Überlegungen zu politisch motiviertem Kindesentzug in der DDR

Von Carolin Wiethoff[1]

Politische Repressionen gegen Eltern und Kinder in der DDR haben in den letzten Jahren vor allem mediale Aufmerksamkeit erfahren. Es liegt eine Vielzahl von Erfahrungsberichten, Fernsehdokumentationen und Zeitungsartikeln vor, in denen Betroffene davon berichten, dass ihnen aus politischen Gründen ihre Kinder oder auch ihre Eltern weggenommen wurden.[2] Dieses Vorgehen wird in der Öffentlichkeit unter dem Begriff der „Zwangsadoption“ gefasst. Dem Einsatz von Betroffenen ist es zu verdanken, dass das Thema auch politisch verhandelt wurde und die bislang noch unzureichende wissenschaftliche Aufarbeitung von Seiten der Bundesregierung finanziell gefördert wird.[3]

Der Begriff der „Zwangsadoption“ wurde in den 1970er Jahren von Seiten der westdeutschen Medien eingeführt, die öffentlich machten, dass Eltern, die nach „Republikflucht“ oder Häftlingsfreikauf in die Bundesrepublik gelangt waren, die Kinder aus politischen Gründen weggenommen und von angeblich linientreuen DDR-Bürgern adoptiert worden waren; später wurde der Begriff von der wissenschaftlichen Forschung übernommen.[4] Aufgrund der Begrenzung des Begriffs auf den Aspekt von Adoptionen und einer daraus folgenden Vernachlässigung anderer Dimensionen einer politisch motivierten Trennung von Eltern und Kindern ist in der Forschung jüngst der Begriff des politisch motivierten Kindesentzugs vorgeschlagen worden, der einen breiteren Zugang zur Erforschung politischer Repression gegenüber Eltern und Kindern in der DDR bietet.Denn was die Betroffenen mit dem Phänomen der Zwangsadoption verbinden und worunter sie leiden, ist das Gefühl, dass ihnen der Staat die Kinder weggenommen hat.[5] Dem muss man gerecht werden, wenn man die historische Wirklichkeit der Akteure ernst nehmen möchte. Mithilfe der Begriffserweiterung lassen sich auch Vorgänge untersuchen, die deutlich machen, wie das SED-Regime Eingriffe in Familien aus politischen Zwecken nutzte und diese auch trennte, wenn es deren Angehörige als Gegner des Systems einschätzte.

Unterschiedliche Dimensionen des politisch motivierten Kindesentzugs sind über den gesamten Zeitraum der DDR beschreibbar.[6]So liegen beispielsweise für die 1950er Jahre eine Vielzahl von Fällen vor, in denen Kindern von Eltern, die in die Bundesrepublik geflüchtet waren und die Kinder dort bei Verwandten gelassen hatten, die Übersiedlung der Kinder verweigert wurde. Kinder wurden aber nicht nur im Falle republikflüchtiger Eltern als Druckmittel zur Rückkehr genutzt – wie Vorgänge aus den 1950er Jahren eindrücklich zeigen – sondern auch Eltern in der DDR wurden mit der Einweisung ihrer Kinder ins Heim und dem Entzug des Erziehungsrechts bedroht, falls sie sich nicht entsprechend systemkonform verhielten. Diese Praxis traf beispielsweise Personen, die einen Ausreiseantrag gestellt und somit ihre fehlende Loyalität zum System bekundet hatten. Die Androhung oder die tatsächliche Trennung von Eltern und Kind im Sinne einer „Erziehung“ und Disziplinierung der Eltern zu einem „richtigen“ Leben und zu konformen Verhalten zeigt sich beispielsweise anhand von Kreisgerichtsakten zum Entzug des Erziehungsrechts, in denen Eltern mit der Einweisung ihrer Kinder ins Heim bedroht wurden, so zum Beispiel, wenn sie sich weigerten, einer Arbeit nachzugehen oder ihre Kinder in eine Krippe zu geben. Hier besteht noch erhebliches Forschungspotential.[7] Die unterschiedlichen Falldimensionen des politisch motivierten Kindesentzugs verdienen eine zusammenhängende Betrachtung. Für die Aufarbeitung ist es wichtig, herauszufinden, wie und in welchem Umfang die DDR die phasenhafte oder dauerhafte Trennung von Kindern und Eltern systematisch als politisches Repressionsmittel gegen entsprechende Familien eingesetzt hat.

Wie sehr sich staatliche Repressionen auf die zentral Leidtragenden – die Kinder – auswirkten, möchte ich im Folgenden an zwei Beispielen näher verdeutlichen. Dabei wird auch deutlich, wie sich Akteure der Jugendhilfei n den Dienst der SED-Diktatur stellten. Zum einen an einem Fall aus den 1950er Jahren: Ein neunjähriges Mädchen, das von ihren Eltern nach deren erfolgter Flucht zunächst bei der Großmutter in der DDR gelassen worden war, bat in einem Schreiben an den Staatspräsidenten, zu ihren Eltern übersiedeln zu dürfen. Es handelt sich hierbei um eines der sehr seltenen Zeugnisse von Kindern selbst, das in den Akten des Bundesarchivs überliefert ist. Das Mädchen schrieb, dass ihre Großmutter sie bezüglich der Rückkehr der Eltern immer wieder vertröstet hätte, aber an Weihnachten habe sie dem Mädchen mitgeteilt, dass die Eltern im Westen bleiben würden und sie dorthin reisen sollte. Nun traten jedoch Probleme auf, denn das Mädchen schilderte folgendes: „Da ist meine Oma zur Polizei und im Ratshof gewesen. Aber überall haben sie meine Oma ausgezankt und gesagt: ,das Kind kommt nicht fort.´ Meine Oma ist schon über 60 Jahre alt und ist viel krank. Sie sagt immer das Kind ist noch mein Ende. Dann zankt sie oft mit mir, weil ich so viel weine. Ich kann doch nichts dafür, daß ich soviel Sehnsucht nach meinen Eltern habe. Lieber Herr Präsident, lassen Sie mich doch bitte fort. Bitte, bitte. In den Ferienspielen war es so schön, aber ich habe immer an meine Eltern gedacht und da mußte ich weinen.“[8]Aufschlussreich ist nun die Antwort von staatlicher Seite. Darin wurde zunächst darauf hingewiesen, dass man dem Schreiben „wohl Verständnis“ entgegenbringe, die Schuld wurde jedoch den Eltern zugeschoben: „Wir bitten Dich aber, auch zu verstehen, daß Deine Eltern nicht gut an Dir gehandelt haben. Sie haben jederzeit die Möglichkeit, in das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik zurückzukehren, wenn sie einen entsprechenden Antrag an die örtlich zuständige Dienststelle ihres früheren Wohnsitzes stellen.“[9] Dass den Eltern dabei Repressionen drohten, erwähnte man nicht. Auf den Brief des Mädchens hin wolle man eine Aussprache mit der Großmutter vereinbaren. Gleichzeitig wurde darauf hingewiesen, dass das Mädchen sicherlich wisse, „in welcher vorbildlichen Weise unser Arbeiter und Bauernstaat für die schulische und berufliche Ausbildung unserer heranwachsenden Jugend sorgt.“[10] Das Mädchen wurde schließlich mit der Hilfe von Verwandten illegal in die Bundesrepublik gebracht.[11]

War in den 1950er Jahren zumindest noch die Möglichkeit für die Eltern gegeben, die Kinder auf illegalem Weg zu sich zuholen, war dies nach dem Mauerbau nur noch unter erheblichen Gefahren möglich.[12] Sofern Eltern dies trotzdem versuchten, konnte das MfS als Repressionsinstrument eingeschaltet werden, wie der folgende Fall aus den Akten des Stasi-Unterlagen Archivs zeigt.[13] In diesem wurde die Mutter, die sich in der Bundesrepublik befand, als politischer Gegner eingeschätzt und man befürchtete – nicht zu Unrecht – dass sie versuchen würde, das Kind zu sich zu holen. Anhand des Falls wird deutlich, wie sich die Jugendhilfe in den Dienst des MfS stellte. Hier trafen die Maßnahmen gegen den vermeintlichen Gegner – in diesem Fall die Mutter – das Kind, das sich in einem Kinderheim befand. Denn das Mädchen war dort den Maßnahmen des MfS – über die Jugendhilfe vermittelt – ausgesetzt. Zunächst betraf dies die Kontakte des Mädchens außerhalb des Heims. Hatte sie bis dahin noch Kontakt zu einer nahen Verwandten gehabt, die sie auch besuchen durfte, war dies nun nicht mehr möglich. Gründe hierfür wurden der Verwandten seitens der Jugendhilfe nicht mitgeteilt[14] – auch das Mädchen wurde im Unklaren gelassen. Das MfS hatte die Vertreter des Heims angewiesen, eine „geschickte Begründung“[15] zu finden, die erklärte, warum sie ihre Verwandte nicht mehr sehen durfte. Dabei wurde dem Kind selbst die Verantwortung für den Verlust aufgelastet, denn die Jugendhilfe sollte den Kontaktabbruch mit dem Verhalten des Mädchens begründen, z.B. „Leistungsabfall in der Schule seit dem Besuch Ostern, verschlossenes, in sich gekehrtes Verhalten von (…) nach ihrer Rückkehr ins Heim usw.“.[16] Die Maßnahmen des MfS zur Bekämpfung politischer Gegner sollten sich also direkt auf das Handeln der Erzieher erstrecken. Die Vertreter der Jugendhilfe sollten nicht nur als Informanten, sondern auch als ausführender Arm der Staatssicherheit aktiv werden. Neue Bezugspersonen für das Mädchen mussten gefunden werden. So fasste das MfS eine Kontaktaufnahme der Jugendhilfe zum Kindsvater ins Auge, mit dem Ziel, herauszufinden, ob er „einen guten Kontakt zum Kind“[17] herstellen könne, den man dann offenbar nutzen wollte. Das Referat Jugendhilfe sollte zudem prüfen, ob man nicht in den Sommerferien einen Auslandsaufenthalt für das Mädchen organisieren könne, um es in eine andere Umgebung zu bringen.[18]Was diese Aktivitäten für ein Kind bzw. eine Jugendliche bedeuteten – plötzlicher Kontakt zum Vater, Aufenthalt in der Fremde, Zerstörung alter und Aufbau neuer Bindungen, war für die Vertreter des MfS völlig irrelevant. Es ging nur darum, das Mädchen dem Gegner, ihrer Mutter, zu entziehen, auf welche Weise auch immer. Um das Mädchen bildete sich gewissermaßen ein Netzwerk, das sie auf unterschiedliche Weise zu manipulieren versuchte. Diese Netzwerke – die sich auch in anderen Fällen beschreiben lassen und neben Vertretern der Jugendhilfe beispielsweise aus dem Personal in Kinderkrippen, Kinderheimen und Schulen oder auch Pionierorganisationen oder FDJ bestehen konnten – müssen weiter erforscht werden, denn sie waren ein wesentliches Fundament für das Funktionieren der SED-Diktatur.

 


[1] Dr. Carolin Wiethoff ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Erfurt

[2] Jüngst wurde beispielsweise unter dem Titel „Entrissen“ eine vierteilige Dokumentation zum Thema bei RTL ausgestrahlt.

[3] Das Bundesministerium des Innern und für Heimat fördert aktuell ein Forschungsprojekt des Deutschen Instituts für Heimerziehungsforschung gGmbH/An-Institut zu Zwangsadoptionen in der DDR: dih-berlin.de/zwangsadoption-in-der-ddr/.

[4] Vgl. Kannenberg, Elke (1993): Bericht der Senatsverwaltung für Jugend und Familie über Zwangsadoptionen in der ehemaligen DDR. Berlin: Abschlussbericht der Clearingstelle; Warnecke, Marie-Luise (2009): Zwangsadoptionen in der DDR. Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag GmbH.

[5] Vgl. Rosenberg, Florian von/Neuner, Chris/Weberling, Johannes (2023): „Gestohlene Kinder“ in der DDR. Ein Forschungsdesiderat. in: Neue Justiz, Beilage 1/2023, S. B48-B52.

[6] Vgl. zum folgenden die Zusammenfassung bei Rosenberg, Florian von/Wiethoff, Carolin/Neuner, Chris/Nicholson, Stefan (2025): Forschungsbericht zu Zwangsadoptionen und politisch motiviertem Kindesentzug in der DDR. In: Weberling, Johannes/Booß, Christian (Hrsg.): Rechtsfolgen der politischen Verfolgung im wiedervereinigten Deutschland. Schlussbericht des Teilprojekts Recht im Forschungsverbund „Landschaften der Verfolgung“. Baden-Baden: Nomos. [im Erscheinen]. Zu den Vorgängen in den 1950er Jahren vgl. Schillert, Judith/Wiethoff, Carolin/Rosenberg, Florian von (2025): Verlassene Kinder? Neue Befunde zu politisch motiviertem Kindesentzug in der DDR der 1950er-Jahre [unveröffentlichtes Manuskript]. Vgl. zudem: Judith Schillert (2023): Politisch motivierter Kindesentzug in der DDR. Untersuchungen zum Zeitraum der 1950er Jahre. Unveröffentl. Masterarbeit, Universität Erfurt.

[7] In Kooperation zwischen der Universität Erfurt (Prof. Florian von Rosenberg) und der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) (Prof. Dr. Johannes Weberling) erforscht Judith Schillert derzeit im Rahmen ihres von der KAS geförderten Promotionsprojekts politisch motivierten Kindesentzug in der DDR.

[8] Bundesarchiv (BArch), B 137/1804, unpag. Abschrift, o.D. Die Brief und die Antwort wurden vom Bundeskanzleramt als Abschrift an den Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen übersandt, vgl. BArch, B 137/1804, unpag. Bundeskanzleramt, Kanzlerbüro an Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, 2.4.1959.

[9] BArch, B 137/1804, unpag. Abschrift, Brief an Schülerin (…), o.D.

[10] Ebenda.

[11] BArch, B 137/1804, unpag. Rechtsanwalt Musiolik an den Minister für Gesamtdeutsche Fragen, Zurückhaltung eines Kindes in der SBZ, 8.7.1960.

[12] Vgl. hierzu beispielsweise die in der Forschung bislang näher untersuchten Vorgänge von Zwangsadoptionenbei Warnecke 2009.

[13] BArch, MfS, ZKG 19453.

[14] Ebd., Bl. 41.

[15] Ebd., Bl. 40.

[16]Ebenda.

[17] Ebenda.

[18] Ebenda.