie eine Alternative war und dass es keine »bessere Diktaturen« gibt. »Für die Gaskammern fehlte uns das Gas«, wie Solschenizyn sagte, um an einer anderen Stelle seines Mammut-Werkes »Archipel Gulag« nahezu prophetisch auszuführen: »Oh ihr freiheitsliebenden, linken Denker! Oh ihr linken Anhänger der Labour Party! Oh ihr fortschrittlichen amerikanischen, deutschen und französischen Studenten. Euch genügt das alles noch nicht. Mein ganzes Buch wird spurlos an euch vorbeigehen. Ihr werden erst dann begreifen, wenn ihr ›Hände auf dem Rücken!‹ selbst durch das Tor unseres Archipels marschiert.«
Wie soll ich nicht verzweifeln, wenn ein westlicher Repräsentant des wohlständischen Bildungsbürgertums bei einer Party mit einem Champagnerglas in der Hand die Vorzüge jenes diktatorischen Systems anpreist, in dem ich meine Kindheit verbrachte und mir erklärt, dass der Kapitalismus einfach so verdammt schlecht sei und dabei einen Kaschmir-Pullover trägt, Urlaub auf den Malediven macht und einen Tesla fährt? Dass unser Leid in schön düsterer Dostojewski-Manier selbstgemacht sei, denn wir hätten schließlich nicht so pathetisch und übertrieben nach Unabhängigkeit streben dürfen, man solle nicht gegen einen Gegner ankämpfen, gegen den man chancenlos sei, rät er mir und zieht elegant an seiner Zigarette, begleitet von einem wärmenden Schluck seines Champagners. Und während er mich zu bekehren versucht und wie einem kleinen Mädchen die Leviten liest, obwohl kaum älter als ich und mit der absoluten Überzeugung, ein Feminist zu sein, denke ich an die Worte der iranischen Produzentin Maral Salmassi und versuche meinen aufsteigenden Zorn mit der Hilfe jener Worte, als wären sie ein Mantra, zu zügeln: »Wir leben in einer Zeit, in der die Neonazis im Kampf gegen die Kolonialisten den Ökoaktivismus imitieren, wo die Feministen vor den Patriarchen niederknien, die Progressisten die Theokraten schützen und die LGBTQI-Aktivisten mit den Islamisten zusammen marschieren, die sie am liebsten hängen würden.« Und ich versuche, innerlich ruhig zu bleiben, versuche, mein Gesicht vorm Entgleisen zu bewahren, lächele sogar noch höflich in meiner altmodischen Erziehung, ich reiße mich zusammen, auch wenn alles in mir danach schreit, dass ich einfach keine Sekunde länger bereit bin, diesen überheblichen Schwachsinn zu ertragen, in dem mir die reichen, westlichen Linken die Vorzüge des Kommunismus erklären, die Brüderlichkeit und Chancengleichheit lobpreisen, ohne auch nur einen einzigen Tag in diesem System gelebt zu haben! Und wenn ich versuche, etwas zu erwidern, muss ich mir anhören, dass das doch »etwas vollkommen anderes« sei.
Nein, es ist nichts anderes. Es gibt nicht zwei Maßstäbe für Humanität, Meinungsfreiheit, für Menschenrechte, keine zweierlei Maßstäbe für Angst, Folter, Tod. Jeder hat nur ein Leben! Ob im Osten, im Westen, im Norden oder im Süden! Würden wir das Leid nicht nach Nationalitäten und Geografien kategorisieren, hätten wir die Geschichte des 20. Jahrhunderts als zwei Seiten der gleichen Medaille anerkannt und keine Hierarchie in dieses verzweifelte, schreckliche, unmenschliche Jahrhundert hineingequetscht, hätten wir ein paar Albträume, die wir heute gezwungen sind zu durchleben, vermeiden können. Denn es gibt kein Besser und Schlechter zwischen Grosny und Guantanamo! Kein Besser und Schlechter zwischen Kolyma und Ausschwitz! Kein Besser und Schlechter zwischen Gaza und Butscha!
Ich will nicht verzweifeln, und doch verzweifele ich, dass wir in unserer demokratischen Hochburg eines der höchsten Güter, nämlich die Meinungsfreiheit, unmerklich mit Zensur belegen. Die Zensur der wohlgemeinten, politisch korrekten Denkweise, eine Art „Naturschutzgebiet“ für das Unbequeme, in dem kein Aber mehr zulässig ist. Wir zensieren die Sprache und zensieren die Geschichte, indem wir gutgemeint das Böse zu tilgen versuchen, als würde dadurch die Geschichte rückgängig gemacht werden? Wir sollen keine Bücher mehr lesen und keine Filme mehr schauen, in denen dieser oder jener Evolutionsfehler vorzufinden ist. Anstatt unserer blutigen Geschichte in die Augen zu schauen, die eigenen Fehler minutiös zu studieren, entscheiden wir stets, Opfer zu sein und stellen die Befindlichkeiten manchmal über die Fakten. Immerzu tippelt man auf Zehenspitzen um das Eigentliche herum, aus Angst, jemand könnte beleidigt sein. Und das tut man natürlich aus einem guten Zweck. Aber was macht es am Ende für einen Unterschied, was die Zensur motiviert hat? Ob ein Autokrat etwas verbietet oder die liberale Gemeinschaft, ist das Ergebnis nicht am Ende das gleiche? Wir streben nach Gemeinschaft, und doch kapseln wir uns unentwegt ab, in Gruppen und noch weiteren Gruppen, in Gemeinschaften von Gleichgesinnten, die aber keine Widerrede, geschweige denn eine andere Meinung dulden. Wir sind alle längst so zart besaitet, dass wir keinerlei Ambivalenz mehr zu ertragen bereit sind, obwohl die Welt und allem voran die besagte Demokratie genau das Aushalten jener Gegensätze bedeutet, das Zusammenfinden auf einen gemeinsamen Nenner. Wir zerfallen in unzählige Fürstentümer, die über kurz oder lang im Clinch miteinander liegen werden, weil jemand ein größeres Schloss und einen besseren Garten hat. Während wir hierzulande über die Vorzüge der Chia- gegenüber den Leinsamen diskutieren, fühlen sich nicht nur in diesem Land, sondern europaweit offenbar Millionen Menschen derartig ausgeschlossen, offenbar so sehr bedroht, so übergangen, dass sie lieber Rechtsextreme an der Macht sehen wollen als länger mit uns zu koexistieren.
Anstatt auf den ideologischen Krieg zu reagieren, in dem wir uns befinden, und ja, für mich ist das einer, anstatt uns zu fragen, wie es zu diesem kolossalen Paradigmenwechsel in der jüngsten Zeit kommen konnte, wie es sein kann, dass die Demokratie wie das Eis in der Arktis schmilzt und wir uns bald in einem Ozean der Autokratie und des Imperialismus wiederfinden könnten, debattieren wir darüber, ob man künftig Tampon-Eimer in den Herrentoiletten braucht.
Ich will nicht verzweifeln, aber ich tue es, und doch, doch weiß ich, dass es keine Alternative gibt, dass ich meinen Glauben wiederfinden muss, dass ich diesen Glauben, wenn nötig, wieder heranzüchten muss, indem ich mich auf all das besinne, was für mich ebendieser Westen irgendwann einmal darstellte. Die Trennlinie zwischen Wir und Sie aufzuheben, Ost und West, Mann und Frau, Schwarz und Weiß, Muslime und Christen. Zum Menschsein zurückkehren. Nur so, scheint es mir, können wir ein gemeinsames Schutzschild erschaffen gegen die Gefahr, der wir längst alle ausgesetzt sind, nämlich die Rückkehr in die Vergangenheit, die gerade wie ein Komet einschlägt und uns zurückzerrt in jene Zustände, die wir glaubten überwunden zu haben. Diese Form der Vergangenheit ist schon an so vielen Orten zurückgekehrt und als Gegenwart proklamiert worden, eine Gegenwart, in der nur noch menschenverachtende Lösungen angeboten werden, nur noch Instinkte und das Recht des Stärkeren zählen. Dort gibt es keine Diplomatie mehr, nur noch Waffen oder Verschwörungstheorien. Keine Empathie mehr, nur noch Gewinne und Rendite. Keine Fakten mehr, nur noch Populismus. Und wir müssen uns endlich aus unserem sicheren Hafen hinauswagen und anerkennen, dass immer mehr Menschen diesem Wahn verfallen, dass diesen „Rattenfängern“ immer mehr Kinder folgen, dass wir uns vereinen müssen und nicht noch weiter auseinanderdriften in unseren Differenzen. Die Idee, die es zu stärken gilt, ist eine Idee der Werte und nicht der nationalen Zugehörigkeit. Und jeder Mensch, unabhängig von seiner Nationalität, der diesen Kampf kämpft, sollte in unsere Gemeinschaft aufgenommen werden, jedes Land, das gegen die Autokratie und den Imperialismus kämpft, unterstützt werden!
Wir müssen uns vor Augen führen, dass Europa keine Burg hinter einem Hochsicherheitszaun ist. Europa ist der Glaube an die Möglichkeit der Demokratie und Vielfalt. Denn diese Idee wird heute stärker denn je, angegriffen, beschossen, zerstört. Innerhalb Europas ebenso wie an seinen Außengrenzen. Diese Idee wird immer überlebenswichtiger, damit die totalitären Mächte nicht noch mehr Territorien schlucken. Die Stacheldraht umzäunten Grenzen in Georgien werden von russischen Soldaten immer weiter nach Belieben ins Landesinnere verschoben. Diese Metapher, die leider keine Metapher ist, ist eine Situation, die wir uns alle vor Augen führen müssen. Denn jedes Zögern, jede Nicht-Handlung von uns ist eine Chance mehr, die den Diktatoren in die Hände gelegt wird.
Es gibt kein »Nie wieder«! Denn »Nie wieder« ist die Verhandlung eines jeden neuen Tages! »Nie wieder« ist das Bezeugen. »Nie wieder« ist eine jede Handlung, die man gegen jede unrechte Tat unternimmt. »Nie wieder« ist das menschliche Gewissen!
Und vielleicht müssen wir alle gemeinsam dieser Idee unsere Hand ausstrecken, ihr aus den Selbstzweifeln und dem Zögern hinaushelfen, sie daran erinnern, dass sie mächtiger ist, als sie sich aktuell zutraut, dass sie stärker ist, als sie denkt. Ihre Möglichkeiten unbegrenzter, als sie annimmt. Sie daran erinnern, dass unzählige Menschen zu ihr aufblicken, für sie auf die Straße gehen, kämpfen. Dass sie handlungsfähiger ist, als sie sich selbst zutraut. Dass wir mehr sind, die sie lieben, als die, die sie hassen.
In jener Nacht vor wenigen Monaten, auf der „poshen“ Party, mit dem mit dem Sozialismus kokettierenden Kaschmir-Malediven-Tesla-Herrn, gab es, nachdem ich mich so lange es ging zusammengerissen hatte, irgendwann einen Moment, an dem ich beschloss, ihm zu geben, was er den ganzen Abend auf mich projiziert hatte: den wilden Osten, die unreflektierte Emotionalität, die Vorzüge eines im Sozialismus und später im Post-Sozialismus-Chaos aufgewachsenen Kindes. Ich beschloss gesamte political correctness jener Umgebung, jene Champagner trinkenden Gala-Ambiente zu vergessen und zu reagieren, wie ich reagieren wollte, zu sagen, was ich ihm wirklich zu sagen hatte. Es war gewiss nicht schön, die um uns herumstehenden Menschen waren vor den Kopf gestoßen, aber ich wollte ihm klar machen, dass das, was er für ein nettes und irgendwie »cooles« Konversationsthema einer Party hielt, für manche, mich eingeschlossen, ihr Leben war und dass er sich gefälligst, wenn schon nicht zu etwas mehr fundiertem Wissen, so doch zu etwas mehr Respekt zu zwingen hatte!
Ich gefiel mir nicht in der Rolle der Rebellin, und doch war es auch ein Befreiungsschlag, ein innerer Triumph, denn ich war ich, ein Mensch, fehlbar, emotional, widersprüchlich, aber ehrlich. Es war mir einerlei, ob er sich beleidigt fühlte, denn alles, was ich ihm in jenem Moment an den Kopf warf, war gelebt, erlebt, es war etwas, was ich 100% bezeugen konnte und dieses Wissen, dieser Glaube, machte mich unerschütterlich. Denn es war meine Wahrheit und ich wollte ihn erreichen, unbedingt erreichen. Ausgerechnet diesen mir zutiefst fremden und nicht einmal sonderlich sympathischen Menschen, den ich womöglich nie mehr im Leben treffen werde.
Und diese Rede schreibend hoffe ich, dass es uns allen, die an ebenjene Demokratie glauben – ob im Osten oder im Westen – gelingt, zu unseren Grundfesten zurückzufinden, zu unserer Wahrheit, allem voran zu unserem Gewissen, ohne die Angst, aus dem sicheren Netz der Doppelmoral zu fallen. Man selbst zu sein ist manchmal das Härteste und Schwierigste, was wir tun können, und doch gibt einem nichts eine solche Kraft, nichts befreit einen so, als zu tun, woran man wirklich glaubt, zu kämpfen, wofür man wirklich einsteht.
Be yourself.