Ungarn und andere europäische Kopfschmerzen

Zwei politische Skizzen

Von György Dalos1

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Mit der vierten Regierung unter Führung der Fidesz-Partei im Sommer 2018 mussten selbst deren erbittertste Gegner einsehen, dass es sich hier um etwas Stabiles, Dauerhaftes handelte, das durch gewöhnliche Mittel der Demokratie und vierjährige Wahlperioden nicht aufgehoben werden konnte. Regierungschef Viktor Orbán selbst, bestätigte diesen Sachverhalt, in seiner berühmten Rede vom Sommer 2014. „Was heute in Ungarn vor sich geht, kann so gedeutet werden: Die jeweilige politische Führung versucht den engen Kontakt zwischen persönlicher Arbeit und den Interessen der Menschen, die man akzeptieren muss, und mit dem Leben des Gemeinwesens, der Nation aufrechtzuerhalten und zu verstärken. Die ungarische Nation ist keine bloße Ansammlung von Individuen, sondern eine Gemeinschaft, die man organisieren, stärken und bauen muss. In diesem Sinne ist der neue Staat, den wir heute in Ungarn aufbauen, ein illiberaler Staat, kein liberaler Staat. Er leugnet nicht Grundwerte des Liberalismus wie die Freiheit, macht jedoch diese Ideologie nicht zum zentralen Element der staatlichen Organisation, sondern verwendet eine davon abweichende nationale Annäherung.“
Interessant an dieser Selbstdefinition ist nicht so sehr das merkwürdige Beiwort „illiberal“, das praktisch die Verstärkung der Machtbefugnisse des Staates auf Kosten der Bürgerrechte bedeutet, sondern der Begriff „der neue Staat“, die Ankündigung eines Staatswesens, das offenbar keine Kontinuität zu dem vor 2010 brauchte. Und da sich dieser Staat laut Orbán noch im Aufbau befand, organisiert und gestärkt werden sollte, musste man davon ausgehen, dass die Agenda der Neubildung längere ungestörte Zeit erforderte. Der nationale Rahmen war die Differentia specifica, die den neuen Staat von anderen, etwa liberalen Staaten unterschied. In dieser Doktrin steckte der historische Anspruch, nach der Ära Horthy (1919-1944), der Epoche Rákosi-Kádár (1948-1989) und den so genannten „chaotischen zwei Jahrzehnten“ (1990-2010) eine Ära Orbán aus der Taufe zu heben. Wohlgemerkt fehlt in der Definition des Ministerpräsidenten das Wort Demokratie. Sicher wollte er damit nicht sagen, er sei „im Prinzip“ kein Demokrat, sondern eher, dass die „Volksmacht“ für sein Konstrukt irrelevant ist.

Eine „Ära“ ist ein zeitlicher Raum, aus dessen Fenstern man höchstens die je nach Weltanschauung oder Geschmack verklärte Vergangenheit, aber keine Zukunft sieht – allenfalls wenig fundierte Zukunftsversprechen, in denen vor allem ständige Gegenwart obwaltet, die Verhaltensmuster, Gewohnheiten, Technik, Kommunikation, Kultur und Tradition neu prägen. Sie wird von einem historischen Klimawechsel begleitet, der einen traurigen biologischen Aspekt hat: Das Verschwinden der älteren Generation mit ihrem Geist und den auf frühere Epochen zurückblickenden Erfahrungswelten. Dieser Prozess vollzog sich in den letzten Jahren in Ungarn rasant – besonders verlustreich für Literatur und Philosophie. Der Tod von Imre Kertész (2016), Péter Esterházy (2016), György Konrád (2019) und Ágnes Heller (2019) markierte den Verlust von Persönlichkeiten, die in Ungarn jahrzehntelang als Wegweiser und Repräsentanten der demokratischen europäischen Werte gedient hatten.

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Den Vordenkern von Fidesz schwebte bei ihrer Vision anhaltender Herrschaft die Ära des sogenannten Reichsverwesers Horthy vor, den Orbán als einen „Ausnahme-Staatsmann“ rühmt. Allerdings dachte man dabei nicht an die terroristischen Anfänge und den katastrophalen Untergang des Regimes, sondern an dessen konsolidierte mittlere Phase, eine parlamentarisch verzierte Autokratie mit vielen feudalen Relikten, aber auch gewissen funktionierenden Institutionen. Horthy ist in den Augen der Fidesz-Ideologen ein Kreuzritter des Antibolschewismus, der Mann, der sich an die Spitze des vom Westen gedemütigten Ungarns stellte. Aus den Zeiten der seligen k.u.k-Monarchie akzeptieren die alternden Jungdemokraten von Fidesz den eisernen Regierungschef Stephan Graf Tisza als Vorbild, dessen Denkmal nun neben dem des Fürsten Franciszek Rákóczi und des Revolutionsführers Lajos Kossuth den Platz vor dem Parlamentsgebäude ziert. Dies gehörte zum großangelegten Rekonstruktionsplan des Kossuth-Platzes in Budapest und seiner Umgebung, dessen erklärtes Ziel sich darin erschöpfte, „den Gesamtzustand von vor 1944“ wieder herzustellen.
In diesen Kontext passten jedoch einige frühere Standbilder nicht mehr. So verbannte man die Statue des Grafen Károlyi, Tiszas Hauptgegner und Präsident der Ersten Republik, nach Siófok am Plattensee, der marxistische Philosoph Georg Lukács landete im Denkmalpark am Stadtrand. Der allgemein geliebte Lyriker Attila József, eine Zeitlang Mitglied der illegalen Kommunistischen Partei, wurde an das Donauufer versetzt. Imre Nagy, kommunistischer Regierungschef während des Volksaufstands 1956, erhielt seinen neuen Standort einige hundert Meter entfernt vor dem Haus der Abgeordneten, ehemals Sitz des Zentralkomitees der KP. Am ehemaligen Standort seines lebensgroßen Denkmals wurde nun das seinerzeit 1934 in Anwesenheit von Horthy eingeweihte „Monument der Nationalen Blutzeugen“, der Opfer der Räterepublik von 1919, rekonstruiert. Auf dem nahen Szabadság-tér (Platz der Freiheit) entstand 2014 das Mahnmal für die „Opfer der deutschen Besatzung“ – ein vermutlich ungarischer Engel mit dem Reichsapfel in der Hand wird von dem reichsdeutschen Adler bedroht. In ungewollter Komik steht das schwer kitschverdächtige Denkmal nun in der Nachbarschaft zum sowjetischen Heldenmonument, das wegen der guten Beziehung zu Putins Russland als unantastbar gilt.
Diese eklektisch-symbolischen Handlungen, die künstliche Verehrung von bestenfalls anachronischen Gestalten in der Zeit der neuen Medien, wurden ebenso wie die massenhafte Umbenennung von Straßen und Plätzen von heftigen Protesten begleitet. Darum scherte sich die Regierung keineswegs – warum sollte sie auch? Die NGOs, die Open Society Fundation, die CEU, auch die europäischen Volksparteien wurden „gestoppt“ – wer kann denn einen Viktor Orbán aufhalten?

Spätestens seit der globalen Finanzkrise 2008/9 musste deutlich werden, auf welch dünnem Eis sich die europäische Solidarität bewegte. Die Verschuldung des Kontinents betraf am stärksten den südlichen Raum – Portugal, Spanien, Italien und, besonders dramatisch bis hin zur Staatspleite, Griechenland. Hier zeigte sich auch am schnellsten die soziale Erosion, so die enorme Jugendarbeitslosigkeit, und die politischen Folgen in Gestalt des linken und rechten „Populismus“ – Strömungen, in denen sich berechtigte Kapitalismuskritik mit einer Überdosis von Demagogie vermengte. Die gemeinsame Währung ließ in der Eurozone die tiefen Divergenzen der Einzelstaaten in Bezug auf wirtschaftliche Leistung und Wohlstandsniveau besonders sichtbar werden.
Die Europäische Union nach 2010 agierte, verglichen mit ihrer Anfangsphase vor Maastricht, in einem veränderten politischen Umfeld. Russlands Aufstieg, seine Expansion in Georgien 2008 und in der Ukraine 2014 sowie die amerikanische Aufkündigung des noch mit Gorbatschow ausgehandelten Atomabkommens 2019 schufen eine Atmosphäre, die Assoziationen zu den Jahren des Kalten Kriegs hervorriefen. Insgesamt brachte der Zusammenbruch des Kommunismus nicht den ersehnten Weltfrieden. Außerdem hatte Wladimir Putin einiges für die ehemaligen Sowjetrepubliken und Ostblockstaaten im Angebot: Neben Kernenergie-Kooperationen wie im südungarischen AKW Paks, nördlichen und südlichen Pipeline-Projekten auch eine Orientierung, wie sie die EU gelegentlich am Nasenring vorführen können.
 

Eine weitaus größere Herausforderung bedeutete die Flüchtlingskrise. Anders als in den ehemaligen Ostblockstaaten, welche die Quotenregelung ablehnten, war die Migration für westliche EU-Länder eine reale Angelegenheit – gewissermaßen die Rückkehr der ungenügend reflektieren Dritte-Welt-Problematik. Das Erscheinen der Geflüchteten vor allem in westeuropäischen Metropolen löste hier einen Kulturschock aus, der sogar unabhängig von der tatsächlichen Gefahrenstufe Mehrheiten gegen die Einwanderung mobilisierte. Die Tatsache, dass parallel zu dem Migrationsprozess islamistischer Terror in Europa virulent wurde, lenkte die Aufmerksamkeit auf die Herkunft der Migranten inklusive ihrer Religion und Hautfarbe – IS-Anhänger und IS-Opfer fielen dabei häufig in dieselbe Kategorie. Hierdurch generierte Kollektivängste veränderten die politischen Kräfteverhältnisse zu Ungunsten der alten Parteien. Rechtskonservative oder rechtsradikale Kräfte erhielten einen deutlichen Vorsprung und führten in einigen Ländern zu einer Halbierung der politischen Lager, die sich durchaus mit denselben Vorgängen in Polen oder Ungarn vergleichen lässt.
Der härteste Schlag – Großbritanniens Ausstieg aus der EU – hing zum Teil ebenfalls mit Migration zusammen, allerdings weder mit der aus Syrien noch aus Afghanistan, sondern mit der Arbeitsmigration der Polen, Balten, Bulgaren, Rumänen, Slowaken und Ungarn, insgesamt 1,2 Millionen Zuwanderern, die sich im Inselstaat niedergelassen hatten. Sie waren keine politischen Flüchtlinge, sondern gewöhnliche Arbeitsnehmer mit ihren Familien, und in manchen Berufen, etwa als Ärzte, waren sie sehr gefragt. Aus schwer nachvollziehbaren Gründen gerieten sie und andere, die mit einem EU-Reisepass in England arbeiteten, in den Mittelpunkt der sozialen Rivalitäten, obwohl die Arbeitslosenquote in Großbritannien eine der niedrigsten in der EU war. Auf der politischen Bühne zeigte sich die Stimmung an dem Wahlsieg der Torys 2015, die wiederum unter dem Druck der rechtspopulistischen Independence Party bereits 2013 ein Referendum zum Verbleib in der EU in Aussicht gestellt hatten. Das Versprechen wurde im Juli 2016 eingelöst, und den Wählern wurde die Frage gestellt: „Soll das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union bleiben oder die Europäische Union verlassen?“ Bei einer Beteiligung von 72 Prozent votierten knapp mehr als die Hälfte für die zweite Variante. Darauf folgte der qualvolle Prozess der Abnabelung vom Kontinent m politischen Jargon Brexit genannt. Großbritanniens Chancen und Risiken werden unterschiedlich eingeschätzt, für die EU war die Sezession eine eindeutige Niederlage. War sie sein Menetekel für eine von den Rändern, auch im Süden und Osten bedrohten Union? Vieles muss neu überlegt werden, um die drohende Erosion aufzuhalten.
 

1Ungarischer Oppositioneller und Schriftsteller, lebt in Berlin