Stellt Corona die Welt auf den Kopf?

Europas Partner, Verbündete und Gegner in den Turbulenzen einer einzigartigen Krise

von Wolfgang Templin. 1.5.2020

Die Welt steht auf dem Kopf. Zahllose Stimmen beschwören die größte Krise der letzten Jahrzehnte, die schlimmste Krise des letzten Jahrhunderts, die gewaltigste Krise aller Zeiten – kein Superlativ fehlt.

Gelenkte Trolle, professionelle Verschwörungstheoretiker und gewöhnliche Idioten überschwemmen die sozialen Medien mit jeder Menge Fehlinformationen und Horrornachrichten. Wer das Ende der Welt auskosten will, kommt auf seine Kosten. Religiöse Ekstatiker wittern ihre Chance, feiern die Pandemie als spirituelles Ereignis, verheißen Vergeltung, Erlösung und den schnellen Weg zu Gott. Rechte und linke Fundamentalisten verfluchen in Deutschland gemeinsam die Diktatur der Europäischen Union und die Einschränkung der Freiheiten, von denen sie selber so reichlich gebrauch machen, und beschwören den Widerstand der Volksgemeinschaften. Die Querfront steht.

Dem Herrn sei Dank überwiegen jedoch rationale Erklärungsversuche und Strategien zum verantwortlichen Umgang mit der Krise und ihren Folgen. Einer Krise, die zweifelsohne Züge des historisch Einmaligen hat.

Ältere Beteiligte geben jedoch zu bedenken, dass eine Pandemie namens Kommunismus mehr als vierzig Jahre lang die Länder Ost- und Mitteleuropas überzog. Leben im Ausnahmezustand sei dort die lähmende Normalität gewesen. So richtig dieser Hinweis ist, taugt er nicht wirklich für den Umgang mit der aktuellen Gefahr.

Gegenüber der Pandemie und ihren Folgen können und müssen sich die Kräfte und Abwehrkräfte von Demokratien bewähren. Demokratien, die seit dem Revolutionsjahr 1989 einen immer größeren Teil des europäischen Kontinents prägen konnten.

Hoffnungen und Illusionen

Gebündelter wissenschaftlicher Sachverstand und modernste Medizintechnik können sich im Kampf mit einer solchen Katastrophe wirkungsvoll behaupten.

Nach Überwindung des ersten Schocks zeigen die Staaten der Europäischen Union, zeigen ihre Politiker, Institutionen und Einrichtungen, mehr oder weniger Handlungsfähigkeit und Solidarität.

Der ehemalige Präsident des Europäischen Rates und derzeitige Vorsitzende der Europäischen Volkspartei im Europaparlament, Donald Tusk, spricht von der entscheidenden Bewährungsprobe für das „Projekt Europa“. Ein Projekt welches den gesamten Kontinent umfasst: Die angestammten Mitglieder der EU, die späteren Neuankömmlinge und die Staaten der östlichen Partnerschaft, die noch vor der Tür stehen.

Tusk weiß, wovon er spricht, denn er hat als Aktivist der Solidarność-Bewegung für die europäische Zukunft Polens und der anderen Länder des Ostblocks gekämpft. Als Politiker hat er Höhen und Tiefen des polnischen Reformweges nach 1989 miterlebt und mitgestaltet. Ab 2014 konnte er schließlich entscheidende Erfahrungen auf der Europäischen Bühne sammeln, während seine erbitterten rechtsnationalistischen Widersacher in Polen die Macht übernahmen. Tusk weiß auch, dass es für einen erfolgreichen Weg aus der Krise nicht nur auf Wissenschaftler, Spezialisten und Berufspolitiker ankommt. Unzählige Bürgerinnen und Bürger und die Initiativen der Zivilgesellschaft beweisen, dass Besonnenheit, Mut und Solidarität genauso ansteckend und sogar stärker sein können als Panik, Feigheit und Egoismus.

Die berechtigten Hoffnungen auf einen guten und möglichst schnellen Ausweg aus der Krise, auf ein besseres Danach, befördern zugleich jede Menge Illusionen.

Einzelne Zukunftsforscher sprechen davon, dass es nach Überwindung dieser Krise viel weniger Streben nach individuellem Besitz und ungebremstem Wachstum geben und dass die Freude am eigenen Gemüsegarten und einem Leben in bescheidener friedlicher Gemeinschaft an diese Stelle treten wird. Ob das die allgemeine Entwicklung sein wird, darf man in Zweifel ziehen. Das Gleiche gilt, wenn Manager des internationalen Vermögensverwalters Black Rock von strengen Compliance-Regeln fabulieren, die ihre Arbeit bestimmten. Zahlreiche Superreiche, welche zur Klientel von Black Rock gehören, pfeifen darauf und haben längst ihre Rückzugsmöglichkeiten und Inselparadiese entsprechend vorbereitet. Und dienstbeflissene PR-Agenturen preisen die Krisengeschenke von Milliardären an.

Skrupellose Akteure, die auch in Zukunft nicht aussterben, haben die Pandemie blitzschnell als lukrativen Markt und lohnende Börsenstrategie entdeckt. Ihre Gier einzudämmen, international organisierter Wirtschaftskriminalität wirksam das Handwerk zu legen, ist eine Aufgabe, vor der die EU-Politik bisher immer wieder kapituliert hat. Das beginnt beim Austrocknen von Steueroasen, innerhalb und außerhalb der EU, dem Ausbau der internationalen Strafverfolgungsbehörden oder hartem Druck auf internationale Wirtschaftskonzerne, ihre Sonntagsreden endlich ernst zu nehmen.

Noch gefährlicher als ökonomische Verwerfungen sind Hoffnungen, die sich auf nationale und internationale Akteure richten, welche eine Wirtschaftslogik und ein politisches Handeln verkörpern, die sich allen Regeln von Demokratie und Rechtsstaat entziehen. Es sind Personen und Gruppen, die als Autokraten, Despoten oder Diktatoren Staaten und Regionen beherrschen, ihr Herrschaftsgebiet zu vergrößern suchen und ihre Herrschaft nicht zuletzt in Corona-Zeiten verewigen wollen.

China ist dafür das beste Beispiel. Hier nahm die Pandemie ihren Anfang und hier wurde sie mit rigorosen Mitteln vermutlich schnell eingedämmt. Vorerst jedenfalls. Die chinesische Führung setzte dafür alle politischen und technischen Möglichkeiten eines rigiden Überwachungs- und Unterdrückungsstaates ein. Die Effizienz einer solchen Politik, wenn dies denn überhaupt zutrifft, hat weniger den Schutz oder das Wohl der Bürger im Sinn, sondern das Überleben des Regimes und seiner Exponenten.

China sieht sich mit seinem Wirtschafts- und Politikmodell als aufstrebende Weltmacht und nutzt die Möglichkeiten seiner gewaltigen militärischen Aufrüstung. Es überzieht alle seine demokratischen Nachbarn mit Gebietsforderungen und setzt sie unter Druck. Ob Japan, Südkorea, das nach Selbständigkeit strebende demokratische Taiwan oder die Bürgerrechtler Hongkongs.

Mit ihrem gigantischen Seidenstraßenprojekt suchen die chinesischen Machthaber einen Weg über die eigene Großregion hinaus, bis nach Europa. Kooperationsangebote und Investitionen, die als Möglichkeiten für Handel und Austausch angepriesen werden, sollen Chinas Einfluss vergrößern. Sie werden in der aktuellen Krise zu Hilfsangeboten stilisiert.

Der angelsächsische Publizist und Autor Edward Lucas konstatierte hier zu Recht, dass China in Bezug auf die EU eine Strategie habe, welche umgekehrt fehle.

Experten, welche lange vor der Krise das chinesische Jahrhundert anbrechen sahen, die Demokratien für zu schwach und unfähig hielten, mit den Herausforderungen der Globalisierung umzugehen, die Europa abschrieben, preisen jetzt die Möglichkeiten diktatorisch-obrigkeitsstaatlicher Politik. Sie sollten sich die Situation chinesischer Bürgerrechtler, unabhängiger Intellektueller und politischer Gefangener vor Augen führen, auch die gigantischen „Umerziehungs“-Lager für die Bevölkerung Uiguriens.

Ein entscheidender Partner und Konkurrent Chinas in dieser angestrebten neuen Weltarchitektur ist Russland unter Wladimir Putin. Er hat in Europa auch außerhalb Russlands zahlreiche Anhänger und Bewunderer.

Mit dem Anteil Michail Gorbatschows am friedlichen Charakter der Befreiungsrevolutionen von 1989 war die Hoffnung auf eine gesamteuropäische Friedensordnung verbunden.

Noch unter Boris Jelzin lebte die Hoffnung auf ein stabiles und demokratisches Russland fort, dass nach dem Zerfall der Sowjetunion zum guten Partner aller kleineren und größeren Nachbarn werden könnte, die sich für den Weg in die Europäische Union und die NATO entschieden. Von welchem dieser Nachbarn hätte die russische Atommacht mit ihrem gewaltigen Potential ernsthaft etwas zu befürchten? Von wem konnte sie eingekreist werden?

Erst das Scheitern Jelzins, das Wirken der Oligarchen und die Niederlage aller demokratischen Reformkräfte schufen eine neue Situation. Nach der Machtübernahme durch Wladimir Putin und die - Silowiki genannten - Seilschaften der militärisch ausgerichteten Institutionen entstand eine Art Synthese aus dem zaristisch-imperialen Russland und dem darauffolgenden sowjetischen Imperium. Zu Beginn wollten viele Beobachter Putins „gelenkte Demokratie“ und die damit verbundene Machtvertikale noch als Versuch einer inneren Stabilisierung sehen. Sehr schnell bekamen jedoch die Ukraine und alle Staaten der Region, die sich in Richtung Europäischer Union orientieren wollten, den imperialen Anspruch dieses wiedererstarkten, autokratischen Russlands zu spüren. Demokratische Kräfte im Innern Russlands und Oppositionelle wurden mit aller Härte bekämpft. Angesichts der Wahl zwischen Straflagern, Todesschüssen und Giftmorden zogen viele Akteure ihren Rückzug vor.

Das Ziel des Kremls nach außen war eine geschwächte und durch innere Konflikte gelähmte Europäische Union, die sich in einen lockeren Staatenbund verwandeln sollte. Die Erosion und letztliche Auflösung der transatlantischen Partnerschaft mit den USA ließe, so die Strategie, die politische Handlungsfähigkeit der EU weiter schrumpfen. Die NATO existierte nur noch als Papiertiger. Die Rückkehr aller formal eigenständigen nahen Nachbarn in eine von Russland bestimmte euro-asiatische Union wäre nur noch eine Frage der Zeit.

Vor dem Ausbruch der Corona-Krise waren Putin und seine engsten Vertrauten darauf fixiert, die letzten demokratischen Elemente ihres autokratischen Herrschaftssystems über Bord zu werfen. Mit der Veränderung der russischen Verfassung sollte der Weg zu einer reinen Präsidialdiktatur freigemacht und die Herrschaft Putins auf Lebenszeit fixiert werden. Daran haben auch die Krise und ihre Wirkung in Russland bisher nichts geändert. Noch ungehemmter als in China werden der Außenwelt gesicherte Informationen vorenthalten, wird die eigene Bevölkerung mit Propaganda statt mit Aufklärung versorgt. Obwohl eigene Kapazitäten zur wirksamen Eindämmung fehlen, brüstet sich Russland mit Hilfslieferungen für notleidende Staaten in Europa und die USA - humanitäre Hilfe als Propagandaaktion.

Viel schlimmer jedoch ist, dass der offene und verdeckte Krieg Russlands gegen die Ukraine, dass der politische und militärische Schulterschluss Moskaus mit Autokraten und Diktatoren im Nahen Osten und anderen Krisenherden ungebremst anhält. An einer solchen Politik prallen Appelle des UN-Generalsekretärs zu einem sofortigen, globalen Waffenstillstand ab. Weder im Donbass, noch in Libyen, noch in Syrien schweigen die Waffen.

In vielen bisherigen weltweiten Konflikten, Krisen und humanitären Katastrophen stießen die Staaten und Institutionen der Europäischen Union an die Grenzen ihrer Einfluss- und Handlungsfähigkeit. Sie hatten nach 1989 alle Hände voll damit zu tun, zahlreiche neue Mitglieder aufzunehmen und als gleichberechtigte Mitgestalter eines neuen Europa anzuerkennen.

Die neuen Mitglieder, von den baltischen Staaten über Polen, Tschechien, Ungarn bis zu Rumänien und Bulgarien brachten aber ihre jeweils eigene nationale Geschichte und Kultur, ihren Eigensinn aber auch die gemeinsame Erfahrung und die Folgeschäden einer jahrzehntelangen kommunistischen Zwangsgemeinschaft ein. Es zeigte sich schnell, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht nur aus Verfahren und Institutionen bestehen, sondern mühsame und langwierige Lernprozesse beinhalten. Das sind, zuweilen unterschätzt, Prozesse, die sich nicht willkürlich verkürzen lassen.

In den letzten fünfzehn Jahren bestimmten ganz verschiedene Dynamiken das Geschehen im europäischen Raum. Alte Süd-Nord Konflikte innerhalb der EU existierten fort, die Eurokrise wollte bewältigt werden, Großbritannien reklamierte seine Sonderstellung und treibt auf den Austritt zu.

Hier wirkte der Druck einzelner neuer Mitglieder, nationale Alleingänge zu proben, ihr Bestreben die Spielregeln zu verändern, mit voller destruktiver Kraft ein. Ein Teil von ihnen hatte die erklärte Absicht, Mitglieder mit allen Rechten und Vorteilen zu sein, sich dennoch geltenden Verpflichtungen zu entziehen, sich im Innern Standards und Regeln zu geben, die nicht mit den demokratischen Werten und rechtsstaatlichen Verfahren der Europäischen Union in Übereinstimmung zu bringen sind. Erfahrene Europäer nannten das „ein Mitfahren in der gemeinsamen Straßenbahn, ohne zu bezahlen“. Dieser Trend hat sich angesichts der als nationale Krise wahrgenommenen Pandemie noch verstärkt.

Wohin das führen kann zeigte Ungarn in aller Deutlichkeit. Mit einer illiberalen Demokratie in ihrer Mitte konnte die EU mehr schlecht als recht leben. Mit einer illiberalen Autokratie kann sie das nicht mehr. Viktor Orban nutzt die Krise, um sein Herrschaftsmodell von weiteren demokratischen Fesseln zu befreien. Er konnte sich damit viel zu lange als Mitglied der konservativen Familie im europäischen Politikbetrieb behaupten. Wenn jetzt Donald Tusk den Ausschluss der Fidesz aus der Europäischen Volkspartei fordert, wenn weitere Sanktionen ins Haus stehen ist das eine überfällige Reaktion und ein hoffentlich wirksames Warnsignal.

Am Kompliziertesten innerhalb der EU ist derzeit die Situation in Polen.

Die Vorreiterrolle der Solidarność im Befreiungskampf der achtziger Jahre und die Energie der polnischen Reformkräfte ließen das Land zu einem der Motoren gesamteuropäischer Integration werden. Polen war ein entscheidender Unterstützer der Ukraine und weiterer osteuropäischer Staaten bei ihrem Weg in die EU. Seine Wirtschaftskraft und die gute Partnerschaft mit Deutschland machten es nach seiner Mitgliedschaft 2004 zum scheinbaren Modellfall gelingender Integration. Polnische Politiker und Kräfte der Zivilgesellschaft unterstützten die „Revolution in Orange“ in der Ukraine entscheidend.

Als Georgien 2008 in eine russische Provokationsfalle lief und die Panzer des imperialen Nachbarn kurz vor Tiblissi standen, war es der polnische Präsident Lech Kaczynski, der den internationalen Widerstand gegen die drohende Okkupation organisierte. Ausgerechnet sein Zwillingsbruder Jarosław treibt jetzt seit zehn Jahren eine Politik voran, die Polen in die Rolle eines selbstgewählten Außenseiters treibt. Die Flugzeugkatastrophe von Smolensk hob einen tiefliegenden Identitäts-Konflikt nach oben, der Polen in seiner jüngeren Geschichte prägte, der die Solidarność-Kräfte nach ihrem Sieg spaltete und auseinandertrieb.

Viele Polen sahen sich als starken, eigenständigen mittelöstlichen Pfeiler und Partner der Europäischen Union, den zentralen Werten der Gemeinschaft verpflichtet. Ein großer anderer Teil der Gesellschaft fühlt sich an nationalkonservative und nationalistische Werte gebunden, er beruft sich auf eine Sonderrolle als Vorposten katholischen Christentums in einer immer gottloser werdenden Europäischen Union. Gestützt auf diesen Teil der Gesellschaft konnten Jarosław Kaczynski und sein rechtskonservatives Parteienbündnis die Fehler und Reformdefizite ihrer liberalkonservativen Vorgänger nutzen und auf demokratische Weise die Macht übernehmen. Ein zunehmender Abbau der Gewaltenteilung, die Umfunktionierung der öffentlichen Medien in Propagandainstrumente der Regierenden, eine Justizreform, welche die Unabhängigkeit der Gerichte in Frage stellt und eine Geschichtspolitik, die längst überwunden geglaubte Feindbilder schürt – all das hatte mit Demokratie nichts mehr zu tun.

Jetzt, auf dem Höhepunkt der Corona-Krise wird versucht, die Präsidentschaftswahl, die zum demokratischen Machtwechsel beitragen könnte, zur Farce zu machen. Ein neuer Höhepunkt, welcher die Schwäche und Zerrissenheit der liberalkonservativen und linken Kräfte zeigt, die das Lager der Opposition bilden. Sollen sie, angesichts eines angekündigten Wahlverfahrens, das weder fairen Wahlkampf noch eine wirkliche Kontrolle des Wahlprozesses zulässt, dem Boykottaufruf ehemaliger Staatspräsidenten und Ministerpräsidenten folgen oder zähneknirschend den Urnengang unterstützen, um nicht aus dem Rennen geworfen zu werden?

Partner, Verbündete und Gegner

In der Ausnahmesituation dieser Krise stehen die politischen und gesellschaftlichen Akteure der EU vor eine Reihe unabweisbarer Fragen:

Welche ihrer eigenen Mitglieder und nahen Nachbarn müssen sie bei aller Auseinandersetzung erreichen und halten?

Auf welche Verbündeten, die ihre eigene Geschichte und Existenz mitbestimmten und ermöglichten, darf sie keinesfalls verzichten?

Wer steht der EU - als wichtiger Nachbar aber zugleich entschiedener politischer Gegner - gegenüber? Gegner, bei denen sie nicht die Illusion hegen darf, sie in ihrer gegenwärtigen Verfasstheit als wirkliche Partner und Verbündete gewinnen zu können?

 

Geht es um unverzichtbare Verbündete, muss der Blick sofort auf die Vereinigten Staaten fallen.

Für die USA kann man darauf setzen, dass dort die funktionierende Demokratie stark genug ist, unberechenbare Idioten wie Donald Trump nicht ewig an der Macht zu lassen. Demokraten von Joe Biden bis Bernie Sanders, Republikaner und unabhängige Kräfte halten am Bündnis mit Europa, am Wert der transatlantischen Brücke, an der internationalen Solidarität angesichts einer einzigartigen Krise fest. Ohne die enge Partnerschaft mit den USA, welche das europäische Einigungswerk vor 1989 erst möglich machte, ist auch die Zukunft des europäischen Einigungswerkes über die alte EU hinaus kaum zu realisieren. Eine solche Partnerschaft auf Augenhöhe erfordert allerdings unbedingt, dass die EU endlich ihre sicherheits- und verteidigungspolitischen Hausaufgaben macht.

Mitglieder wie Ungarn und Polen - es ließen sich hier noch andere Beispiele nennen - sind beschädigte Demokratien, haben aber starke Kräfte der Opposition, eine lebendige Zivilgesellschaft und eine Reihe von Medien, die um ihre Unabhängigkeit kämpfen. Bei Verstößen in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit müssen die Kontroll- und Sanktionsregeln der EU greifen, denn darauf haben die bedrängte Opposition und die Zivilgesellschaft in diesen Staaten ein Anrecht.

Nötig sind Kritik und Konsequenzen, aber ohne die nahezu unerträgliche Selbstgerechtigkeit mancher „alter“ Europäer, die gern über ihre eigenen Probleme hinwegsehen.

Vor allem muss die Bereitschaft vorhanden sein, alle über Jahrzehnte gewachsenen Nachbarschaftsbindungen, die ökonomischen und kulturellen Verflechtungen innerhalb der EU zu erhalten und zu stärken.

Auf Deutschland als nächstem und größtem Nachbarn Polens kommt eine besondere Verantwortung zu. Es war das Wunder der deutsch-polnischen Annäherung und Versöhnung, das den europäischen Integrationsprozess nach 1989 entscheidend vorantrieb. Nach alle dem Ungeheuerlichem, was Hitlerdeutschland seinem polnischen Nachbarn durch seinen Vernichtungskrieg antat, ein wirkliches Wunder.

Wenn sich Konsequenz und Kompromissbereitschaft im Umgang miteinander die richtige Waage halten, werden die Träume Viktor Orbans und Jarosław Kaczynskis langfristig nicht in Erfüllung gehen. Polen ist und bleibt der entscheidende Partner für das Gelingen des weiteren Integrationswerkes im Osten Europas.

Die schwierigste Aufgabe steht der Europäischen Union in ihrem künftigen Umgang mit Mächten wie China und Russland und der Türkei unter Erdogan noch bevor. Enge Kontakte, Gespräche und Wirtschaftsbeziehungen sind notwendig, dürfen aber keine Illusionen darüber nähren, mit welchem Gegenüber es die EU hier jeweils zu tun hat und was die strategischen Ziele ihrer jeweiligen Machtcliquen sind.

Russland versucht die Krise und ihre Auswirkungen zu nutzen, um auf den Abbau und Wegfall der Sanktionen hinzuarbeiten, die aus guten Gründen verhängt wurden. Geboten ist das Gegenteil. Solange Länder wie die Ukraine akut bedroht sind, Russland in zahlreichen schmutzigen internationalen Konflikten präsent bleibt, sich an dort getroffene Vereinbarungen nicht hält und weitere Nachbarländer mit eingefrorenen Konflikten dauerhaft zu schwächen sucht, muss es um eine Schärfung und Verstärkung der Sanktionen gehen.

Sie müssen den Finanzsektor erreichen und die kremlnahen Eliten treffen, die alle Vorzüge der Europäischen Union schamlos ausnutzen. Die Einsatzfähigkeit der Nato an ihrer östlichen Flanke darf nicht zur Disposition stehen. All dies richtet sich nicht gegen die russische Gesellschaft, die unter den Folgen der Krise am meisten leidet und nicht mit dem System identifiziert werden darf. Offenheit in Gesprächen und Verhandlungen, bei klarer Verteidigung der eigenen Werte und Positionen ist eine Sprache, welche den Mächtigen im Kreml eher Respekt abnötigt als Katzbuckelei und Kumpanei.

Entscheidend dafür ist eine koordinierte Außenpolitik der EU, die in entscheidenden Fragen nationale Alleingänge vermeiden muss. Auf solche egoistischen Alleingänge hoffen Putin und seine Silowiki, die gefügige Nachbarn und eine politisch gelähmte EU über alles schätzen.

Menschen wie Wladimir Chodorkowski setzen auf ein künftiges demokratisches Russland als ein Generationenprojekt. Chodorkowski sammelte seine Erfahrungen als Oligarch in der Jelzin-Ära. Ihn konnten Zuchthaus und die Lagerhaft in Sibirien nicht brechen. Er weiß, dass der nähere Weg seines Landes nicht den Spielregeln einer Demokratie folgen wird, dass die nächste und übernächste Machtablösung noch finstere Überraschungen bereithalten kann. Und er weiß auch, welche Einladung zum Tee er lieber nicht annimmt.

Die derzeitige Krise wird die Welt nicht auf den Kopf stellen. Aber sie kann und wird als Katalysator entscheidender Veränderungen wirken. In welche Richtung hängt auch von uns ab.