Kuba vor dem Ende?

zur aktuellen Situation im Juli 2021 in Cuba

Von Hannes Bahrmann1

Am 11. Juli 2021 kam es in Kuba zu Massenprotesten. Ausgehend von einem Vorort von Havanna versammelten sich quer über die ganze Insel Zehntausende Kubaner, um gegen die immer unhaltbarer werdenden Zustände im Land zu demonstrieren. Sie riefen „Libertad!“ (Freiheit), „Nieder mit der Diktatur“ und brachten die Herrschenden in arge Verlegenheit. Die Gründe für die Unzufriedenheit sind schnell aufgeführt: Die wirtschaftliche und soziale Lage in Kuba hat die Grenze des Erträglichen wieder einmal überschritten.

Es war das zweite derartige Ereignis in der über 60-Jährigen Geschichte des sozialistischen Landes. Am 5. August 1994 demonstrierten Tausende in den Straßen von Havanna. Damals war das Land wie schon Ende der 1960er Jahre wieder wirtschaftlich am Ende. Mit dem Zerfall der Sowjetunion und des sozialistischen Lagers verlor Kuba seine Unterstützer und fast alle Handelspartner. Die Not war riesengroß: Es wurde gehungert, täglich fiel der Strom aus, der öffentliche Verkehr war zusammengebrochen. Viele wollten nur noch weg.

Zwei Wochen zuvor hatten 70 Bootsflüchtlinge einen Schlepper entführt und waren auf dem Weg zur Südspitze der USA. Die kubanische Marine versenkte das Schiff, wobei 40 Menschen ums Leben kamen. Am Tag der Massendemonstrationen am 5. August 1994 sollte eine Fähre, die in der Bucht von Havanna pendelte, nach Florida entführt werden. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile und Tausende kamen zur Uferpromenade, dem Malecón. Dann wurden Rufe laut: „Libertad! Libertad!“ (Freiheit, Freiheit), „Nieder mit der Diktatur“. Einige Läden, in denen Ausländer für Devisen einkaufen konnten, wurden geplündert, Polizisten angegriffen. Die Führung reagierte wie immer und machte die Tore auf, um die Unzufriedenen loszuwerden. Das hatte sich immer wieder als Ventil zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit in den vergangenen Jahrzehnten bewährt. Einen Monat lang stellte die kubanische Grenzwacht ihren Dienst ein. 33 000 Kubaner verließen die notleidende Insel.

Die aktuellen Proteste gleichen überraschend den damaligen Zuständen. Die Versorgungslage ist katastrophal, Menschen hungern, Stromsperren sind mittlerweile wieder die Regel und die Wirtschaft steht vor dem Kollaps. Eine Währungsreform, mit der zwei parallele Währungen vereint wurden, ging so schief, wie es die Mehrheit der Ökonomen im Ausland vorausgesehen hatte. Die Inflation greift seither um sich, Betriebe gehen pleite und die Landwirtschaft produziert kaum noch Nahrungsgüter. Die Zuckerernte, einst Kubas weißes Gold, ist erneut so schlecht ausgefallen, dass die Insel Zucker einführen muss.

Die US-Regierung unter Präsident Donald Trump verfügte mehrere Strafmaßnahmen, die Kuba neben dem bereits seit 60 Jahren bestehenden Wirtschaftsembargo hart getroffen haben. Die „remesas“ – Unterstützungszahlungen der mehr als zwei Millionen geflüchteten Kubaner an ihre Familien in der Heimat – wurden so eingeschränkt, dass kaum noch etwas ankommt. Die Dimension dieser Überweisungen lag über den Einnahmen des Tourismus und bewegte sich zwischen 3,5 bis 5 Milliarden Dollar pro Jahr. Die Auszahlungspunkte von Western Union auf Kuba mussten auf Anweisung der US-Regierung geschlossen werden. Der Versuch, zur Kompensation den Tourismus auf neue Rekorde auszuweiten, wurde durch Corona jäh gestoppt. Nicht nur kommen keine Touristen mehr ins Land, nun fehlt auch noch den Hunderttausenden Kubanern, die mit Privatherbergen, Restaurants, Taxis oder in den Hotels am Tourismus verdienen, die Lebensgrundlage.

COVID-19 brachte nun das Fass zum Überlaufen. Zunächst schien es, dass Kuba einigermaßen durch die Pandemie kommen würde. Es gab so wenig Erkrankte, dass ein selbst entwickelter Impfstoff an Probanden im Iran erprobt werden musste, um auf die notwendigen Testzahlen zu kommen. Doch nun explodieren die Zahl der Infizierten und der Toten. (Umgerechnet auf die Bevölkerung in Deutschland würden sich hierzulande täglich über 50 000 Menschen am Virus anstecken.) Die Krankenhäuser befinden sich seit langem in einem Zustand, der schon kaum noch den medizinischen Regelbetrieb aufrechterhalten lässt. In der Corona-Krise werden die Zustände für jedermann deutlich.

Jahrzehntelang hatte Kuba mit dem Vermieten von medizinischem Personal in viele Länder die Staatseinnahmen gesichert, in manchen Fällen auch mit Lieferung von Medikamenten, die in Kuba fehlen. Allein mit ihrem engsten Verbündeten Venezuela verdiente Kuba so seit 2006 Milliarden Dollar. Doch auch hier ist der wirtschaftliche Bankrott eingetreten, bleiben Dollar und Erdöl nach Kuba aus.

Die kubanischen Verhältnisse ähneln denen im anderen noch verbliebenen altkommunistischen Land: Nordkorea. Doch während sich die dortigen Machthaber komplett von der Außenwelt abschotten, war dies in Kuba durch die notwendigen Einnahmen aus dem Tourismus nicht möglich. Der entscheidende Faktor für die spontanen und nicht zentral koordinierten Proteste ist in Kuba seit 2018 die Möglichkeit, sich über die sozialen Netzwerke zu verabreden, Proteste und Übergriffe zu dokumentieren und zu teilen. Zwar schaltete die kubanische Führung am Tag der Massendemonstrationen das Internet auf der ganzen Insel ab, doch nachdem die Leitungen wieder frei waren, kursierten massenhaft die Fotos und Filmaufnahmen. Hunderte wurden verhaftet, die ersten sind bereits in Schnellverfahren abgeurteilt und in Haft.

Welche Möglichkeiten hat Kuba, die aktuelle Krise zu überstehen?

Der riesige Polizei- und Sicherheitsapparat ist intakt. Die Dissidenten sind erfasst, die jüngst Demonstrierenden dank moderner Polizeisoftware aus China identifiziert und unter Kontrolle. Die wirtschaftliche Lage bleibt wie sie war – katastrophal. Die Versorgung wird sich eher weiter verschlechtern, als dass eine Besserung in Sicht wäre. Vor über 30 Jahren waren solche Umstände der Zündstoff, aus dem heraus die Mächtigen in der DDR gestürzt wurden. Doch in Kuba wird es voraussichtlich nicht dazu kommen.

Auslöser und entscheidender Faktor des Machtverlustes der DDR-Führung war die Krise in der Sowjetunion und die Kapitulation von Michail Gorbatschow, angesichts der katastrophalen Lage im eigenen Land die DDR weiter zu unterstützen. Der seit Mitte der 1960er Jahren amtierende sowjetische Partei- und Staatschef Leonid Breshnew machte dies einst seinem Amtskollegen Erich Honecker unmissverständlich klar: „Erich, ich sage dir offen, vergiss das nie: Die DDR kann ohne die Sowjetunion, ihre Macht und Stärke nicht existieren. Ohne uns gibt es keine DDR.“

Kuba mit seiner herausragenden geostrategischen Lage 99 Meilen vor der Ostküste der USA ist – im Gegensatz zu 1994 - nicht mehr allein. Es hat zwei mächtige Verbündete: Russlands Präsident Wladimir Putin, der sich nach den Massendemonstrationen öffentlich sofort an die Seite der kubanischen Führung stellte und China, das leise, aber dafür umso wirkungsvoller das Regime in Havanna stützt. Deshalb ist der sozialistische Inselstaat noch lange nicht am Ende.

 

Hannes Bahrmann, ist Lateinamerikaexperte und Publizist, erschienen im Links-Verlag, Berlin 2017

Abschied vom Mythos -Sechs Jahrzehnte kubanische Revolution – Eine kritische Bilanz

Früher war Kuba ein vergleichsweise reiches Land. Das Bruttosozialprodukt lag über dem Mexikos, die Ärztedichte über der in den Vereinigten Staaten, das Bildungswesen war auf dem Niveau Westeuropas. Sechs Jahrzehnte nach dem Sieg der Revolution kann sich das Land nicht mehr selbst ernähren, die Produktivität in der Wirtschaft reicht nur für Löhne von durchschnittlich 25 Euro im Monat. Die Ideale einer sozialistischen Gesellschaft mit großer Gleichheit sind dahin, die sozialen Unterschiede wachsen unaufhörlich. Die politische Macht ist noch est in der Hand der kommunistischen Partei und der Familie Castro. Doch mit der Wiederzulassung kleinerer Privatunternehmen und der Annäherung an die USA beginnt ein Umgestaltungsprozess mit ungewissem Ausgang.