„Populismus ist ein Syndrom“
Thomas Krüger, der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung antwortet zum Thema: Aufarbeitung von politischem (Rechts-)Populismus.
H-und G.info: Gibt es eine Herausforderung der Aufarbeitung durch den Rechtspopulismus und ist die Aufarbeitung dem gerecht geworden?
Thomas Krüger für die bpb*:
Ich kann hier nur über politische Bildung sprechen. Denn historisch-politische Bildung ist etwas grundlegend anderes als Aufarbeitung. Aufarbeitung hat auch ein geschichtspolitisches Interesse, während politische Bildung darüber hinausgeht. Ihr geht es um einen breiten Horizont, der aus dem Vergangenen Gegenwartsbezüge herstellt und Handlungsoptionen rekonstruiert – vor allem für die junge Generation, für die beispielsweise die DDR oder die NS-Zeit so weit weg sind wie das Mittelalter. Da geht es auch um zeitgemäße Methoden und Formate, vor allem um online-basierte, um sachlich so zuverlässig wie möglich Grundkenntnisse zu vermitteln, die eigene Meinungsbildung ermöglichen sollen. In diesem Sinne beschäftigen wir uns in der bpb auch mit politischem Populismus, ob er nun von rechts kommt oder von links. Wer sich also informieren will und Bildungsmaterial sucht, findet beispielsweise in unserem Web-Dossier www.bpb.de/rechtspopulismus eine ganze Reihe griffiger Backgroundinformationen, Positionen und Definitionen, wie zum Beispiel: „Rechtspopulisten gehen davon aus, dass die Gesellschaft in zwei homogene Gruppen getrennt ist. Dem "reinen" Volk steht eine korrupte Elite gegenüber, amoralisch, im Kern verdorben.“ Mit diesen Spaltungs-Klischees polarisieren Populisten, moralisieren und diffamieren, das zeichnet erfahrungsgemäß rechte wie linke populistische Parteien und Gruppierungen aus.
Was könnte der Grund für Hemmungen sein, dieses Thema anzugehen?
bpb: Wir haben diese Hemmungen nicht, für andere kann ich nicht sprechen.
Manche meinen, es gäbe einen rechten Rand der Aufarbeitung? Gibt es da Besorgnisse?
bpb: In nahezu allen politischen Milieus gibt es in der Regel eine breite Mitte und einen eher rechten oder linken Rand, nicht nur in Parteien, sondern gewiss auch unter Historikerinnen und Historikern oder unter „Aufarbeitenden“. Deren Vielstimmigkeit bilden wir in der politischen Bildung mit ab, sie ist in einer pluralistischen Gesellschaft normal und per se nicht beunruhigend. Schließlich hat jeder das Recht auf seinen eigenen Standpunkt in der Demokratie, mag der in den Augen von anderen noch so wirr sein. Verbieteritis hilft dagegen nicht. Wichtig ist zu vermitteln, beim politischen Diskurs die wichtigste Grundregel aus unserer Verfassung einzuhalten: Die Würde des Menschen ist unantastbar, Herabwürdigendes, Menschenverachtendes und Verletzendes hat weder im politischen Meinungsstreit, Historikerstreit, in Medien oder unter „Aufarbeitenden“ etwas verloren. Letztlich gilt auch: Nur wer demokratisch mit Geschichte umgeht, kann Zukunft gestalten.
Es gibt sogar Einzelne, die haben mit Ihnen die SDP aufgebaut, und gingen bei Pegida mit. Wie passt das zusammen?
bpb: Auch das ist Demokratie. Jeder und jede sind frei, seine oder ihre Meinung zu ändern und einen eigenen Standpunkt zu entwickeln, ob er oder sie sich damit in den Augen alter Weggefährt/-innen eher Respekt verschafft oder blamiert, ist jedermanns eigene Sache. Wichtig ist, einander bei gegensätzlichen Positionen nicht gleich auszugrenzen, sondern argumentativ zu überzeugen, den eigenen Standpunkt noch einmal zu überdenken, und jene zurückzugewinnen, die Populisten auf den Leim gehen. Das geht aber nur mit Überzeugungskraft und nicht mit Moralkeule. Die würden auch Populisten und Populistinnen eher benutzen.
Gibts Versäumnisse der politischen Bildungsarbeit, auch der bpb?
bpb: Allenfalls die, dass wir uns vielleicht zu lange auf die eh schon Gebildeteren als Zielgruppe konzentriert haben. Das hat zu Nachholbedarf geführt, Politik und Geschichte auch in einfacherer Sprache und für viele Altersgruppen zu vermitteln, um nicht nur vorrangig Abiturienten und Abiturientinnen, Studierende oder MultiplikatorInnen zu erreichen. Aber da sind wir in den letzten zehn Jahren sehr einfallsreich vorangekommen, auch unter Nutzung von YouTube und SocialMedia. Allerdings dürfen wir dabei diejenigen, die wir ohnehin schon „an Bord“ haben, nicht vergessen, sondern wir sollten uns ihnen als starke Partner der Zivilgesellschaft anbieten.
Der Terminus Aufarbeitung stammt ja vom Philosophen Adorno, der 1959 befürchtete, dass die ehemaligen Nazideutschen nur vordergründig Demokraten seien. Also forderte er eine Aufarbeitung von tieferen Schichten. Ist auch der Osten nur vordergründig demokratisiert? Was ist die Ursache?
Das sagt sich leicht, aber ich warne vor Generalisierungen wie „Ist der Osten nur vordergründig demokratisiert“, dazu ist der Osten in den vergangenen 32 Jahren zu vielfältig geworden und wird von höchst unterschiedlich herangewachsenen Generationen geprägt, darunter in der DDR-Erlebnisgeneration einstige Systemtreue, Angepasste und ehemalige Oppositionelle aller Couleur. Manchen hat die autoritäre DDR-Diktatur entscheidend geprägt, andere wiederum die verunsichernde Umbruchs-Zeit nach dem Mauerfall. Der teils schmerzhaft erlebte Prozess der Transformation seit 1990 hat ja aus Sicht einiger Wissenschaftler den „Ostdeutschen“ als Sozialfigur erst geschaffen - vor 1989/90 konnte man eine DDR-Identität, zugespitzt, ja allenfalls im ZK der SED feststellen, jetzt ist der „Ostdeutsche“ in aller Munde. Aber den „Westdeutschen“ gibt es in dieser Ausprägung nicht. Dagegen pfeift die nach dem Mauerfall geborene, globalisierte „Generation Internet“ häufig auf die klassischen Ost-West-Klischees. Aber sie bekommt auch die Prägungen ihrer Eltern oder Großeltern mit, die partiell noch immer mit Spätfolgen des rasanten Systemwechsels 1990 zu tun haben und die intragenerationell weitergetragen werden. Eine gänzlich an freiheitlichen Werten orientierte Zivilgesellschaft mit einer vielfältigen Erinnerungskultur wächst da erst generationenübergreifend heran. Zudem dürfen wir nicht vergessen, dass es in einigen ländlichen Regionen einen besonders ausgeprägten „Brain Drain“ Richtung Westen gegeben hat. Zurück blieben vielerorts eher bildungserfolglose Leute, vor allem junge Männer, die dann leicht von rechtsorientierten Gruppen aufgesammelt werden konnten. Davon hat erst die NPD, dann die AfD profitiert. Aber auch unter diesen und ihrem Gefolge darf man nicht pauschalisieren und sie oberlehrerhaft verdammen. Politische Bildung kann aber auf sehr sachlicher Ebene dazu beitragen, Feindbildklischees solcher Gruppierungen zu entzaubern und Propagandamechanismen durchschaubar zu machen.
Dass Menschen angesichts von gesellschaftlichen Veränderungen Besorgnisse haben, kann man ja verstehen, aber warum laufen sie mit Leuten zusammen, die den Staat zerstören wollen? Beunruhigt Sie das?
bpb: In der Tat sind Populisten oft der Wegbereiter von Extremisten, die im Windschatten mitfahren oder sogar an deren Spitze stehen und ihre Anhänger aufpeitschen und instrumentalisieren. Wer sich die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts vor Augen führt, weiß, wie verführerisch Populisten wirken können - und mit welchen Folgen. Aber ich denke, in einer bildungsstarken und pluralen Demokratie erkennen immer mehr Menschen, Demagogie klug von Sachpolitik zu unterscheiden. Ich halte daher das Wachstumspotenzial der Wählerschaft demokratisch orientierter Parteien für deutlich größer. Und sie stellen im Osten bereits über drei Viertel der Wählenden.
Aufarbeitung hat der Natur nach einen historischen Ansatzpunkt, analytisch wie pädagogisch. Was für Ansatzpunkte gibt es da, Ursachen des Rechtspopulismus zu ergründen, wo sollte man historisch ansetzen?
bpb: Ganz einfach mit dem Blick ins Geschichtsbuch. Oder beispielsweise ins Angebot der bpb. Die Konsequenz von Nichtwissenwollen ist immer fatal – wie heißt es so treffend: eine Gesellschaft, die aus ihren Fehlern nichts lernt, erhöht das Risiko, die gleichen Fehler erneut zu begehen. Deshalb ist es auch so wichtig, Geschichtsunterricht an Schulen nicht zu vernachlässigen und an allen Schulformen dafür zu sorgen, dass er nicht nach dem Zweiten Weltkrieg aufhört, sondern mindestens auch den Kalten Krieg mit seinen Ausprägungen umfasst. Gleichwohl muss klar sein, dass Geschichtsunterricht allein nicht helfen wird. Populistinnen und Populisten von heute geben sich viel Mühe, sich von historischen Diktaturen abzugrenzen. Es sind heute auch tatsächlich nicht dieselben Ideologien, aber es gibt strukturelle Gemeinsamkeiten populistischer Ideologien mit historischen Vorläufern, die erstmal erkannt werden müssen.
Manche denken an das immer erwähnte Stichwort der sozialen Benachteiligung. Im Erzgebirge, wo die AfD sehr stark ist, liegt die Arbeitslosenquoten derzeit bei 4,5%. Das ist fast nichts. Glauben Sie wirklich, dass diese Leute AfD wählen, weil z.B. zu wenig Ossis in den Dax-Vorständen sind, oder Universitätsprofessoren? Ist das nicht eher ein Argument was zur Linkspartei passt?
bpb: Ob im Erzgebirge oder anderswo im Osten außerhalb der Ballungszentren: Wir haben es dort mit traditionell strukturschwachen Regionen zu tun, viele Menschen haben dort zwar Arbeit und etwas erreicht, aber große Sorge, es zu verlieren. Nicht nur die NSDAP profitierte damals davon; auch populistische und extremistische Parteien der Gegenwart profitieren von solchen Verlustängsten im bürgerlichen Milieu, wenn die Angst vor Einkommens-, Job-, Eigentums- aber auch Sicherheits- und Freiheitsverlusten wächst. Da fangen Populisten und Populistinnen und Extremisten und Extremistinnen gerne Unzufriedene ab und versprechen ihnen schnelle und meist autoritäre Lösungen. Dass mitunter Stimmung auch damit aufgeheizt wird, die aus dem Westen hätten doch den Osten kaputtgemacht, „wir aus dem Osten wehren uns deshalb“, ist natürlich grotesk, da nicht wenige vom Führungspersonal populistischer und extremistischer Parteien ebenfalls aus dem alten Westen kommen.
Zur pädagogischen Seite: Wie soll man mit dem Phänomen RP umgehen? Empfehlen Sie der Aufarbeitung ein spezielles Angebot. Oder geht die das nichts an? Ist das die Domäne der politischen Bildung?
bpb: Rechts- oder Linkspopulismus halte ich für ein Syndrom, das uns alle angeht. Darüber aufzuklären ist wichtig, sachlich analytisch aber nicht bevormundend mit konkreten Handlungsanweisungen. Wir erleichtern die eigene Meinungsbildung und die Analysefähigkeit, aus der Geschichte zu lernen, wir geben aber keine Meinung vor. Gibt es unterschiedliche Geschichtsdeutungen, spiegeln wir auch die. Und wir gehen einen weiteren Schritt: Politische Bildung ist zwar auch Aufarbeitung, es geht ihr aber darüber hinaus um Empowerment jenseits einer strikten Täter-Opfer-Dichotomie.
Manche scheinen es für sinnvoll zu halten, andere als RP zu entlarven. Bringt das Punkte?
bpb: Das ist nicht mein Metier. Politische Bildung kann helfen, generell politische Mechanismen, Feindbilder und Propagandasprache durchschaubar zu machen. Aber politische Bildung ist nicht dazu da, um Menschen zu etikettieren.
Es gibt Gegenden in Ostdeutschland, da kam die Demokratie nie wirklich hin, nicht nur in der DDR und im NS, sondern, weil da auch zwischen Kaiserreich und NS nicht viel stattfand. Wie sollten da Demokraten wachsen? Gibt es da Erfahrungs- und Bildungsdefizite?
bpb: Vorsicht vor vorschnellen Schlüssen. Demokratie kam durchaus überall in den neuen Ländern an, ja wurde während der friedlichen Revolution auch flächendeckend gefordert, und zur ersten freien Volkskammerwahl im März 1990 lag die Wahlbeteiligung bei über 93 Prozent. Dass Demokratie aber auch anstrengend ist und viel mit zeitraubender Konsens- und Kompromissfindung zu tun hat, war nicht überall geläufig. Vielleicht war das anfangs ein Dilemma vieler Schulen. Nicht alle neuen Bundesländer hatten hier mit gleichem Elan und Tempo entsprechende Lehrpläne entwickelt, um ausreichend über demokratische Institutionen, Prozesse und Werte zu informieren, und um über Totalitarismus und die Verführung zu totalitären Positionen aufzuklären. Dabei darf man eins nicht vergessen: die meisten Menschen im Osten sehnten sich nach Demokratie und dem Recht auf eigene, subjektive Standpunkte, mögen die bei einigen mitunter noch so krude klingen. Dass es bei vielen Menschen im Osten sogar das Bedürfnis gibt, sich politisch zu artikulieren, zu engagieren und sich als mündiger Wechselwähler zu beweisen, ist ureigentlich sogar ein gutes Zeichen. Wenn sich deren politisches Engagement allerdings gegen die Demokratie richtet, muss sich die Demokratie auch fragen: wo haben ihre Repräsentanten und Repräsentantinnen Fehler gemacht, wie kann Demokratie ihre Überzeugungskraft zurückgewinnen?
Es gibt ja bei manchen eine eigene Vorstellung von Demokratie. Eine fast anarchistische Einstellung zu Grundrechten. Man kann sie kurz zusammenfassen: „(Wir sind das Volk.) Der Staat darf uns nichts“.
bpb: Vielleicht wurde bislang auch zu wenig vermittelt: Freiheit hat mit Verantwortung zu tun. Egoistische Selbstverwirklichung schnürt dagegen die Freiheit anderer ein. Freiheit nimmt uns also alle auch in die Pflicht, anders als Anarchie. Letztendlich würde dort Willkür herrschen. Und am Ende der stärkste Anarchist.
Es steht die These im Raum, dass es Leute gibt, mit denen man kaum mehr reden kann. Was halten Sie davon. Gibt es verlorene Seelen, die nur noch ein polizeiliches Problem sind.
Sicher ist es nicht einfach, mit besonders bornierten Ideologen unter Populist/-innen, Extremist/-nnenaber auch Verbreiter/-innen von Verschwörungserzählungen ins Gespräch zu kommen. Aber eine Gesellschaft, die sich als demokratische versteht, muss das immer versuchen, sie darf nie ausgrenzen, wie es zum Kern von Diktaturen gehört. Selbst wenn gerufen wird „Nazis raus!“, muss Gesellschaft auch Antworten auf die Frage finden, wohin? Wie kann sie diejenigen für die Demokratie zurückgewinnen? Darüber reflektieren wir zu selten.
Die Qualität von Staaten wie der Bundesrepublik liegt ja in einem irgendwie austarierten Verhältnis aus Demokratie und rechtsstaatlichen Institutionen und Regeln. Vom zweiten Teil wollen manche nichts hören. Sind das nicht schlicht auch Bildungsdefizite?
bpb: Nun sind das keine Antipoden. Es gibt keine Demokratie ohne Rechtsstaatlichkeit und keine Rechtsstaatlichkeit ohne Demokratie. Viele Extremisten wissen genau, was sie leugnen und gegen welche Regeln sie im Rechtsstaat verstoßen. Sie wollen gezielt provozieren und brechen Gesetze bewusst. Erst vor Gericht gestellt ist Ihnen der Rechtsstaat plötzlich lieb und teuer, dann lassen sich beispielsweise Auschwitzleugner oder Leugnerinnen unter Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten gerne langwierig verteidigen.
War es ein Fehler, dass in Ostdeutschland nicht NS und DDR-Diktatur gleichzeitig aufgearbeitet wurden.
Vielleicht fing mancherorts in Schulen die Kommunismus-Aufarbeitung etwas später an, weil einige ältere Lehrerinnen und Lehrer Angst vor der Frage ihrer Schüler/-innen hatten: Wie haben Sie sich denn vor 1989 verhalten? Aber der Mauerfall ist 32 Jahre her. Längst haben wir eine neue unbefangene Lehrer/-innengeneration, die teilweise sehr kreativ ist, im Umgang mit diesen beiden Themen, rege mit Ihren Schüler/-innen Gedenkstätten besucht, deren pädagogische Arbeit nutzt und auch bei uns Lehrmaterial anfordert und an Geschichtswettbewerben teilnimmt. Und politische Bildner haben sich schon immer um beide Komplexe gekümmert, auch in Kombination. Dazu ein Beispiel aus dem Angebot unseres Stasi-Dossiers im vielfältigen Angebot der bpb: Da nimmt ein Beitrag auch die Frage von Schülerinnen und Schülern auf, was die Gestapo vom MfS unterschied, das wird sehr profund von Experten der Stiftung Topografie des Terrors beantwortet, nachlesbar unter: www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/stasi/224017/stasi-gestapo. Auch das gehört zur politischen Bildung.
Die Fragen stellten Christian Booß. Sie wurden am 20.8. 2021 schriftlich beantwortet.