Aufstieg und Machtübernahme der NSDAP in Sachsen

von Clemens Vollnhals

Nirgends prallten während der Weimarer Republik die politischen Extreme so stark aufeinander als im Freistaat Sachsen, nirgends waren die gesellschaftlichen Spannungen so scharf ausgeprägt, die politische Kultur der unterschiedlichen sozialmoralischen Milieus so gegensätzlich verfasst.1

Im hochindustrialisierten Sachsen besaß die deutsche Arbeiterbewegung eine ihrer traditionsbewussten Hochburgen; es war aber auch eine Region, in der die Nationalsozialisten überdurchschnittliche Erfolge zu erringen vermochten.2 So stimmten bei der Reichstagswahl im Juli 1932 in Sachsen 41,2 Prozent der Wähler für die NSDAP, im Wahlkreis Chemnitz-Zwickau waren es sogar 47 Prozent. Für die bürgerlichen Parteien war diese Wahl ein wahres Desaster: Sie erreichten in Sachsen nur noch 8,9 Prozent, während sie im Reichsdurchschnitt noch 23,8 Prozent der Wähler auf sich vereinigen konnten. In starkem Kontrast dazu stand die Behauptung des sozialistischen Wählermilieus. Für die SPD stimmten 28,4, für die KPD 17,4 Prozent. Damit standen sich am Ende der Weimarer Republik unverändert zwei große Blöcke gegenüber – jedoch mit einem entscheidenden Unterschied: Die NSDAP hatte die Fragmentierung und Zersplitterung des bürgerlichen Parteiensystems überwunden, sie allein repräsentierte jetzt den „anti-marxistischen Block“.

Kennzeichnend für die Anfänge der NS-Bewegung, die 1921 in Zwickau ihre erste Ortsgruppe außerhalb Bayerns gründen konnte, war der hasserfüllte Antisemitismus: „Die Juden sind unser Unglück“ war eine Parole, die bereits im Wilheminischen Kaiserreich die politische Kultur geprägt und den antisemitischen Parteien gerade in Sachsen zeitweise beachtliche Wahlerfolge beschert hatte.So war es kein Zufall, dass der erste internationale „Antijüdische Kongress“ 1882 in Dresden tagte, der einzigen größeren Stadt, in der eine Koalition aus Konservativen und antisemitischen „Reformern“ die Politik bis zum Ende des Kaiserreiches bestimmen sollten.3 Als Inbegriff eines primitiven Radau-Antisemitismus galten schon damals die Publikationen des von Theodor Fritsch geleiteten Hammer-Verlags in Leipzig. Neben der gleichnamigen Zeitschrift gab Fritsch u.a. das berüchtigte „Handbuch zur Judenfrage“ heraus, das erstmals 1887 unter dem Titel „Antisemiten-Katechismus“ erschienen war und bis 1944 49 Auflagen erleben sollte. Hitler selbst bekannte im November 1930, als die 30. neu bearbeitete Auflage herauskam: „Das ‚Handbuch der Judenfrage‘ habe ich bereits in früher Jugend in Wien eingehend studiert. Ich bin überzeugt, dass gerade dieses in besonderer Weise mitgewirkt hat, den Boden vorzubereiten für die nationalsozialistische antisemitische Bewegung.“4 Als der „Altmeister der völkischen Bewegung“ im September 1933 im Alter von 80 Jahren verstarb, glich seine Beisetzung einem Staatsbegräbnis, an dem die gesamte sächsische Gauleitung der NSDAP teilnahm; ebenso würdigten Hitler und Goebbels in Beileidstelegrammen nochmals seine Verdienste.5

 

Es war das nationalistisch-völkische Milieu vor Ort, das nach Kriegsniederlage und Revolution die NS-Aktivisten der ersten Stunde hervorbrachte. So entstammte der Gründer der ersten Ortsgruppe in Zwickau, Fritz Tittmann, dem „Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund“. Auch der Plauener Textilindustrielle und spätere Gauleiter Martin Mutschmann entstammte diesem Bund, der 1919 aus dem Alldeutschen Verband hervorgegangen war und vielerorts als Keimzelle der NS-Bewegung wirkte. Mutschmann zählte unter den NS-Führern zur älteren Generation, die von ihrem beruflichen und sozialen Herkommen keine gesellschaftlichen Außenseiter darstellten. Er war „ein ordentlicher, brutaler Führer“, wie Goebbels 1925 in seinem Tagebuch anerkennend festhielt, der als treuer Paladin Hitlers seine Stellung als Gauleiter trotz zahlreicher Querellen und Skandale bis 1945 zu behaupten vermochte. Wie viele „alte Kämpfer“ war Mutschmann ein fanatischer Antisemit, der in aller Öffentlichkeit damit drohte: „Der Tag der Abrechnung wird kommen und die Synagogen werden in Rauch aufgehen.“6

Nach der Wiedergründung der NSDAP 1925 besaß die Partei in Sachsen 35 Ortsgruppen mit rund 3000 Mitgliedern, wobei die regionalen Schwerpunkte eindeutig im Erzgebirge und im Vogtland lagen. Eine Hochburg stellte das Gebiet um Plauen dar, wo die Völkischen bereits bei der Reichstagswahl im Mai 1924 19 Prozent der Wählerstimmen erzielt hatten. Bei der Landtagswahl im Oktober 1926 erreichten die Nationalsozialisten jedoch nur 1,6 Prozent der Stimmen und zwei Landtagssitze. Gleichwohl verhieß diese Wahl für die Demokratie nichts Gutes: Denn mit dem sprunghaften Wahlerfolg der rein wirtschaftlich orientierten Interessenparteien (Wirtschaftspartei und Reichspartei für Volksrecht und Aufwertung) zulasten der staatstragenden bürgerlichen Parteien – Deutsche Demokratische Partei (DDP) und Deutsche Volkspartei (DVP) – setzte in Sachsen bereits im Herbst 1926 der Zerfall der bürgerlich-demokratischen Mitte ein; zudem war ein Drittel der Wahlberechtigten erst gar nicht zur Stimmabgabe erschienen.

In dieser Zeit erlangte die NSDAP auch die Vorherrschaft im völkisch-nationalistischen Lager. Die Stärke der NS-Bewegung gegenüber konkurrierenden Organisationen beruhte nicht auf einem unverwechselbaren ideologischen Profil, das immer diffus blieb, sondern auf ihrem kämpferischen Aktivismus. Die Verbindung von charismatischer Führerherrschaft und gläubiger Disziplin verlieh der NS-Bewegung eine spezifische Dynamik, ließ sie zum Kristallisationszentrum eines neuen, sozial ungebundenen Nationalismus werden, der sich entschieden vom alten Nationalismus wilhelminischer Prägung und dem honoratiorenhaften Politikstil völkischer Vereine und bürgerlicher Rechtsparteien abgrenzte.

Bei der Landtagswahl 1929 erzielte die NSDAP 5,0 Prozent der Stimmen und zog mit fünf Abgeordneten in den sächsischen Landtag ein. Aufgrund des Patts zwischen der bisherigen Regierungskoalition (2. Kabinett Held: ASP7 und alle bürgerliche Parteien – 46 Sitze) und der Linken (45 Sitze) wurde sie zum Zünglein an der Waage. Denkbar war im Grunde nur eine Große Koalition mit der SPD, wie sie 1924 bestanden hatte, oder die Fortsetzung des „antimarxistischen Bürgerblocks“ mit Beteiligung oder zumindest Tolerierung der NSDAP. Die erste Variante, die angesichts der einsetzenden Wirtschaftskrise aus staatspolitischen Gründen höchst wünschenswert gewesen wäre, scheiterte jedoch an der Intransigenz der industrienahen DVP wie dem linken SPD-Flügel. Nach zwei gescheiterten Wahlgängen wurde schließlich Wilhelm Bünger (DVP) mit den Stimmen der NSDAP zum Ministerpräsidenten gewählt. Die neue Regierung stürzte jedoch schon Mitte Februar 1930 über einen Misstrauensantrag der NSDAP, der auch von den Koalitionspartnern Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und Sächsisches Landvolk unterstützt wurde. Es war die NSDAP, die dem Bürgerblock die Bedingungen diktierte.

Bei der Landtagswahl im Juni 1930 erreichte die NSDAP auf Kosten der bürgerlichen Parteien 14,4 Prozent und rückte mit 14 Sitzen nach der SPD zur zweitstärksten Partei auf. Der tiefgreifenden Erosion des bürgerlichen Parteiensystems, die in Sachsen seit 1926 unübersehbar war, stand eine bemerkenswerte Konstanz der politischen Linken gegenüber, die ihr gemeinsames Stimmenpotential von rund 45 Prozent (SPD 33,4%, KPD 13,6 %) seit 1920 mit nur geringen Schwankungen halten konnte. Es war der Kontrast zwischen der Stabilität des linken Wählerblocks und der offenkundigen Zersplitterung des eigenen Lagers, der in bürgerlichen Wählerschichten tiefe Verunsicherung auslöste. Es war somit nicht allein die Weltwirtschaftskrise, die Sachsen aufgrund seiner Wirtschaftsstruktur in besonderem Maße traf, sondern auch die Schwäche der bürgerlichen Parteien, die den Aufstieg der NSDAP beförderten. Angesichts der extremen Polarisierung und des in Sachsen besonders stark ausgeprägten Lagerdenkens stellte allein die NSDAP als neue nationale Sammlungsbewegung für weite Wählerschichten eine politisch attraktive Alternative dar. Nur zwei Jahre später, bei der eingangs erwähnten Reichstagswahl von Juli 1932, sollte die NSDAP dann in Sachsen 41,2 Prozent der Wählerstimmen erhalten, während die bürgerlichen Parteien auf klägliche 8,9 Prozent dezimiert wurden und die wirtschaftlichen Splitterparteien in der Bedeutungslosigkeit versanken.

Im Unterschied zu den personell überalterten bürgerlichen Parteien war die NSDAP die Partei der jungen Generation. In einer Zeit, als der Rundfunk noch keine große Rolle spielte – vom Fernsehen ganz zu schweigen – stellte die permanente Mobilisierung und Propaganda, die auch die kleinsten Dörfer erreichte, die Aktivitäten aller anderen Parteien weit in den Schatten. Spektakulär waren auch die Deutschland-Flüge Hitlers, die eine völlig neuartige Form des Wahlkampfes darstellten. Damit erreichte Hitler an einem einzigen Tag, am 3. April 1932, mit Großkundgebungen in Dresden, Leipzig, Chemnitz und Planen nach Angaben der bürgerlichen Lokalpresse 160.000 Zuhörer, die NS-Presse sprach gar von 280.000. Die großen Massenveranstaltungen symbolisierten Tatkraft und Energie, sie steigerten den Nimbus Hitlers als eines entschlossenen, dynamischen „Führers“.

Wie Wahlanalysen zeigen, entwickelte sich die NSDAP ab 1930 zu einer „Volkspartei des Protests“, die ihre Wählerschaft aus allen sozialen Schichten rekrutierte. Zwar blieb der Mittelstand weiterhin überrepräsentiert, doch ein Viertel der NSDAP-Wähler waren Arbeiter. Die Gewinne der NSDAP zwischen 1930 und 1933 stehen in einer engen Korrelation zu den Verlusten der bürgerlichen Parteien und zur Mobilisierung traditioneller Nichtwähler. Die Wählerschaft der SPD und der KPD zeigte sich hingegen vergleichsweise weniger anfällig. Einen genaueren Einblick in die Wanderungsbewegung gibt eine detaillierte Analyse der Reichspräsidentenwahl 1932. Für Hitler stimmten danach im 2. Wahlgang in Sachsen 48 Prozent der DNVP-Wähler, 32 Prozent der Wirtschaftspartei sowie 46 Prozent der Nichtwähler von 1930. Der prozentual höchste Zulauf kam mit 73 Prozent aus der früheren Wählerschaft der übrigen Splitterparteien, der geringste von DVP (12 %) und DDP (11 %). Aber auch von der SPD-Wählerschaft von 1930 stimmten im April 1932 19 Prozent für Hitler als Reichspräsidenten, bei den Kommunisten waren es 13 Prozent.8 Wenngleich die nachträgliche Analyse der Wählerbewegung gewisse Unschärfen enthält, so lassen sich die Trends doch eindeutig ablesen: Anders als noch 1930, gelang es der NSDAP 1932 Wähler von allen Parteien und aus allen sozialen Schichten, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, zu gewinnen. Den größten Anteil innerhalb der NSDAP-Wählerschaft stellten frühere Nichtwähler und die Wähler der wirtschaftlichen Interessenparteien, einschließlich des Sächsischen Landvolkes, wobei der Mittelstand eindeutig dominierte. Ehemalige Wähler der SPD und der KPD stellten ungefähr ein Fünftel aller NSDAP-Wähler.

Untersucht man das Wahlverhalten der Arbeiterschaft, so lässt sich ebenfalls ein Trend klar erkennen. Bei der Reichstagswahl 1930 stimmten in Sachsen etwa zehn Prozent der Arbeiter für die NSDAP, zwei Jahre später lag der Anteil bereits bei einem Drittel. Bei der Märzwahl 1933 stimmten 40 Prozent der Arbeiterschaft für die NSDAP, für die SPD 23 und für die KPD 22 Prozent.9 Die vielbeschworene Arbeiterklasse war kein homogener Block, sondern sozial stark ausdifferenziert und in unterschiedliche politische Milieus fragmentiert. Allem Anschein nach gelangen der NSDAP überall dort größere Einbrüche in das Wählerreservoir der SPD und KPD, wo vor Ort kein dichtes sozialistisches Vereinsmilieu bestand. Dies galt für das Erzgebirge und das Vogtland, während in Leipzig, in Freital und anderen Wählerhochburgen mit einem starken Organisationsgeflecht der Arbeiterbewegung die Milieus lebensweltlich so vernetzt waren, dass sie weitgehend immun blieben. Das Ausmaß der Arbeitslosigkeit hatte hingegen auf den Erfolg der NSDAP keinen signifikanten Einfluss. In Gebieten mit besonders hoher Arbeitslosigkeit schnitt sie sogar schwächer ab, da die Arbeitslosen bevorzugt KPD wählten. Als Resümee lässt sich festhalten: Die NSDAP war nach 1930 die Volkspartei des Protests, deren Wählerschaft sich nicht auf den Mittelstand oder das Kleinbürgertum beschränkte, sondern auch einen hohen Arbeiteranteil aufwies.

Als die NSDAP bei der folgenden Reichstagswahl im November 1932 erstmals deutliche Verluste einstecken musste – in Sachsen fast 5 Prozent – , war der Zenit überschritten. Für eine Bewegung, die ganz auf permanente Agitation und Mobilisierung ausgerichtet war, musste der erstmals ausbleibende Erfolg schwer am „Führer-Mythos“ zehren. Schon vor der Wahl berichtete die Presse von zunehmenden innerparteilichen Spannungen, häuften sich Meldungen über Austritte aus der SA und NSDAP in Dresden, Leipzig und Plauen. Insbesondere der selbstherrliche Führungsstil Mutschmanns, das undurchsichtige Finanzgebaren und „Bonzentum“ der Gauleitung riefen zunehmend Kritik hervor. Hinzu kam, dass die gesamte Partei nach dem Rücktritt Gregor Strassers in einer schweren Krise steckte: die Finanzen waren nach einem Jahr permanenten Wahlkampfes erschöpft, der Nimbus Hitlers stark angeschlagen. Die Hoffnung, auf parlamentarischen Wege über Wahlen die Macht übernehmen zu können, war Ende 1932 definitiv gescheitert. Viele zeitgenössische Beobachter rechneten deshalb mit einem baldigen Niedergang und Zerfall der NS-Bewegung, zumal sich die Konjunktur langsam erholte.

Anders als im Reich, wo sich die Präsidialkabinette in rascher Folge ablösten, wies das Beamtenkabinett Schieck, das seit 1930 in Sachsen als Geschäftsführende Regierung die Staatsgeschäfte führte, eine bemerkenswerte Stabilität auf. Die Regierung Schieck, die aufgrund der Pattsituation nach der Landtagswahl von 1930 bis zur Auflösung des Sächsischen Landtages am 31. März 1933 im Amt blieb, lebte von der staatstragenden Tolerierungspolitik der SPD und besaß ihren parlamentarischen Rückhalt bei den bürgerlichen Parteien, die vor allem die Furcht vor Neuwahlen zusammenhielt. Wenngleich das Interesse am Fortbestand der Regierung Schieck primär negativ definiert war, so verhinderte in diesem Punkt doch der punktuelle Konsens zwischen den bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie eine Regierungsbeteiligung der NSDAP, die deshalb in Sachsen – anders als im benachbarten Thüringen – keinen direkten Zugriff auf die Landespolitik erlangte. Im Falle vorzeitiger Landtagsneuwahlen hätte allerdings die NSDAP triumphiert: Sie war am Ende der Weimarer Republik die stärkste Partei; sie war die Partei, die die antidemokratischen Ressentiments, die nationalen Sehnsüchte und die soziale Proteststimmung breitester Schichten bündelte – daran kann kein Zweifel bestehen.

Gleichwohl wird man festhalten müssen: Erst das Bündnis der alten Herrschaftseliten mit der NS-Bewegung, personifiziert in der Kamarilla um den greisen Reichspräsident Hindenburg, besiegelte mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 den Untergang der Weimarer Republik.

Die Hoffnung der Regierung Schieck, mit einem zurückhaltenden Kurs und betonter Neutralität im Amt verbleiben zu können, sollte sich nicht erfüllen. Bereits am 21. Februar 1933 verbot Reichsinnenminister Wilhelm Frick (NSDAP) alle Versammlungen der KPD im Freistaat und machte damit unmissverständlich deutlich, dass die neue Reichsregierung vor Eingriffen in Landesbefugnisse nicht zurückscheute. Am 1. März verbot die Landesregierung sämtliche Versammlungen und Druckerzeugnisse der KPD und leitete am nächsten Tag, dem Beispiel Preußens folgend, die Aufstellung einer Hilfspolizei ein, die von der SA und SS dominiert wurde. Mit diesem Machtmittel vollzogen die Nationalsozialisten unmittelbar nach der Reichstagswahl vom 5. März 1933, bei der sie in Sachsen 44,9 Prozent der Stimmen erhalten hatten, die Machteroberung vor Ort. Rathäuser wurden besetzt, missliebige Bürgermeister zum Rücktritt gedrängt und Tausende politische Gegner verhaftet. Diesem Parteiterror und den Übergriffen auf die staatliche Verwaltung stand die Regierung Schieck hilflos gegenüber, was Frick als Vorwand benutzte, um am 8. März den sächsischen SA-Führer Killinger als Polizeikommissar für den Freistaat Sachsen einzusetzen. Als zwei Tage später die Regierung Schieck zurücktrat, übernahm dann Killinger mit Ermächtigung Hitlers als Reichskommissar die Leitung der Landesregierung, die ihrerseits in den nachgeordneten Kreis- und Amtshauptmannschaften Kommissare als Aufsichts- und Kontrollorgane einsetzte.10

Im Zuge der Gleichschaltung der Länder mit dem Reich wurde Gauleiter Mutschmann am 5. Mai 1933 zum Reichsstatthalter ernannt, so dass die seit 1930 bestehenden Konflikte zwischen Mutschmann und Killinger zwangsläufig zu neuen Kompetenzkonflikten führen mussten. Als Ministerpräsident bemühte sich Killinger durchaus erfolgreich, die staatliche Autorität gegenüber der Partei zu stärken. Er wurde jedoch im Kontext des sogenannten „Röhm-Putsches“ 1934 verhaftet und von seinem Amt beurlaubt. Als Sieger in diesem Machtkampf ging Gauleiter Mutschmann hervor, der seit Februar 1935 in seiner Person das Amt des Reichsstatthalters und des Ministerpräsidenten vereinte und somit über eine im reichsweiten Vergleich beispiellose Machtfülle verfügte.

Clemens Vollnhals ist stellvertretender Direktor des Hannah Arendt Institutes in Dresden.

Anmerkungen:

1 Zur politischen Entwicklung vgl. Claus-Christian W. Szejnmann, Vom Traum zum Alptraum. Sachsen in der Weimarer Republik, Dresden 2000; Konstantin Hermann / Mike Schmeitzner / Swen Steinberg (Hg.), Der ge-spaltene Freistaat. Neue Perspektiven auf die sächsische Geschichte 1918 bis 1933, Leipzig 2019.

2 Vgl. die wesentlich ausführlichere Darstellung bei Clemens Vollnhals, Der gespaltene Freistaat: Der Aufstieg der NSDAP in Sachsen. In: Ders. (Hg.), Sachsen in der NS-Zeit, Leipzig 2002, S. 9-40; Clemens Vollnhals, Die völkische Bewegung und der Aufstieg der NSDAP in Sachsen. In: Hermann / Schmeitzner / Steinberg (Hg.), Der gespaltene Freistaat, S. 411-442.

3 Vgl. Matthias Piefel, Antisemitismus und völkische Bewegung im Königreich Sachsen 1879-1914, Göttingen 2004; Gerald Kolditz, Zur Entwicklung des Antisemitismus in Dresden während des Kaiserreiches, in: Dresdner Hefte 45/1996, S. 37-45. Vgl. allgemein James Retallack (Hg.), Sachsen in Deutschland. Politik, Kultur und Gesellschaft 1830–1918, Dresden 2000.

4 Hitler an Fritsch vom 28.11.1930. In: Hitler, Reden – Schriften – Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933. Hg. vom Institut für Zeitgeschichte, Bd. IV/1, München 1994, S. 133 f. Zu Fritsch vgl. Massimo Ferrari Zumbini, Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus: Von der Bismarckzeit zu Hitler, Frankfurt a. M. 2003, S. 321-422.

5 Vgl. Der Freiheitskampf vom 10. 9., 11. 9., 12. 9. und 13. 9. 1933.

6 Markante Worte aus den Reden des Gauleiters und Reichsstatthalters PG. Martin Mutschmann. Aus den Zeiten des Kampfes um die Macht bis zur Vollendung des Großdeutschen Reiches. Festschrift zum 60. Geburtstag, Dresden 1939, o. S. Zur Biografie vgl. Andreas Wagner, Mutschmann gegen von Killinger. Konfliktlinien zwischen Gauleiter und SA-Führer während des Aufstiegs der NSDAP und der „Machtergreifung“ im Freistaat Sachsen, Beucha 2001; Mike Schmeitzner, Der Fall Mutschmann. Sachsens Gauleiter vor Stalins Tribunal, Beucha 2011.

7 Die Alte Sozialdemokratische Partei (ASP) hatte sich 1926 nach heftigen innerparteilichen Auseinandersetzungen über die Frage der Regierungsbeteiligung von der SPD abgespalten.

8 Angaben nach Dirk Hänisch, A Social Profile of the Saxon NSDAP Voters. In: Claus-Christian W. Szejnmann, Nazism in Central Germany. The Brownshirts in „Red“ Saxony, New York 1999, S. 219–239, hier S. 224. Abdruck der Tabelle auch bei Vollnhals, Der gespaltene Freistaat, S. 37.

9 Ebd., S. 229. Zur Analyse der Wählerschaft auf Reichsebene vgl. Jürgen W. Falter, Hitlers Wähler, München 1991.

10 Vgl. Andreas Wagner, „Machtergreifung“ in Sachsen. NSDAP und staatliche Verwaltung 1930–1935, Köln 2004, S. 126-203. Mit Stichtag vom 13. 4. 1933 befanden sich 8.796 Personen in „Schutzhaft“. Vgl. Hans Brenner /Wolfgang Heidrich/ Klaus-Dietmar Müller / Dietmar Wendler (Hrsg.), NS-Terror und Verfolgung in Sachsen. Von den Frühen Konzentrationslagern bis zu den Todesmärschen, Dresden 2018, S. 255.